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Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

171–173

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bendemann, Reinhard von

Titel/Untertitel:

Zwischen DOXA und STAUROS. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. XVI, 512 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 101. Geb. ¬ 128,00. ISBN 3-11-016732-8.

Rezensent:

Eckart Reinmuth

Diese leicht gekürzte und überarbeitete Habilitationsschrift (Bonn 1999) ist dem sog. Reisebericht im Lukasevangelium gewidmet. Es gelingt dem Vf. der überzeugende Nachweis, dass eine solche Texteinheit (sie wird gemeinhin in Lk 9,51-18,14 gesehen) innerhalb des lukanischen Makrotextes nicht aufweisbar ist, dass es sich vielmehr um ein letztlich methodisch determiniertes Konstrukt handelt. Sein Ursprung liegt bei Schleiermachers Beschäftigung mit Lukas ("Über die Schriften des Lukas, ein kritischer Versuch, Erster Theil", Berlin 1817). Blieb bis heute strittig, wo das Ende des lukanischen ,Reiseberichts' anzusetzen war, so herrschte doch im Blick auf seinen Beginn mit 9,51 Einmütigkeit, weil hierin ein markantes, auch theologisch gefülltes Gliederungssignal erkannt wurde.

Der Vf. destruiert freilich nicht nur die verbreitete Hypothese eines lukanischen ,Reiseberichts' (bzw. einer 'central section'), er unterzieht vielmehr Lk 8,1-21,38 einer eingehenden Textanalyse (s.u.). Dabei wird im einzelnen eine Vielzahl von Ergebnissen, insbesondere zur "narrativen Logik" und "leserpragmatischen Orientierung" (passim) des dritten Evangeliums erzielt; der Vf. legt den Versuch "einer literarischen Neustrukturierung des lukanischen Entwurfes" (386) vor.

Nicht unhinterfragt wird in diesem Zusammenhang die These bleiben, dass Lk 9,51a rückblickend auf die Verklärung (9,28-36) und nicht auf das Ende Jesu und seinen Weg zum Vater bezogen werden soll. Dieser Vers ist nach Meinung des Vf.s "nicht kataphorisch, sondern anaphorisch" zu verstehen. Nicht eine ,Reise' zur ,Entrückung' bzw. zu ,Leiden und Tod' wird hier initiiert. Vielmehr wird markiert, dass der folgende Erzählzusammenhang auf Lk 9,28 ff. rückbezüglich ist: "In ihm erfüllt sich das, was als doxa der basileia auf dem Berg der Verklärung für die Leser sichtbar geworden ist." (138, vgl. ab 131 sowie 80-90). Trotz einiger zutreffender Beobachtungen wird m. E. nicht hinreichend deutlich, wieso Lukas für die von ihm erzählte Verklärung den Begriff analempsis verwendet haben sollte. Der Hinweis auf 4Reg 2,9-11 (137) weist in eine andere Richtung.

Im Blick auf die mit dem Begriff ,Reisebericht' verbundene methodische Problematik ist hervorzuheben, dass der Vf. diachrone (d. h. überwiegend literarkritische, Teil III) und synchrone (Teile IV-VI) Analysemethoden zur Anwendung bringt (s. dazu u.). Dabei weitet er den zu untersuchenden Text im Rahmen des Makrotextes auf 8,1-21,38 aus, bezieht also die unmittelbaren Kontexte des fraglichen Abschnitts in die Untersuchung ein. Die ,Erzählbögen' 8,1-10,42 sowie 18,31-21,38 werden als rahmende Gelenkteile für den dann eingehend analysierten Mittelteil 11,1-18,30 interpretiert.

In diachroner Perspektive kann der Vf. deutlich machen, dass und wie die lukanische Redaktionsarbeit von Mk-, Q- und Sondergutmaterialien Gebrauch macht - Lk 8,1-21,38 besitzt in dieser Hinsicht einen "insgesamt synthetischen Charakter" (58) und unterscheidet sich damit nicht grundsätzlich vom übrigen Kontext. Damit ist - auf der Basis minutiöser und solider exegetischer ,Klein'-Arbeit - erwiesen, dass dem ,Reisebericht' im Blick auf die Quellenverarbeitung kein Sonderstatus zukommt. Ob das hier gezeigte Zutrauen des Vf.s zur redaktionskritischen Methode allgemeine Zustimmung findet, darf dahingestellt bleiben. Die vorsichtigen Einschränkungen vor den beiden Appendices (412; Appendix A: "Inventar redaktioneller Anteile in Lk 8,1-21,38 [413-439]; B: "Inventar des ,Sondergutes' innerhalb von Lk 8,1-21,38" [440-450]) sollten nicht übersehen werden.

Auch die synchronen Analysegänge, die hier nicht im Einzelnen referiert werden können, führen zu dem überzeugenden Ergebnis, dass mit dem ,Reisebericht' keine von seinem Kontext unterscheidbare literarische Größe vorliegt. Die Teile V (,Lk 8-21 im Horizont der narrativen Logik des dritten Evangeliums als Teil des lukanischen Doppelwerkes', 113-207) und VI (,Jüngerinstruktion, Umkehrforderung und Gerichtsansage zwischen DOXA und STAUROS, 208-353) sind der Aufgabe gewidmet, nun Bedeutung, Funktion und Gehalt des Abschnitts Lk 8-21 darzustellen. Insbesondere im sechsten, auch im Blick auf seinen Umfang gewichtigsten Teil der Arbeit zeigt sich, dass ihr Schwerpunkt keineswegs lediglich auf der Destruktion des forschungsgeschichtlichen Modells ,Reisebericht', sondern auf einer neuen und eingehenden Analyse und Interpretation des entsprechenden Textzusammenhangs Lk 11,1-18,30 liegt.

Der siebente Teil der Arbeit verdankt sich der Frage, welches spätantike genus dem narrativen Charakter des dritten Evangeliums vergleichbar ist. Dieser Teil besticht v. a. durch einen formgeschichtlichen Vergleich mit der - freilich jüngeren und schwer datierbaren - Vita Aesopi, der in dieser Gründlichkeit bisher nicht geleistet wurde (354-381). Die Literaturverarbeitung ist korrekt und sachgemäß (sowie - z. B. im Blick auf Narratologie oder Vita Aesopi - selbstverständlich transdisziplinär); das Literaturverzeichnis (451-503) nennt indessen weit mehr Titel, als in der Arbeit Verwendung fanden. Demgegenüber ist die Auswahl der indizierten Stellen (504-512) allzu knapp ausgefallen; man vermisst v. a. eine breitere, über das Deuteronomium hinausgehende Berücksichtigung der verwendeten alttestamentlichen Textstellen.

Der zu würdigende Forschungsbeitrag ist auch in methodischer Hinsicht herauszustellen: Es gelingt dem Vf. vorbildlich, redaktions-, quellen- und kompositionskritische Verfahren mit rezeptionsästhetischen und narratologischen Methoden zu verbinden. Da letztere im Blick auf das lukanische Doppelwerk keineswegs schon zum selbstverständlich angewendeten Methodeninventar gehören (der Vf. spricht zu Recht von einer "offenen Forschungssituation", der eine "konsensfähige Methodenlehre" fehle [114]), wurde mit dieser Arbeit zugleich eine konstruktive und sachbezogene Rezeption entsprechender (v. a. angelsächsischer) Forschungsansätze geleistet und in der konkreten, akribisch und detailreich durchgeführten Textarbeit zur Anwendung gebracht. Es entstand eine außerordentlich material- und detailreiche Studie zum lukanischen ,Reisebericht', die neben der kritischen Infragestellung einer diesbezüglich weitgehenden communis opinio beachtenswerte Ansätze einer Neuinterpretation des lukanischen Textes enthält.