Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Februar/2002

Spalte:

155–158

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Degen, Roland

Titel/Untertitel:

im leben glauben lernen. Beiträge zur Gemeinde- und Religionspädagogik. Hrsg. von M. Steinhäuser mit Beiträgen von J. Henkys u. F. Schweitzer.

Verlag:

Münster-New York-München-Berlin: Waxmann 2000. 381 S. m. 5 Abb. gr.8. Kart. ¬ 25,50. ISBN 3-89325-922-8.

Rezensent:

Karl Foitzik

Aufsatzbände haben ihre je eigene Geschichte. Dieser verdient Beachtung und Anerkennung. Es ist zu begrüßen, dass das Comenius-Institut aus Anlass des 65. Geburtstags von Roland Degen 29 Aufsätze des Jubilars in einer gewichtigen Publikation neu vorlegte und sein Werk einleitend durch Jürgen Henkys aus ostdeutscher (19-30) und durch Friedrich Schweitzer aus westdeutscher Perspektive (31-48) würdigen ließ. Das von Martin Steinhäuser erstellte Schriftenverzeichnis des Jubilars (367-381) rundet den Band ab.

D. zählt zu den wichtigsten Religions- und Gemeindepädagogen der ostdeutschen Landeskirchen. Nach einer Berufsausbildung im graphischen Gewerbe studierte er auf dem zweiten Bildungsweg Theologie. Nach Vikariat und kurzer Zeit in der Gemeinde war er Studieninspektor am Predigerseminar Lückendorf. Prägend für seine weitere Entwicklung wurde die Mitarbeit in der von Siegfried Schmutzler gegründeten Theologisch-Pädagogischen Arbeitsgemeinschaft. 15 Jahre als Landeskatechet bei der Kirchenleitung in Dresden und die Mitarbeit in zahlreichen Fachgremien des Kirchenbundes waren die logische Konsequenz. 1987 wechselte er nach Berlin und wurde als Referent für Gemeindepädagogik Mitglied der Theologischen Studienabteilung beim Kirchenbund. Nach der Wende und der Auflösung der Studienabteilung wurde D. 1991 Leiter der Berliner Arbeitsstelle des Comenius-Instituts. Diese fiel 1998 Sparmaßnahmen zum Opfer. D. trat vorzeitig in den Ruhestand. Zum 65. Geburtstag verlieh ihm die Theologische Fakultät der Universität Leipzig die Würde eines Ehrendoktors der Theologie und das Comenius-Institut ehrte ihn mit dem hier angezeigten Band.

Aufmerksamkeit verdient dieser Sammelband aus mehreren Gründen: 1. Die älteren Aufsätze wurden unter den schwierigen Bedingungen der DDR-Zeit publiziert und waren nur begrenzt zugänglich. Sie dokumentieren eindrucksvoll die Entwicklung und Entfaltung pädagogischen Denkens und Handelns in den Kirchen der DDR. 2. Umfassend und intensiv hat sich D. nach der "Wende" zu den anstehenden religions- und gemeindepädagogischen Problemen geäußert. Ein Drittel der publizierten Aufsätze stammt aus den Jahren 1990-1992. 3. D. erschließt mit wacher Wahrnehmung nicht nur die Vergangenheit, sondern leitet aus der Analyse von Geschichte und Situation wegweisende Impulse für eine umfassende Bildungsverantwortung von Kirche und Gemeinde ab.

1. Die pädagogische Dimension der Kirche in sozialistischer Umgebung: Die wenigen zur DDR-Zeit entstandenen Beiträge vermitteln einen guten Einblick in die Auseinandersetzungen jener Zeit. D. warnt davor, dass die Kirchen dem Marginalisierungs- und Entöffentlichungsdruck des Staates nachgeben oder sich indirekt vereinnahmen lassen. Er fordert sie auf, auch im pädagogischen Handeln das Profil zu schärfen. Die biblische Botschaft wird "zu schnell individualisiert und privatisiert" und die "gesellschaftlichen Implikationen" der "Grundtexte" werden oft zu wenig konkretisiert (136). Ökumenische Impulse wie die durch Ernst Lange vermittelten Anstöße Paolo Freires setzt D. zeitnah in die Situation der DDR-Kirchen um. Erstaunlich früh greift er dabei Themen auf, die bis heute die religions- und gemeindepädagogische Diskussion bestimmen. Schon in einer seiner ersten Veröffentlichungen plädiert er 1971 für biographisches und situatives Lernen: "Wo man primär am Stoff ... interessiert ist, nicht aber an Biographie, Situation und Erwartung des Menschen, dem dieser Stoff gilt, wird man die Sache des christlichen Glaubens nicht wirklich zur Sache seines Lebens machen". Es komme vielmehr "lediglich zur Übernahme theologischer Richtigkeiten" (49). In den biblischen Erzählungen begegne komplexes, von Gott her gedeutetes Leben, das "mit heutigem Leben verglichen und in es übersetzt" werden will (118). Der Bildungsauftrag der Kirche ziele nicht darauf, Menschen für etwas zu gewinnen, sondern "mit ihnen in Kommunikation mit dem biblischen Evangelium ihr Leben verstehbar und bestehbar zu machen" (266) oder kurz gesagt: das Leben zu lernen (139). 1972 tritt D. in seinem Aufsatz "Zur Didaktik des thematisch-problemorientierten Unterrichts" betont für ein subjektorientiertes Lernen ein. Auch Kinder dürften nicht länger Objekte, sie müssten Subjekte der Lernprozesse sein (131). Der seit der EKD-Synode 1994 geforderte "Perspektivenwechsel" in der Arbeit mit Kindern, wird von D. schon 1978 beschrieben: ",Mit den Augen unserer Kinder sehen' - das wäre ein Thema für unsere Gemeinden ... Wir erhielten dadurch eine neue Sicht; Veränderung fängt mit Einsichten an" (102).

2. Pädagogische Anmerkungen zur "Wende": Mehr als zwei Drittel der Publikationen D.s stammen aus den letzten 10 Jahren, davon etwa die Hälfte aus den Jahren unmittelbar nach der Wende. Mit Nachdruck wehrte sich D. dagegen, dass mit der DDR auch die gemeindlichen und kirchlichen Erkenntnisse und Erfahrungen "abgewickelt" werden. Für die rasche "Verbundesrepublikanisierung" in "Neufünfland" macht er dabei keineswegs nur die "Entwertung und Fremddefinition" durch den Westen verantwortlich (358). Er warnt genauso die Menschen im Osten: "Kein Wohin ohne ein Woher. Jede Zukunft hat ihre Herkunft." Es wird gefährlich, wenn die eigene Herkunft als unbrauchbar erscheint. (238) "Unsere jeweiligen Vergangenheiten kleben an unseren Schuhen. Deshalb sind auch jene Befreiungsversuche untauglich, die sich in den ostdeutschen Ländern gegenwärtig als Bildersturm zeigen, bei dem nicht nur die DDR-Hausheiligen zum Verschwinden gebracht, sondern auch Karl-Marx-Statuen und Rosa-Luxemburg-Straßen weichen müssen" (248).

3. Gemeindepädagogik als Entdeckung des Pädagogischen in einer Kirche für andere: Mit seinem Leitziel "Verstehen und bestehen" erschließt D. die verschiedenen pädagogischen Handlungsfelder in Kirche und Gemeinde. Auf drei Aspekte sei besonders hingewiesen.

3.1 In der Frage Religionsunterricht und/oder Christenlehre bezieht D. eindeutig Position: Beide sind nötig. Der Religionsunterricht nimmt einen wichtigen Auftrag im Rahmen der Bildungsverantwortung der Kirche wahr. Es muss aber vermieden werden, dass er "lediglich die selektiert, die sich ohnehin zu den konfessionell vorfindlichen Christentraditionen bekennen". Die christlichen Überlieferungsinhalte sollten vielmehr "auch dort eingebracht werden, wo junge Menschen sich quer zur schulischen Verfächerung um Sinnorientierung für ihr Leben mühen" (364). Die Gemeinde darf aber ihre pädagogischen Aufgaben nicht an die Schule delegieren, sofern sie bei ihrer Sache bleiben will (224).

3.2 Die Auswahl der Aufsätze bestätigt, dass D.s Hauptinteresse der Gemeindepädagogik gilt. Auch wenn er mit vielen Beiträgen sektoral auf die unterschiedlichen Handlungsfelder der Gemeindepädagogik eingeht, versteht er Gemeindepädagogik von Anfang an dimensional. Er begrenzt sie auch nicht auf die Parochie. Das pädagogische Handeln der Kirche darf nicht innerkirchlich domestiziert werden. Es ist für D. im Rahmen der kirchlichen Bildungsverantwortung stets auf die Gesellschaft bezogen. "Die Bildungsaufgabe der Kirche zeigt sich in öffentlicher Mitverantwortung als ,Freiheit zum Dienst' in der Gesellschaft und als Raum- und Sprachangebot, als Vergewisserung, Befreiung und Erneuerung in lebensweltlichen Zusammenhängen. Damit Letzteres nicht lediglich als allgemeine sozialpädagogische Aufgabe verstanden wird, ist nach den spezifischen Inhalten und Überlieferungen zu fragen, die derartigen Lebensperspektiven Profil und Fundament geben können - worin die christlichen Gemeinden unvertretbar und unverwechselbar sind" (362). Es geht nicht um "unhinterfragt normative Ansprüche", die weiterzugeben sind, und nicht um "Eingemeindung". "Vielmehr geht es um die Befähigung des Individuums zur ... Begegnung mit Überlieferungsinhalten, die - auch in ihrer Sperrigkeit - eigenem Leben Sinn zu geben vermögen. Derartige Erfahrungen sind an Orte, Personen und Kommunikationen gebunden, die als ,Gemeinde' beschrieben werden können" (362).

3.3 Informelle Lernprozesse sind dabei oft wichtiger als geplante. Immer wieder weist D. darauf hin, dass auch Räume, Gebäude und Strukturen predigen. Im Rahmen der Gemeindepädagogik zählt "Kirchenpädagogik" deshalb zu seinen besonderen Anliegen. Kirchenräume sind "als Gedächtnis der Christenheit" (311 ff.) immer "auch Sinnräume und Bedeutungsträger. Weil besonders die alte Formensprache der Steine, Schnitzwerke und Farben weitgehend zur Fremdsprache geworden ist, bedürfen diese Gebäude als ,Gedächtnisse der Christenheit' der Erschließung, um das aus sich zu entlassen, was sich an ihnen an Lebens- und Gotteserfahrung verdichtet hat" (365).

Roland Degens pädagogische Fähigkeit ist geprägt von seiner Beobachtungsgabe. An interpretierten Augenblicken entfaltet er kenntnisreich große Zusammenhänge. Mit seiner narrativen und bilderreichen Sprache und mit einem feinsinnigen, manchmal auch sarkastischen Humor kann er einem breiten Publikum das, was ihm wichtig ist, überzeugend und verständlich vermitteln.