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Ausgabe:

Januar/2002

Spalte:

104–107

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von G. Ueding, mitbegr. von W. Jens.

Verlag:

Bd. 1: A-Bib. VIII, 1592 Sp. ISBN 3-484-68101-2; Bd. 2: Bie-Eul. VI, 1590 Sp. ISBN 3-484-68102-0; Bd. 3: V, 1610 Sp. ISBN 3-484-68103-9; Bd.4: Hu-K. V, 1578 Sp. ISBN 3-484-68104-7; Bd. 5: L-Musi. VI, 1618 Sp. ISBN 3-484-68105-5. Tübingen: Niemeyer 1992/94/96/98/2001 4. Lw. je ¬ 124,00.

Rezensent:

Wilfried Engemann

Dem Herausgeber sowie den Redakteuren und Mitarbeitern des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik ist ein großartiger Wurf gelungen: Sie haben in mittlerweile fünf Bänden (von A wie Abnuentia bis M wie Musikalische Figurenlehre) nicht nur das Begriffsrepertoire der Rhetorik definiert, diskutiert und historisch erschlossen. Sowohl von seiner Konzeption her als auch im Blick auf die tatsächliche inhaltliche Struktur der einzelnen Artikel stellt das vorgelegte Nachschlagewerk eine Art Wörterbuch der europäischen Geistes-, Bildungs- und Kulturgeschichte dar.

Dies ist nicht nur auf die faktische Funktion und das Selbstverständnis der Rhetorik im Bildungssystem vergangener Epochen zurückzuführen, sondern mehr noch auf die Umsicht des Editors und der Redaktion: Bei der Erarbeitung dieses Wörterbuchs hat man von vornherein neben den Kategorien und Begriffen der Rhetorik auch deren zahlreiche interdisziplinäre Verflechtungen von der Antike bis zur Gegenwart berücksichtigt. Der Begriff des Historischen im Titel des Werkes ist also sehr weit zu fassen. Er schließt die internationale Forschung ebenso ein wie die moderne Rezeption und Fortentwicklung klassischer rhetorischer Reflexionsperspektiven; der Recherche der Quellen gilt dieselbe Aufmerksamkeit wie der Plausibilisierung neuer Fragestellungen und Methoden - und das auf allen Gebieten, die von der Rhetorik berührt werden bzw. umgekehrt, auf denen u. a. mit rhetorischen Argumenten operiert wird.

Letzteres betrifft z. B. die Kommunikations- und die Literaturwissenschaft, die Sozial- und die Kulturwissenschaften, ebenso Theologie, Philosophie, Musik- und Medienwissenschaft u. a. m. Wer auf diesen Feldern forscht oder sich auch nur informieren will, kommt um dieses Wörterbuch nicht mehr herum. Bevor ich auf die Struktur der Artikel und, in gebotener Kürze, auf den Inhalt einzelner Beiträge eingehe, mag eine kleine Auswahl aus dem umfangreichen Artikelverzeichnis das angesprochene Spektrum dieses Wörterbuchs verdeutlichen.

Zunächst bleibt das Werk natürlich den im engeren Sinne rhetorisch Interessierten nichts schuldig: Artikel wie Admiratio und Affirmatio, Captatio benevolentiae und Deklamation, Ironie und Kanzleistil finden sich unter Kurialstil, Laudatio und Metrik. Nicht jeder aber würde in einem Historischen Wörterbuch der Rhetorik prägnante Ausführungen zu allgemeinen geistes-, kultur- und kunstgeschichtlichen Entwicklungen vermuten, wobei bildungsgeschichtliche Aspekte und Hinweise zur Funktion der Rede verständlicherweise eine besondere Rolle spielen. Hierfür stehen z. B. Artikel wie Allgemeinbildung, Antike, Aufklärung, Biedermeier, Expressionismus, Humanismus, Jugendstil, Kleidung, Kitsch, Kultur, Kunst, Kunstgeschichte, Malerei, Gründerzeit. Hinzu kommen Beiträge literatur- und kommunikationswissenschaftlicher Akzentuierung, die historische Fragen mit neuesten Impulsen aus der Sprachwissenschaft, aus Rezeptionsästhetik, Semiotik usw. verbinden: Adressat/ Adressant, Ambiguität, Autor, Bedeutung, Biographie, Brief, Code, Dekonstruktion, Feedback, Gestik, Ideologie, Intention, Information, Interpretation, Kommunikationstheorie, Kritik. Last but not least seien einige unmittelbar theologisch relevante Artikel aufgeführt: Bibelrhetorik, Exegese, Gebet, christliche Rhetorik, Doktrina, Eucharistia, Homiletik, Katechese/Katechismus, Kerygma, Kontroverstheologie, Lectio, Liturgik, Lo-gos, Luthersprache usw.

Dieses bildungsgeschichtlich universale Spektrum rhetorisch relevanter Begriffe bzw. Artikel macht bereits deutlich, was zu den Aufgaben dieses Wörterbuchs gehört: Es erschließt die Allgegenwart rhetorischer Fragestellungen in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen; dies jedoch nicht zum Selbstzweck, sondern es systematisiert, beschreibt und bearbeitet gleichzeitig entsprechende, in Theologie, Literaturwissenschaft, Kommunikationswissenschaft usw. diskutierte Probleme aus rhetorischer Sicht. Daher werden nicht nur Wissenschaftler, die sich unmittelbar mit rhetorischen Fragen befassen, sondern Vertreter aller Disziplinen, in denen rhetorische Traditionen wirksam geworden sind, von diesem Nachschlagewerk profitieren. Man wird von diesem Wörterbuch nicht zu viel erwarten, wenn man in ihm nicht nur Forschungsergebnisse gesammelt und systematisch aufbereitet finden will, sondern ihm auch eine forschungsinitiierende Wirkung unterstellt.

Diesem hohen Anspruch trägt die Konzeption der einzelnen Artikel bzw. Artikeltypen Rechnung. Das Wörterbuch bietet entsprechend dem unterschiedlichen Bedeutungsumfang und historischen Gewicht der ausgewählten Begriffe: 1. Kurze Definitionsartikel über Begriffe, die "eine konstante Bedeutung bewahrt haben oder in zeitlich eng fixierten Grenzen auftraten" (aus dem Vorwort des Herausgebers G. Ueding, Bd. I, S. VII. Das gilt z. B. für Artikel wie Dilemma, Dinumeratio, Kapuzinade, Kerygma, Logenrede). Immerhin haben auch diese Artikel eine Länge von einer halben bis drei Spalten. 2. Ferner gibt es umfangreichere Sachartikel zu Begriffen, denen auf Grund ihrer geschichtlichen Entwicklung und systematischen Differenzierung in der Sprache der Rhetorik und der an sie angrenzenden Gebiete ein erhöhter Stellenwert zukommt (z. B. Antithese, Dialog, Drama, Kanon, Katechese/Katechismus).

3. Schließlich bietet das Wörterbuch auch regelrechte Forschungsartikel, die enzyklopädisch angelegt sind und sich zentralen Theorie- und Epochenproblemen der Rhetorik sowie Kategorien widmen, "welche aufgrund ihrer Bedeutung, Aktualität oder multidisziplinären Bestimmung eine herausragende Begriffsgeschichte vorweisen" (G. Ueding, a. a. O., VII; vgl. dazu Artikel wie Argumentation, Allegorie/Allegorese, Barock, Dichtung, Ethos, Geschichtsschreibung, Imitatio, Logik, Klassizismus/Klassik, Metapher, Pathos).

Trotz der unterschiedlichen Konzeption und Länge der einzelnen Artikel (die übrigens gelegentliche Überschneidungen nicht ganz ausschließt, sondern sie im Interesse der Lesbarkeit der Beiträge und um der schnellen Information willen im begrenzten Rahmen vorsieht) hat man dennoch versucht, ihnen eine gemeinsame Struktur zu geben: 1. Definitorische Beschreibung, 2. Veränderungen und Neuentwicklungen des betreffenden Fachbegriffs bzw. der rhetorischen Textform in einzelnen Epochen. 3. Belege und Beispiele werden in Form von Anmerkungen geboten.

Wie ertragreich das Vorhaben ist, auch Neuentwicklungen zur Sprache zu bringen und das historische Erbe nicht nur an seinen Quellen zu ventilieren, zeigen u. a. die instruktiven Artikel zur Film- und Fernsehrhetorik, zur Handlungstheorie, zum Hörspiel oder zur Moderne. Dabei wirken selbst die Artikel der Kategorie 2 und 3 nie geschwätzig, was gewiss sowohl auf die geduldige Strenge der Redakteure als auch auf erstklassige Autoren zurückzuführen ist (vgl. z. B. die Artikel Antike von Manfred Fuhrmann und Beredsamkeit von Franz-Hubert Robling).

Die theologischen Artikel stünden von ihrem Gehalt her jedem theologischen Wörterbuch gut an. Dennoch erhalten sie durch ihren Platz in einem Handbuch der Rhetorik eine besondere Note. Offensichtlich bedarf es manchmal erst der Aufforderung, theologische Begriffe kontextuell (d. h. hier: unter Berücksichtigung anderer rhetorisch argumentierender Fachgebiete) zu entfalten, bevor das wirklich geschieht. Von Gert Ottos Beiträgen zur Bedeutung der Rhetorik für die Bearbeitung praktisch-theologischer Fragen (vgl. auch seinen Artikel Christliche Rhetorik; Antike/NT bis Mittelalter) ist man ein solches Herangehen gewohnt; dass aber auch über das Gebet und über Gleichnis/Gleichnisrede, über Kerygma, Liturgie, Bibel (rhetorik) usw. mehr gesagt werden kann, als interntheologische Erörterungen zu berücksichtigen pflegen, wird in den entsprechenden Artikeln von Dirk Evers, Bernd Heiniger, Albert Biesinger, Benedikt Kranemann, Klemens Richter, Harald Schweizer und v. a. auf z. T. überraschende Weise deutlich gemacht. Christian Grethlein weist den Zusammenhang zwischen rhetorischen und liturgiedidaktischen bzw. gottesdiensthermeneutischen Fragen auf (Artikel Liturgie II), Birgit Stolt erhellt die Impulse Luthers für die Gottesdienstreform in rhetorischer Perspektive (Artikel Luthersprache), Franz-Hubert Robling entfaltet den Ethos-Begriff (Artikel Ethos IV-V) in auch theologisch spannenden Entwicklungsbögen, z. B. unter Berücksichtigung des Sola Fide-Prinzips Luthers und dessen Rednerethos sowie im Blick auf anthropologische Fragestellungen im Humanismus und Barock.

Der Artikel Homiletik von Hans-Martin Müller ist leider nur bis etwa 1945 gut recherchiert. Den dafür beanspruchten 10 Spalten stehen ca. 10 Zeilen für die aktuellen rhetorischen Fortentwicklungen in der Homiletik gegenüber, was angesichts des enormen Interesses an den damit verbundenen Fragen und der faktischen Leistung entsprechender Ansätze unangemessen ist. Dass H.-M. Müller ausgerechnet im Historischen Wörterbuch der Rhetorik meint, resümieren zu müssen, dass diese neuen Impulse (genannt werden G. Otto, M. Josuttis, W. Dahm, H. D. Bastian) bzw. "die Rhetorik und die neu entstandenen Kommunikationswissenschaften ... wegen des hohen Abstraktionsgrades ... bisher wenig fruchtbar gewesen" seien (Artikel Homiletik, Bd. 3, 1506), erstaunt angesichts der umfangreichen Literaturliste, die man hierzu anlegen könnte. Dass H.-M. Müller "diese Versuche" (ebd.) als abstrakt erscheinen, hat ihrer Rezeption jedenfalls nicht geschadet; er hat offensichtlich übersehen, dass z. B. die Anregungen der Sprechakttheorie (u. a. von K.-F. Daiber und H. W. Dannowski), die Rezeption lernpsychologischer Aspekte (u. a. bei P. Düsterfeld und P. Bukowski) sowie die Einzeichnung narratologischer (z. B. bei J. B. Metz) und dialogischer Aspekte in die homiletische Debatte der Gegenwart mit der Neuverhandlung genuin rhetorischer Problemstellungen zu tun haben. Dass dieses reiche homiletische Repertoire rhetorischer Argumentation in diesem Artikel überhaupt keine Berücksichtigung findet, entspricht leider nicht der oben erörterten Ausrichtung und dem Anspruch dieses Wörterbuchs, auch aktuellen, insbesondere interdisziplinär auszumachenden Fortentwicklungen der Rhetorik auf die Spur zu kommen.

Ungeachtet dieser und einiger weiterer kleinerer Lücken, die hier aus Platzgründen nicht weiter ausgeführt werden sollen (und über die sich Herausgeber und Redaktion angesichts der Komplexität dieses Werkes selbst im Klaren sein werden), steht außer Zweifel, dass mit dem Historischen Wörterbuch der Rhetorik ein Werk vorgelegt wird, das man seit langem vermisst hat und das in die persönliche Handbibliothek aller gehört, die sich wissenschaftlich mit der europäischen Bildungsgeschichte auseinanderzusetzen haben, seien sie nun Linguisten oder Literaturwissenschaftler, Philosophen oder Theologen, Pädagogen oder Sozialwissenschaftler etc. Müsste ich unter den gängigen Nachschlagewerken, Lexika und Enzyklopädien aus irgendwelchen Gründen drei Werke auswählen und auf alle anderen verzichten - das Historische Wörterbuch der Rhetorik bliebe auf jeden Fall im Regal.