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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

949–951

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gerhard, Johann

Titel/Untertitel:

Meditationes Sacrae (1606/7). Lateinisch-deutsch. Kritisch hrsg., kommentiert und mit einem Nachwort versehen von J. A. Steiger. Teilbd. 1 u. 2.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann 2000. 795 S. m. 6 Abb. 8 = Doctrina et Pietas, I/3. Lw. DM 298,-. ISBN 3-7728-1824-2.

Rezensent:

Marcel Nieden

Die von Johann Anselm Steiger auf drei Bände angelegte kritische Edition des Gerhardschen Erbauungsklassikers hat eine weitere Realisierungsstufe erreicht: Nachdem 1998 im ersten Band das Autograph (1603/4) veröffentlicht worden ist, liegt nun mit dem zweiten Band der lateinische Erstdruck der "Meditationes Sacrae" (1606) samt deutscher Übersetzung vor. Ein dritter, separater Materialband, der neben der ersten poetischen Version auch Faksimiles der Emblemata enthalten wird, soll demnächst erscheinen.

Die Prinzipien dieser nicht ohne kirchen- und theologiereformerischen Impetus betriebenen Edition orientieren sich an der germanistischen Editionspraxis und wurden von Steiger bereits eingehend dargestellt (vgl. Ralf Georg Bogner/Johann Anselm Steiger, Prinzipien der Edition von theologischen Texten der frühen Neuzeit, editio 12, 1998, 89-109). Sie bestimmen auch die vorliegende lateinisch-deutsche Ausgabe der "Meditationes Sacrae": "Es wurde grundsätzlich eine diplomatisch getreue Textwiedergabe ohne sog. ,Normalisierungen' angestrebt." (627) Von der ursprünglich geplanten synoptischen Anlage des Bandes Abstand nehmend (vgl. Johann Anselm Steiger, Johann Gerhard [1582-163]. Studien zu Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie [= Doctrina et Pietas I,1], Stuttgart 1997, 301), hat Steiger die beiden sprachlichen Versionen jetzt ohne allzu großen Praktikabilitätsverlust in je einem Teilband herausgegeben.

Teilband 1 enthält den lateinischen Text der insgesamt 51 "Meditationes Sacrae", basierend auf dem ersten und bislang einzigen Exemplar des Urdrucks (Jena 1606), das Ernst Koch 1993 in der Erlanger Universitätsbibliothek dankenswerterweise hatte ausfindig machen können (Signatur: Thl. XX,462). Der Leittext wurde mit allen elf, noch zu Lebzeiten Gerhards erschienenen Jenaer Drucken verglichen, also mit denjenigen Ausgaben, "von denen man am ehesten vermuten kann, daß Gerhard sie selbst durchgesehen hat." (630) Ein sorgfältig erstellter textkritischer Apparat unterrichtet über die Varianten der kollationierten Drucke, über Emendationen des Herausgebers, über fehlerhafte Paginierung sowie über die marginalen Quellenangaben, die sich in den beiden Jenaer Ausgaben G und J von 1617 bzw. 1622 finden. Der aufwendige Druckvergleich erlaubt den Lesern und Leserinnen, sich ein Urteil über die Zuverlässigkeit der einzelnen Ausgaben zu bilden und zugleich einen ersten Einblick in Gerhards Praxis der Druckbetreuung zu gewinnen. Im kommentierenden Apparat werden die zitierten bzw. alludierten Texte aus der Bibel und den altkirchlichen, mittelalterlichen und zeitgenössischen Quellen nachgewiesen, wobei natürlich angesichts der traditionsgesättigten Diktion des Autors kaum ,Vollständigkeit' zu erreichen ist. Gleichwohl konnten Steiger und seine Mitarbeiter die Belege gegenüber der Edition des Autographs noch einmal vermehren. Der Kommentar lässt die Vorlagen ausführlich im Originallaut zu Wort kommen - wenn auch nicht immer nach der jeweils besten greifbaren Ausgabe - und ist daher im Blick auf Gerhards Umgang mit dem theologischen Traditionsmaterial äußerst aufschlussreich.

Teilband 2 bietet sodann eine deutsche Version des Werkes, und zwar in Form einer Mischedition. Leittext ist die erste deutsche Übersetzung der "Meditationes Sacrae" - erstellt und publiziert von dem literarisch versierten Theologen Johannes Sommer (Magdeburg 1607). Da Sommer jedoch die berühmte Vorrede Gerhards aussparte, entnahm Steiger die entsprechende Übersetzung einer späteren deutschen Ausgabe des Gerhardschen Erbauungsbuches, nämlich der von Albrecht Friedrich Model (Wolfenbüttel 1739). Daraus stammen auch die beiden deutschen Versionen der siebenten "Homilia" des Autographs, die im Urdruck fehlt. Die Wahl des Leittextes war nicht einfach: Die deutsche Übersetzung des Gerhard-Schülers Fabian Vogel kam zwar erst 1610 in Jena heraus, ist aber im Vergleich zu derjenigen Sommers wesentlich häufiger aufgelegt und vor allem von Gerhard selbst redigiert und "censiret" (693 Anm. 208) worden. Hätte sie nicht vielleicht doch den Vorzug verdient?

Dem lateinischen und deutschen Text der "Meditationes Sacrae" sind jeweils ein Verzeichnis der zu Grunde gelegten Drucke sowie eine Liste der Emendationen und der in den Leitdrucken begegnenden Kürzel beigegeben. Zum lateinischen Text werden außerdem ein Druckstammbaum, ein Bibelstellen- sowie ein Sachwortregister geboten. Ein Quellenverzeichnis befindet sich im Anhang zum deutschen Text (ohne VD-16-Nachweise), ein mit Biogrammen angereichertes Personenregister am Ende des zweiten Teilbandes.

Das stattliche "Nachwort" (625-765) bietet neben dem editorischen Bericht eine bunte Palette an Studien- und Dokumentationsteilen. Es stellt den Benutzern und Benutzerinnen nicht nur notwendige Informationen für die eigene Lektüre zur Verfügung, sondern geht auch schon deutlich zur Textinterpretation über. Steiger beleuchtet die in vieler Hinsicht immer noch dunkle Entstehungsgeschichte der "Meditationes Sacrae", versucht eine erste Verortung des Werkes im Kontext der nachreformatorischen Meditationsliteratur, gibt eine erhellende Übersicht über die von Gerhard benutzten antiken, mittelalterlichen und zeitgenössischen Quellen und umreißt in groben Zügen das wesentlich an Luther orientierte Meditationsverständnis des Jenaer Theologen.

Auf Grund seiner rezeptionsgeschichtlichen Recherchen vermag Steiger ein eindrucksvolles Bild von der außerordentlichen Publizität des Gerhardschen Bestsellers zu zeichnen. Über 220 Auflagen in 16 Sprachen konnten bislang ermittelt werden. Ausgewählte Dokumente zur Wirkungsgeschichte bezeugen die geradezu innige Aufnahme, die die "Betrachtungen" im 17. und 18. Jh. bei orthodoxen und weniger orthodoxen Theologen fanden. Unter germanistischem Gesichtspunkt würdigt schließlich Ralf Georg Bogner die Übersetzung Sommers als "eine Rhetorisierung des Ausgangstextes im Dienste der Ent-Distanzierung" (764).

Der hohe wissenschaftliche Wert dieser lateinisch-deutschen Ausgabe der "Meditationes Sacrae" steht außer Frage: Es handelt sich um ein ausgezeichnetes Arbeitsmittel, ja Arbeitsstimulans nicht nur für die intensiv in Gang gekommene Forschung zu Wesen und Funktion der barocken Meditationsliteratur, sondern auch für alle anderen historischen Bemühungen um ein angemessenes Verständnis der altlutherischen Orthodoxie.