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Ausgabe:

September/2001

Spalte:

896–899

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Stuckrad, Kocku von

Titel/Untertitel:

Das Ringen um die Astrologie. Jüdische und christliche Beiträge zum antiken Zeitverständnis.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2000. XVII, 912 S. gr.8 = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, 49. Pp. DM 398,-. ISBN 3-11-016641-0.

Rezensent:

Michael Tilly

Die allgemeine Wahrnehmung der neuzeitlichen Astrologie als einer heillosen Pseudowissenschaft verstellt den Blick dafür, dass der Weltdeutung anhand der Beobachtung von Himmelserscheinungen in zahlreichen jüdischen und christlichen Quellen eine hohe Bedeutung zukommt und ihre nähere Betrachtung zur Erhellung der Intentionen und des kulturellen Umfelds der antiken Autoren und Adressaten beitragen kann. In seiner von Hans G. Kippenberg betreuten, im WS 1998 im Fach Religionswissenschaft an der Universität Bremen angenommenen und für den Druck überarbeiteten umfangreichen Dissertation beabsichtigt S. die "intensive Auseinandersetzung über die religiösen Dimensionen der Astrologie" (2) und die "sozialen und politischen Hintergründe des antiken Diskurses" (9) von der Hasmonäerzeit bis zur arabischen Eroberung Palästinas nachzuzeichnen, wobei die kulturellen Determinanten der singulären Texte bzw. "Gesprächsbeiträge" generell von höherer Bedeutung seien als die Zugehörigkeit ihrer Verfasser zu bestimmten Religionsgemeinschaften (10).

In einer ausführlichen methodischen Grundlegung (12-101) der Hermeneutik, die selbst Relativitätstheorie und Quantenmechanik einbindet (88 ff.), will S. in Weiterführung der erkenntnistheoretischen Konzeptionen R. Rortys und der Arbeiten H. Bergsons und W. Paulis eine "pragmatistische" postmoderne religionswissenschaftliche Geschichtsschreibung begründen, die ohne Rekurs auf "ontologische oder transkulturelle Dimensionen" (49) und auf "übergeordnete Entitäten" (70) auskommt und allein zeitlich und räumlich begrenzte religiöse "Tagesdiskurse" (73) beschreibt. Unter dieser Voraussetzung definiert er die Astrologie als "Wissenschaft ... , die die Kategorien des Raumes und der Zeit auf eine bestimmte Art und Weise zu verbinden sucht" (71), d. h. als "Bindeglied zwischen den messbaren physikalischen Zeitabschnitten und dem nur qualitativ erfaßbaren Erleben der Zeit" (87; vgl. 100).

Auf dieser methodischen Basis untersucht S. zunächst die Verständnistradition von Num 24,17 im Kontext hasmonäischer Herrschaftslegitimation (108), wobei er die Bezugnahme auf das Sternsymbol bei der heilsgeschichtlichen Verortung der eigenen Macht auf die Wahrnehmung astronomischer Begebenheiten zurückführt (119). Ebenso wie in Rom (121) seien auch in Jerusalem politische Handlungen und Entscheidungen immer wieder durch astrologische Beobachtungen motiviert (126). Die Rezeption und Verwendung populärer astrologischer Deutungsmuster aus der paganen Welt zeige sich in der Politik des Herodes (131) und in der Wahrnehmung Bar Kochbas durch seine Anhänger (157). In Qumran sei eine vergleichbare "Instrumentalisierung astrologischer Wissenschaft im Hinblick auf ethische und priesterkultische Fragestellungen" (207) zu beobachten, die der hohepriesterlichen Herrschaftslegitimation, der Verortung der Gegenwart im kosmischen Zeitplan und der Entschlüsselung des Schicksals einzelner Anhänger gedient habe (222). Für Philon von Alexandrien repräsentierten die Planetenbahnen die vollkommene göttliche Schöpfungsordnung; abzulehnen seien allein fatalistische Astrologie (238) und Sternenkult (253). Flavius Josephus verbinde "mit großer Selbstverständlichkeit" (304) priesterliche astrologische Traditionen mit hellenistischem Schicksalsdenken. Auch bei Artapanos und Aristobulos sei die Astrologie "notwendiger Bestandteil einer ganzheitlichen Lebenserfahrung" (308).

Bei der Untersuchung der astrologischen Zeugnisse der "zwischentestamentlichen" Literatur beabsichtigt S. die Überprüfung der Annahme einer linearen "Entwicklung" in der - seines Erachtens heterogenen - jüdischen Einstellung gegenüber der Astrologie (315). Die Henochtradition rezipiere die astrologische Wissenschaft und stelle sie in einen monotheistischen Zusammenhang, um allein die Astrolatrie abzulehnen (338). Das Jubiläenbuch wiederum greife die Sterndeutung nur im Kontext falscher Kalender an (364). Die "Schrift des Sem" betone die Überlegenheit des Judentums auch in astrologischen Fragen (392). Im Testament Salomos sei keine kultisch orientierte priesterliche Komponente zu erkennen, sondern "Laienastrologie" (417). Das 3. und das 5. Buch der Sibyllinen schließlich bezögen eine ambivalente Position gegenüber der Astrologie als "zentralem Instrument der Wirklichkeitsdeutung" (430). Eine "Entwicklung" sei also abzulehnen: "Je nach sozialer Herkunft und religiöser Bindung wurden die astrologischen Deutungstechniken ... den Bedürfnissen der Alltagsreligion assimiliert" (403).

Die "pragmatistische" Untersuchung der Astrologie im rabbinischen Diskurs mache eine gesonderte Betrachtung der einzelnen Teile der Traditionsliteratur notwendig (443). Während die Mischna die Astrologie lediglich in indirekter Weise behandle (449) und auch in der Tosefta keine explizite theologische Pointierung des Problems festzustellen sei (451), begegne die - heilsgeschichtlich eingebundene - Sterndeutung in (späteren) Midraschim als eine "etablierte Prognosetechnik" (452). Der jerusalemische Talmud akzentuiere zwar die "Abwehr fatalistischer Astrologie durch die jüdische Religion" (459), doch habe die Sternkunde auch den palästinischen Rabbinen zur Welterklärung und zur Daseinsbewältigung gedient (502). Ihre theologische Abwehr habe sich auf den kultischen Zusammenhang beschränkt (503). Hinsichtlich des babylonischen Judentums sei nicht von einer grundlegenden Erweiterung palästinischer astrologischer Überlieferungen zu sprechen, sondern von einem Anwachsen astrologischer Kompetenz und autochthonen sternkundlichen Materials (508).

Auch in christlichen Quellen erkennt S. den Gebrauch astraler Symbolik, doch gebe der neutestamentliche Kanon (mit Ausnahme der Johannesapokalypse, die zahlreiche astrologische Metaphern beinhalte) durchweg "eine astrologiefeindliche Haltung zu erkennen, die in erster Linie auf das paulinische Wirken zurückgeführt werden kann" (554 f.). Dennoch sei in Mt 2,1-12 die "Indienstnahme astrologischer Überlegungen zur Legitimation messianischer Autorität ... zweifelsfrei erwiesen" (580). Die zentrale Position der Astrologie in der christlichen Gnosis, deren Vertreter "in ein differenziertes gesellschaftliches Gespräch über Astrologie involviert" waren (655), sei gekennzeichnet durch die negative Charakterisierung der - vom Gnostiker zu überwindenden - dämonisierten Sternenwelt (643). Auch der Manichäismus betrachte die Planeten als "negativ besetzte Archonten" (737). Bezüglich des Verhältnisses von Gnosis und Judentum sei festzuhalten, dass sich zwar die spätantike jüdische Mystik aus älteren priesterlichen Kulttraditionen und zeitgenössischen Theologumena speise (682) und ihrerseits in den Texten von Nag Hammadi ihre traditionsgeschichtlichen Spuren hinterlassen habe (685), dass aber keinesfalls von einer vorchristlichen "Urgnosis" (686) oder von einer Übernahme gnostischen Gedankenguts in die jüdische mystische Überlieferung (694) zu reden sei. Hinsichtlich des "antiastrologischen Diskurses im zentristischen Christentum" (767), dessen Heterogenität er wiederholt betont, gelangt S. zu dem Ergebnis, dass die anfängliche punktuelle Abwehr von fatalistischer Astrologie und Astrolatrie einer generellen Verdrängung der Sterndeutung aus dem gesellschaftlichen Diskurs weichen musste (782 f.): "Nicht die überlegene christliche Argumentation führte zur Krise der astrologischen Weltdeutung, sondern die juristische Ausgrenzung dieser Disziplin aus den artes und ihre blutige Verfolgung seitens der kaiserlichen Herrschermacht" (797 f.).

Bei der Zusammenfassung der Ergebnisse der Untersuchung steht S. vor dem methodischen Problem eines inhaltlichen Vergleichs der von ihm aufgezeigten "Tagesdiskurse". Dennoch erkennt er "Metastrukturen des antiken Gesprächs" über die Astrologie (803), namentlich das Entsprechungsdenken (804), kulttheologische Überlegungen (805), die praktische "magische" Anwendung des Entsprechungsgedankens (806), das Rechnen mit Zeitkontingenten (807), die Problematisierung des Verhältnisses von Schicksal und Willensfreiheit (808) und schließlich die Indienststellung der Astrologie durch Paränese und religiöse Propaganda (809). Die Arbeit endet mit einem Verzeichnis der Abkürzungen (816-820), Quellenschriften (821-824), Sekundärliteratur (825-854), astrologischer Symbole (855) und Fachtermini (856-859), der "Jupiter-Saturn-Konjunktionen von -200 bis 710 u. Z." (860 f.) und der Kometenerscheinungen nach antiken Berichten (862), astrologischer Diagramme (864-875), der Stellen (876-887; leider sehr unübersichtlich), Namen (888-897) und Sachen (898-912).

Der wesentliche Beitrag der vorliegenden Arbeit besteht in der fleißigen und kenntnisreichen Präsentation und Aufarbeitung des breiten antiken Quellenmaterials zur Astrologie, wobei S. auch eine ganze Reihe von selten zitierten Texten heranzieht, die einen höheren Bekanntheitsgrad verdienen. Die ausführliche Untersuchung entspricht dem aktuellen Stand der theologischen Forschung insofern, als sie die Heterogenität sowohl des Judentums als auch des Christentums und ebenso die unterschiedlichen sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen, unter denen die verschiedenen Texte entstanden bzw. rezipiert wurden, berücksichtigt. Zudem scheint die Annahme der Existenz astrologischer Weltdeutung auch außerhalb einer religiösen "Subkultur" plausibel. Hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung der Astrologie für die politischen Entscheidungen Herodes' und Hadrians (129; 149) kann man allerdings durchaus unterschiedlicher Meinung sein.

Zu monieren sind zunächst kleinere sachliche Fehler und Unschärfen. S. verwechselt Text- und Literarkritik (103). Hinter "1QM 4b-9a" (137 f.885) steckt 1QM XI 4b-9a und hinter "Jerome" (153) verbirgt sich wohl Hieronymus. Der in Apg 4,6 erwähnte Alexander ist nicht Tiberius A (so 226) sondern ein prominentes Mitglied des Sanhedrins. Philos Schrift D. e. providentia ist nicht in einer "aramäischen" Version erhalten (231), sondern allein in armenischer Übersetzung. Die "älteste erhaltene Bekenntnisformel" (537) im Neuen Testament ist nicht 1Kor 15,3-7, sondern doch wohl 1Thess 1,9 f. Dass Mk 15,33-38 auf jeden Fall nach 70 n. Chr. zu datieren ist (547), bedarf einer näheren exegetischen Begründung. Der erbauliche Matthäuskommentar des alten Fritz Rienecker aus dem Jahr 1953 (und nicht "1994") ist natürlich leicht erlegte Beute, wenn man "die teilweise unglaublichen Irrtümer apologetischer Bibelauslegungen" aufzuspüren sucht (574 Anm. 134). Die Frage, "ob das nun die Wende zum zweiten Jahrhundert war, die Johannes zur Niederschrift seiner Offenbarung veranlaßte" (708), stellt sich freilich nur dem, der außer acht lässt, dass es die Zählung der Jahre nach der Geburt Christi erst seit Dionysius Exiguus gibt. Störend sind auch die vielen Fehler in der griechischen Orthographie und Akzentuierung (127 Anm. 100; 128 Anm. 103; 236 Anm. 48; 239; 275; 398; 404; 407; 545; 551; 552; 651 Anm. 84; 772).

Das nicht zu unterschätzende Verdienst der Arbeit, nämlich die überaus kenntnisreiche Darstellung der vielfältigen Formen und Funktionen astrologischer Spekulationen in den jüdischen und christlichen Quellen, wird unnötigerweise geschmälert durch ihren eingangs erwähnten durchgängigen antitheologischen Impetus (vgl. 170 Anm. 43; 330; 441 Anm. 28; 536 Anm. 7; 584 Anm. 165; 590 Anm. 189 u. ö.), der letztendlich jede theologische Aussage zu religionsgeschichtlichen Fragen als unwissenschaftlich und unzulässig, da von axiomatischen Glaubensüberzeugungen geleitet, versteht.