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Ausgabe: | Oktober/1998 |
Spalte: | 1000–1002 |
Kategorie: | Kirchengeschichte: Neuzeit |
Autor/Hrsg.: | Haag, Norbert |
Titel/Untertitel: | Predigt und Gesellschaft. Die Lutherische Orthodoxie in Ulm 1640-1740. |
Verlag: | Mainz: Zabern 1992. XII, 480 S. 8 = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Abendländische Religionsgeschichte, 145. DM 98,-. ISBN 3-8053-1248-2. |
Rezensent: | Ernst Koch |
Die vorliegende Arbeit, deren späte Anzeige nicht zu Lasten des Rez. geht, wurde 1989/90 von der Geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Sie hat sich vorgenommen, die Lücke auszufüllen, die mit dem Fehlen einer Arbeit über das Verhältnis zwischen Gesellschaft und lutherischer Orthodoxie besteht, verfolgt also ein umgreifendes Ziel, für dessen Erreichung sie die Stadt und das umliegende Landgebiet einer oberdeutschen Reichsstadt ausgewählt hat. Inhaltlich geht es ihr um die Nachfrage nach der Durchsetzung der lutherischen Konfession. Ihre zeitliche Abgrenzung ist durch die Arbeit von Monika Hagenmaier über "Predigt und Policey" (1989) (vgl. ThLZ 116, 1991, 364 f.) mitbedingt, die sich mit Ulm zwischen 1614 und 1639 beschäftigt hatte. Die Wahl des zeitlichen Rahmens verspricht auch noch einen weiteren Gewinn, nämlich die Einbeziehung der in ihrer Weise kritischen Zeit nach 1650 in eine Untersuchung, die Gesellschaft, Theologie, Kirche und Frömmigkeit zu ihrem Gegenstand macht.
Die Arbeit wendet sich nach einer Einleitung (A), die sich auch mit Forschungssituation und Methodologie befaßt, 7 Einzelthemen zu, von denen das 6. grundsätzliche Fragestellungen aufgreift: Kategorien der Weltordnung und Weltdeutung (B) (theonome Ordnung der Welt, Kontingenzbewältigung und Weltdeutung in der Predigt, Gesellschaftsentwurf und Negierung kultureller Vielfalt); Lebenswirklichkeit und Lebensdeutung der lutherischen Orthodoxie (die Chronik des Schuhmachers Hans Heberle) (C); Orthodoxie und gesellschaftliche Praxis (Diskurse über Weltdeutung und Alternativen zur lutherischen Orthodoxie, das Heilige und der Alltag in der elitären und popularen Religio) (D); Gestaltung des Politischen (Verfassung, Konflikte zwischen Rat und Geistlichkeit um Bußzucht und Kirchenregiment in den 1640er Jahren, Politik und Predigt) (E); Frömmigkeit und bürgerliche Gesellschaft (das Haus im Prozeß des gesellschaftlichen Wandels, kulturelle Prägung und individuelles Handeln, Modellierung des Frommen in der Predigt, Schutz des Frommen, durch städtische Politik und Predigt, deutsche Schulen zwichen Tradition und Wandel, Polizei und Predigt, Prozeß der Transformation der popularen Kultur) (F); Forschungsprobleme im Umkreis der lutherischen Orthodoxie (G); Zusammenfassung (H). Ein Anhang (I) bietet Kurzbiographien Ulmer Geistlicher.
Im Hinblick auf die Relevanz des Themas empfiehlt es sich, dem Kapitel, das sich grundsätzlichen Fragestellungen zuwendet (G), spezielle Aufmerksamkeit zu widmen. Als erstes der Forschungsprobleme wird die Frage aufgegriffen, ob die Erbauungsliteratur der lutherischen Orthodoxie der Individualisierung der Frömmigkeit und damit dem Pietismus Vorschub geleistet hat. H. hält eine solche These für "äußerst problematisch" (356), weil ein intentionaler und inhaltlicher Unterschied zwischen Predigt und Erbauungsliteratur nicht aufweisbar ist. Auch läßt sich eine dogmatische Indifferenz der Erbauungsliteratur nicht nachweisen. Ferner wurde in den Kreisen der Ulmer Pietisten reichlich orthodoxe Literatur gelesen.
Auch dieser Befund läßt die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Orthodoxie und Pietismus stellen. Die Pietisten Ulms stellten schon deshalb eine Herausforderung für die Geistlichkeit dar, weil sie befolgten, was die orthodoxe Predigt seit langer Zeit gefordert hatte, allerdings unter Aufgabe der Korrelation von Lehre und Leben zugunsten des Lebens. Die Stellung der Geistlichkeit von Ulm zur pietistischen Bewegung identifiziert H. für den Untersuchungszeitraum als ablehnend selbst bei Elias Veiel, dessen Haltung zu Spener "erhebliche Differenzen" zeigte (366). Einen wichtigen Grund dafür, daß der Ulmer Pietismus von spiritualistischem Gedankengut geprägt war, findet H. darin, "daß ihre Theologie dem Chiffrierschlüssel, dem Code, der die Lektüre der Ulmer Pietisten steuerte, am nächsten kam" (369). Hinzu kam neben der Distanz zu reflektierter Theologie die Abnahme der Faszination durch apokalyptische Ankündigungen.
H. kann dies für Ulm u. a. im Zusammenhang der Frage nach dem Verhältnis von Orthodoxie und Ausbildung der modernen Welt am Ulmer Kometenstreit des Jahres 1688 aufzeigen. Freilich verweist seine Sicht des Verhältnisses des Pietismus zur modernen Welt auf die im Vergleich mit der Orthodoxie größere Nähe dieser Bewegung zur Moderne.
So überrascht es nicht, daß H. auch im Blick auf Säkularisierung und Verbürgerlichung des Weltbildes das Scheitern der Orthodoxie diagnostiziert, das auch noch - sozusagen dialektisch - durch den erheblichen und erfolgreichen Widerstand der popularen Kultur gegen den von der Orthodoxie intendierten Akkulturationsprozeß seine Bestätigung erfahren habe, bei dem bereits die Distanz der Unterschichten zum Umgang mit Erbauungsliteratur beteiligt gewesen sei. Auch hatte die lutherische Ständelehre gegenüber den "neuen" Bürgerlichen keine Chance, weil die merkantilistische Wirtschaftspolitik die Kaufleute "zu den nützlichsten Gliedern der Gesellschaft erklärte" (402).
Für das Problem der politischen Bedingungen des religiösen Pluralismus innerhalb des Luthertums ergibt der Vergleich zwischen Brandenburg-Preußen, Württemberg und Ulm einige Differenzierungen speziell im Blick auf die Stellung zum Pietismus. Dies läßt fragen, ob eine ähnlich vergleichende Methode möglicherweise auch für die übrigen Fragefelder der von H. berührten generellen Forschungsprobleme im Umfeld der lutherischen Orthodoxie manche Generalisierung überholt hätte. Daß H. im übrigen die Leistungen von Theologie, Kirche und Frömmigkeit innerhalb der Gesellschaft des Untersuchungszeitraums voll zu würdigen weiß, steht außer Frage. Auch dies garantiert seiner Arbeit einen wichtigen Platz in der Forschungslandschaft zum 17. und 18. Jh.
Unklarheiten enthält die Liste von orthodoxen Autoren auf S.357. "Stringentius" ist auch im Register nicht näher identifiziert. Sollte Georg Strigenitz gemeint sein? "Gotthold", ebenfalls im Register nicht identifiziert, verweist vielleicht auf "Gottholds zufällige Andachten", ein weit verbreitetes Erbauungsbuch von Christian Scriver. Spangenberg ist im Register als Johann, nicht Cyriacus Spangenberg auszuweisen.