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Ausgabe:

Juli/August/2001

Spalte:

808–810

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Scherb, Jürgen Ludwig

Titel/Untertitel:

Anselms philosophische Theologie. Programm - Durchführung - Grundlagen.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 315 S. gr.8 = Münchener philosophische Studien, NF 15. Kart. DM 68,95. ISBN 3-17-016159-8.

Rezensent:

I. U. Dalferth

Diese von P. Hinst und W. Vossenkuhl an der Ludwig-Maximilans-Universität in München betreute philosophische Dissertation (SS 98) interpretiert Anselms Proslogion-Programm fides quaerens intellectum als Bemühung um "eine deduktive Theorie" zur logisch stringenten "Herleitung der zu beweisenden" Glaubenssachverhalte (37). Das erfordere eine klare logische Metasprache, in der sich die umgangssprachlichen Argumentationen Anselms präzis rekonstruieren lassen. Der Vf. entwickelt diese im Anschluss an die Mereologie D. P. Henrys mittels der von A. Plantinga vorgeschlagenen Strategie einer angewandten Semantik, die er aber nicht modelltheoretisch, sondern als praxisnähere Pragmatisierung der klassischen Logik im Rahmen eines Kalküls des natürlichen Schließens mit Kennzeichnungslogik konzipiert.

Entsprechend bietet das Buch nach Einleitungsüberlegungen zu Anselms Programm (13-37) und zu den Elementen einer philosophischen Hermeneutik, d. h. einer logisch präzisen Interpretationssprache (39-70), eine formale Rekonstruktion von Anselms Argumentation in Proslogion II-IV (71-132), des Liber pro insipiente (133-180), der Responsio Anselms (181-244) sowie der logischen Grundlagen des Proslogion-Gottesbegriffs (245-285). Ein knapper Rückblick und Ausblick beschließt die Ausführungen (287-296).

Die Leistungen des Buchs liegen in einer Vielzahl präziser und diskussionswürdiger logischer Rekonstruktionsvorschläge, insbesondere der Kontroverse zwischen Anselm und Gaunilo. Der Vf. analysiert die Argumentationen sprechaktanalytisch, indem er sie möglichst textnah und unter Berücksichtigung von Interpretationsalternativen zunächst umgangssprachlich interpretiert und dann formalisiert. Seine Interpretation von Proslogion II folgt im Wesentlichen den Analysen von H. Scholz, W. L. Gombocz und P. Hinst, während er den modallogisch inspirierten Interpretationsversuchen im Gefolge Hartshornes, Malcolms und z. T. auch Plantingas, die von Proslogion III ausgehen, eher skeptisch gegenübersteht. Seiner Auffassung nach geht es bei Anselms famosa descriptio um die explikative Einführung seines Gottesbegriffs. Die Analyse dieses Gottesbegriffs sowie die kritische Auseinandersetzung mit der von J. Vuillemin vorgetragenen Kritik am Programm von Anselms Proslogion im 9. Kapitel bilden den Kern der Arbeit, die zu dem Resultat kommt, dass Anselms Gottesbegriff höchstwahrscheinlich widerspruchsfrei sei.

Dass Anselms Formel etwas anderes sein könnte als ein Begriff Gottes, wird gar nicht erst erwogen. Hier wie auch sonst steht die Rekonstruktion des Vf.s im Banne seiner logischen Rahmentheorie(n) und der durch diese eingeräumten Möglichkeiten. Zwar bemüht er sich um eine möglichst große Textnähe seiner Rekonstruktionen, und er beansprucht zu Recht auch nie mehr, als einen Interpretationsvorschlag vorgelegt zu haben. Doch im Zweifelsfall wird nicht nur der Konsequenz der logischen Interpretation gegen das im Text ausdrücklich Gesagte bzw. nicht Gesagte der Vorzug gegeben (253 u. ö.), sondern es wird auch immer wieder die Abhängigkeit der logischen Formalisierung vom vorgängigen Textverständnis und damit von interpretatorischen Vorentscheidungen deutlich, die keineswegs immer überzeugen. So folgt der Vf. der problematischen Tradition, die Argumentationen in Prosl. II, III und IV gesondert zu interpretieren, anstatt sie als aufeinander aufbauende Schritte eines einzigen Argumentationszusammenhanges zu lesen. Zwar sieht er, dass seine Grundthese, Anselm führe in Prosl. II den Ausdruck ,deus' "nach den Regeln der modernen Definitionstheorie" ein, wenn überhaupt, dann eigentlich erst für Prosl. IV zutrifft (75). Da seine Rekonstruktion Anselm aber ein axiomatisches Denken unterstellt, das von der Definition der Terme ausgeht, muss es in Prosl. II eine Definition von ,deus' geben, obgleich es eine solche dort nicht gibt.

An anderen Stellen verfährt er behutsamer. Den modallogischen Interpretationsansätzen im Gefolge Hartshornes und Plantingas steht er eher skeptisch gegenüber, weil er zu recht sieht, "daß Anselms Rede von Möglichkeit und Notwendigkeit mit der neueren Modallogik keineswegs hinreichend erfaßt werden kann" (293). Seine Sicht der nicht an Formalisierungen interessierten Proslogion-Literatur ist nicht frei von Vorurteilen. Aber nicht nur sie wird von ihm nur selektiv beachtet, auch wichtige logische Rekonstruktionsversuche der Proslogion-Argumentation bleiben unberücksichtigt (etwa R. Campbell, From Belief to Understanding, Canberra 1976). Allerdings ist er sich bewusst, dass er nur Interpretationsvorschläge vorlegt, die nicht nur mit verschiedenen Texttypen, sondern auch mit den verschiedenen verwendeten Logiken variieren und daher an ihrer klärenden Leistung zum Verständnis des Textes gemessen werden müssen. Da dieser oft mehr als eine Lektüre und logische Rekonstruktion erlaubt, sind Präferenz-Entscheidungen zwischen konkurrierenden Interpretationsvorschlägen unvermeidlich. Der Vf. hält eine "Axiomatisierung der erarbeiteten Ergebnisse zum jetzigen Zeitpunkt" daher zu Recht "für verfrüht". Am Sinn einer solchen "philosophische[n] Theologie im strengsten Sinn, d. h. eine[r] axiomatisierte[n] Theorie" zweifelt er aber keinen Moment, weil er "sich nicht einfach mit einer pseudopluralistischen Gleichgültigkeit der Angebote zufrieden" geben will (287).

Wie abwegig diese Alternative ist, hätte ihm bei der hermeneutischen Reflexion seines methodischen Dreischritts Text - Interpretation(svorschläge) - Formalisierung deutlich werden können. Formalisierung ist ein hilfreiches und manchmal unverzichtbares Mittel zur Kontrolle von Argumentationen. Sie bleibt aber stets gebunden an vorgängige Interpretation, die sie weder ersetzen noch durch einen höheren Grad philosophischer oder theologischer Einsicht überbieten kann. Formalisierung und Axiomatisierung sind philosophisch sekundäre Hilfsmittel, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Auch eine formal präzise "Definition göttlicher Eigenschaften" und eine argumentativ korrekte "Einführung eines monotheistischen Gottesbegriffs" (296) ist kein Erkenntnisfortschritt, wenn sich die Bemühungen auf einen philosophisch vorkritischen und theologisch unbrauchbaren theistischen Gottesbegriff konzentrieren. Die Klage des Vf.s über den angeblich "nicht abzustreitenden Rückstand" der deutschsprachigen Religionsphilosophie "auf die angloamerikanische" (296) wäre jedenfalls im Blick auf das auch immer wieder zu beobachtende Missverhältnis zwischen formalem Scharfsinn und philosophischer Unerheblichkeit kritisch zu überprüfen.

Scherbs eigene Bemühungen zeichnet aus, dass er die logischen Mittel konsequent und kompetent in den Dienst des Verstehens der analysierten Texte zu stellen versucht. Weil er Interpretationsalternativen deutlich macht und auch die Schwierigkeiten der eigenen Interpretationsentscheidungen nicht verdeckt, ist seine Arbeit auch dann mit Gewinn zu lesen, wenn man Grund hat, Anselm anders zu verstehen. Sein Buch bietet einen beachtenswerten Beitrag zur logischen Rekonstruktion von Anselms Argumentation in Prosl. II-IV sowie der darauf bezogenen Kontroverse mit Gaunilo.