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Ausgabe:

Juni/2001

Spalte:

622–625

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Doering, Lutz

Titel/Untertitel:

Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XVI, 678 S. gr.8 = Texte und Studien zum Antiken Judentum, 78. Lw. DM 198,-. ISBN 3-16-147202-0.

Rezensent:

Friedrich Avemarie

Interesse an der inhaltlichen Seite antik-jüdischer Toraobservanz ist in der theologischen und judaistischen Forschung im deutschsprachigen Raum ein eher marginales Phänomen. Den Arbeiten von M. Albani, U. Gleßmer und J. Maier zum 364-Tage-Kalender und R. Deines' Untersuchung über Steingefäße und Reinheitshalacha lässt sich jetzt aber mit L. Doerings Monographie zum Sabbat ein Opus magnum zur Seite stellen, das Anlass zu hoffen gibt, es möchte sich aus diesen mutigen Ansätzen ein veritabler Forschungszweig entwickeln.

Das Buch, Druckfassung einer neutestamentlichen Dissertation aus Göttingen, behandelt die Sabbatobservanz in der Epoche des Zweiten Tempels. Chronologische Eckpunkte sind die jüdische Militärkolonie von Elephantine (5. Jh. v. Chr.) und die Bar-Kochba-Revolte, wobei das partiell kontemporäre alttestamentliche Material ausgespart wird. Der Aufriss folgt weitgehend den einschlägigen literarischen bzw. archäologischen Korpora: Elephantine-Ostraka, Jubiläenbuch, Qumran, Dia-sporajudentum, palästinische Ostraka, NT und Josephus; daneben befassen sich zwei thematische Kapitel mit innerjüdischen Debatten und Entwicklungen im Kontext des Pharisäismus und mit der Frage der Kriegführung am Sabbat. Im Detail allerdings führt der halachageschichtliche Vergleich (so die Kurzformel zur Methode, 13) immer wieder über diesen Rahmen hinaus; von späterer rabbinischer über samaritanische und karäische Überlieferung bis hin zur der der Falaschas tritt regelmäßig auch jüngeres Material illustrierend hinzu. - So umfangreich das Buch, so wenig neigt sein Autor zur Weitschweifigkeit; der folgende Abriss gibt daher nur Grundlinien wieder, die von der Detailfülle und Akribie der Analyse keinen entfernten Eindruck vermitteln:

Die Auswertung diverser Geschäftsdokumente und der Verbreitung des Namens Schabbetai in den Elephantine-Funden ergibt, dass der Sabbat hier als herausgehobener 7. Wochentag bekannt, seine Begehung durch Arbeitsruhe aber noch nicht verbindlich geregelt ist.

Der Verfasser des Jubiläenbuchs hat in 2,29 f. und 50,8.12 zum Thema Sabbat zwei bis drei halachische Listen (60) aufgenommen, die in ihrer unpolemischen Fassung von den Konflikten der Makkabäerzeit nichts ahnen lassen, also aus früherer Zeit stammen. Sie bieten entwicklungsgeschichtlich alte Halacha, strenge (von D. der Reihe nach erörterte) Totalverbote, denen die im Laufe der Zeit aus Gründen der Praktikabilität hinzutretende kasuistische Differenzierung, wie sie in Qumran und bei den Rabbinen begegnet, noch fehlt (77). Eine Besonderheit ist die schöpfungstheologische Verankerung der Sabbatobservanz (63), in der D., angelehnt an D.R. Schwartz, ein ,realistisches' Gesetzesverständnis zum Ausdruck kommen sieht, wie es für den priesterlichen Ansatz nicht nur der Jubiläen-, sondern auch der qumranischen Halacha charakteristisch ist (46, 117; relativierend 579).

Das relevante qumranische Material findet sich in der Da- maskusschrift, deren Sabbatkodex (CD X,14-XI,18; Parr. in 4Q267-271) auf eine protoessenische, später (doch vor Abfassung der Damaskusschrift ca. 100 v. Chr.) mit den übrigen Stoffen des D-Gesetzeskorpus verbundene Sammlung zurückgeht, sowie in weiteren Fragmenten aus Höhle 4, die dieselbe halachische ,Schule' wie D, aber eine traditionsgeschichtlich spätere Stufe der Sabbathalacha repräsentieren (132.223 f.). Anders als Jub spiegeln die (wieder der Reihe nach diskutierten) qumranischen Regeln kasuistische Differenzierung wider; so verbieten sie die Beauftragung von Nichtjuden mit Sabbatarbeit und schränken das Tragen von Medikamenten am Körper sowie den Gebrauch von Hilfsmitteln zur Lebensrettung ein. Auch rekurrieren sie nicht auf eine Schöpfungsordnung, sondern weisen sich größtenteils durch begriffliche Anklänge oder Zitate als Schriftauslegung aus, wobei die Elaboration von biblisch nicht Explizitem qumranisch als Erforschung verborgener Schriftinhalte, nicht im Sinne einer zweiten, mündlichen Tora verstanden wird (276, vgl. aber 215). Mit Jub gemeinsam hat die Qumrangemeinde den 364-Tage-Kalender, dem der Sabbatzyklus als zentrales Strukturmoment zu Grunde liegt und der eine konsequente Vermeidung der Überschneidung von Sabbaten und Festtagen ermöglicht. Im Vergleich mit der tannaitischen Halacha stellt sich die qumranische überwiegend restriktiv dar.

Das Kapitel zur Diaspora bietet einen Streifzug durch pagane Literatur, griechische Papyri, verstreute Nachrichten über jüdische Privilegien unter paganer Herrschaft und endlich die Werke der Diasporajuden Aristobulos und Philon. Es zeigt, dass Sabbatobservanz verbreitet ist und als wichtiges Merkmal jüdischer Identität fungiert. Halachische Details lassen sich v. a. den Schriften Philons entnehmen, die sich hier teils mit tannaitischer, teils auch essenischer Tradition berühren und gelebte Observanz des alexandrinischen Judentums spiegeln (323, vgl. 385). - Was die Frage der Kriegführung angeht, so deckt das betreffende Kapitel am Ende des Buchs gegenläufige Entwicklungen in Diaspora und jüdischem Mutterland auf: Während hier von makkabäischer Zeit an bis zum ersten jüdisch-römischen Krieg die Erlaubnis zur bewaffneten Verteidigung am Sabbat immer weiter ausgedehnt wird, steht dort dem Dienst jüdischer Söldner in den Heeren der Diadochenreiche die wiederholt belegte Exemtion jüdischer Bürger vom Militärdienst in römischer Zeit gegenüber.

Das folgende, sehr kurze Kapitel diskutiert drei erstmals 1988 von A. Yardeni publizierte, palästinisch-aramäische Ostraka aus der 1. Hälfte des 1. Jh.s n. Chr., die diverse Nahrungsmittellieferungen notieren, darunter solche, die eindeutig am Sabbat an jüdische Kunden erfolgten. D. vermutet, dass der Verfasser und Lieferant ein Jude war, und sieht hier somit Einblick in eine nonkonforme Sabbatpraxis gewährt (396).

Im neutestamentlichen Kapitel stehen Ährenraufen und Sabbatheilungen im Mittelpunkt. Die Halacha-Verstöße sind jeweils eindeutig; das Verbot des Abreißens von Pflanzen ist verbreitet (429), und ein Verbot der Heilung (außerhalb von Lebensgefahr) ist zwar nicht explizit belegt, lässt sich aber für den Pharisäismus aus tannaitischen Äußerungen erschließen (449 f.). Die jesuanischen (oder Jesus zugeschriebenen) Gegenargumente sind halachisch nicht stichhaltig: Bei der Freigabe der Rettung von Vieh (Mt 12,11) handelt es sich wohl um eine erleichternde Sonderregel aus dem kleinbäuerlichen Milieu Galiläas (460); vom Verbot des Knotenlösens (Lk 13,15) machen die Tannaiten immerhin einige Ausnahmen (464); die These, der Sabbat sei um des Menschen willen gemacht, hat in der Tat enge rabbinische Parallelen (417 f., wobei D. dem âÁÓÂÙÔ Mk 2,27 eine besondere schöpfungstheologische Note abspürt); auch die Beschneidung (Joh 7,22 f.) spielt in rabbinischen Begründungen der Sabbatverdrängung bei Lebensgefahr eine Rolle (473). Aber im halachischen Sinne um Lebensgefahr geht es in keinem der von den Evangelien berichteten Fälle, und auch der Umweg über den Begriff des àÁÔÔÈÉÛÈ Lk 6,9 behebt das Problem nicht (454). Plausibel wird das Handeln Jesu erst im weiteren Kontext seiner Botschaft: In ihrem eschatologischen Horizont wird die Krankheit eines Menschen ,todernst' genommen (455). Es scheint, dass Leid und Krankheit nach Jesu Auffassung nicht mit dem Charakter des Sabbats vereinbar sind, der von dem Rückverweis auf die Schöpfermacht Gottes und wohl auch von der Vorausschau auf die Endzeit bestimmt ist (456). Und mit Blick auf die matthäische Rezeption: Jesu Argumentation ist nur in der Perspektive der Liebe nachvollziehbar (461).

Flavius Josephus kommt auf den Sabbat nur beiläufig zu sprechen. Einige seiner Hinweise erlauben Rückschlüsse auf Einzelheiten realer Praxis; einigen jüdischen Gruppen attestiert er intensivere Observanz, spezielle Lehrunterschiede thematisiert er aber nicht (490 f.), was mit seinem Interesse zusammenhängt, das Judentum als religiöse Einheit darzustellen (507).

Das Kapitel über Pharisäer, Sadduzäer und frühe Tannaiten befasst sich v. a. mit der Frage innerjüdischer Differenzen in der Zeit vor der Tempelzerstörung. Das Problem liegt in der spärlichen Quellenlage: Zwar darf man annehmen, dass einige frühe tannaitische Positionen (auch) von den Pharisäern geteilt wurden, und oft lässt sich aus der Jubiläen- oder der Qumran-Halacha eine Gegenposition erschließen, die das in der rabbinischen Literatur Belegte vorbereitet (516). Doch nur Weniges bringen die Quellen mit einer der bekannten Gruppen und Sekten direkt in Verbindung; der Durchgang durch NT, Josephus und tannaitische Tradition erbringt genau acht (nur zum Teil präzise fassbare) Regeln, die sich Pharisäern, Boethusäern oder Sadduzäern zuordnen lassen.

Zu den herausragenden Vorzügen von D.s Buch gehören eine souveräne Quellenarbeit, die neuere und neueste Publikationen berücksichtigt und bis zur Autopsie von Qumranfragmenten reicht, sowie die systematische Aufarbeitung einer breit gefächerten Sekundärliteratur, die mit größter Geläufigkeit auch neuhebräische Beiträge einbezieht. Wie unendlich schwierig es ist, aus weit verstreuten, teilweise kryptisch knappen und oft nur fragmentarisch erhaltenen Schriftdokumenten auf deren realen Lebensbezug rückzuschließen, weiß jeder, der sich mit dergleichen je befasst hat. Um so mehr wird er würdigen, mit wie viel Umsicht und Geduld D. auch noch so unscheinbare Eventualitäten abwägt, bis endlich aus der Vielzahl möglicher Interpretationen die wahrscheinlichste herauspräpariert ist - sofern die Diskussion nicht in ein wohlüberlegtes wir wissen es nicht mündet. Wenn ihm dann dennoch hier und da Fragen bleiben, darf er dies D. nicht zum Vorwurf machen; es liegt in der Natur des Gegenstands.

Ein Beispiel für ein Detailproblem: Die Möglichkeit, dass die erwähnten palästinisch-aramäischen Ostraka Lieferungen eines Schabbes-Goj dokumentieren, wird wegen der verwendeten Quadratschrift, deren Gebrauch typisch für Juden war, als unwahrscheinlich beurteilt (393 f.). Nun dürfte freilich die auffällige Konzentration der Lieferungen um die Wochenenden implizieren, dass sich die belieferten Juden entweder werktags von observanten Juden versorgen ließen, die am Sabbat ausfielen, oder solcher Dienste überhaupt nur am Wochenende bedurften, also wegen (wie auch immer gearteter) eigener Sabbatobservanz. Ist aber so besehen die Inanspruchnahme eines völlig nonkonformen jüdischen Sabbat-Lieferanten wirklich wahrscheinlicher als die Verwendung von Quadratschrift durch einen angepassten Nichtjuden?

Eine eher grundsätzliche Frage ist, mit wie viel Plausibilität sich relative Strenge und fehlende kasuistische Differenzierung als Indizien für Altertümlichkeit werten lassen (so bes. bei Jub). Allmähliche Verschärfung von Halacha ist im Prinzip ebenso denkbar (und war in der Nehemia-Zeit fraglos Realität), wie damit zu rechnen ist, dass selbst Tradenten apodiktischer Totalverbote recht klare Vorstellungen davon hatten, was diese Verbote im Einzelfall betrafen und was nicht.

Eine Überlegung wäre es wohl auch wert, wie es kommt, dass bei der Interpretation der neutestamentlichen Texte Kategorien wie Liebe oder Eschatologie offenbar nahe liegen, während sie sonst keine Rolle spielen. Nicht dass sie unangebracht wären; aber sollte man nicht, ehe man sie einführt, überlegen, ob die rabbinischen Begründungen zur Lebensrettung am Sabbat wirklich stringenter sind als die jesuanischen zur Heilung am Sabbat, ob nicht schon das reine Faktum, dass Jesus und die Judenchristen ihre Praxis argumentativ begründeten, etwas bedeutet, und ob nicht andererseits vielleicht selbst in den restriktiven qumranischen Bestimmungen zur Lebensrettung am Sabbat etwas von dem zum Tragen kommt, was man im NT als Perspektive der Liebe identifizieren möchte? Gerade eine übergreifende Untersuchung wie diese böte die Chance, ein Anlegen von zweierlei Maß bewusst zu vermeiden.

Dass diese Randbemerkungen das Verdienst der Arbeit nicht im geringsten schmälern, dürfte sich freilich verstehen. Sie wird mit vollem Recht ein Standardwerk werden.