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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

983–985

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Boismard, M.-É.

Titel/Untertitel:

En quête du Proto-Luc.

Verlag:

Paris: Gabalda 1997. 364 S. gr. 8 = Études Bibliques, N. S. 37. Kart. fFr 320.-. ISBN 2-85021-100-1.

Rezensent:

Wolfgang Wiefel

Der von M.-É. Boismard, dem in Paris wirkenden Dominikanertheologen vorgelegte Versuch der Rekonstruktion und literargeschichtlich-theologischen Einordnung des sog. Proto-Lukas stellt in dreifacher Hinsicht einen Abschluß dar.

Zunächst führt er das mit der Analyse der lukanischen Kindheitsgeschichte (vgl. Rezension des Vf.s. ThLZ 123, 1998, 380f.) begonnene Projekt zum Lukasevangelium zu Ende.

Sodann darf man in diesem Werk das Finalstadium eines mehrere Bände umfassenden literarisch-analytischen Experiments sehen, das 1984 mit der Rekonstitution und versuchten "Rehabilitation" des westlichen Textes der Acta begann (M.-É. B. et A. Lamouille, Le Texte occidental des actes des apôtres ); mit einem dreibändigen Kommentar zur Apostelgeschichte weitergeführt wurde (Paris 1990); dann mit der schichtenanalytischen Herausarbeitung der Vorstufe des Markusevangeliums (L’évangile de Marc. Sa préhistoire) die synoptische Frage im engeren Sinne einbezog. So wurde literarkritisch wie textgeschichtlich die Voraussetzung zur vorliegenden Lukasanalyse geschaffen.

Schließlich ist zu bedenken, daß B. der letzte noch lebende Repräsentant einer französischen Schule neutestamentlicher Exegeten ist, die von dem gleichfalls im Dominikanerorden verwurzelten M. J. Lagrange (1855-1938) inspiriert wurde und von dem Grundimpuls bestimmt war, dem negativ bewerteten Kritizismus der protestantischen (vorzugsweise deutschen) Liberalen und der innerkatholischen Modernisten die Waffen der Literarkritik, der Textgeschichte und auch der Archäologie gleichsam zu entwinden. Da die unter lehramtlichem römischen Verdikt stehende klassische synoptische Zweiquellentheorie als dessen Eckstein galt, war man unentwegt bemüht, alternative oder vermittelnde Theorien zu produzieren, die freilich weder unter sich harmonierten, noch größere Resonanz fanden (L. Vaganay, B. de Solages, L. Frey, z. T. auch P. Benoit). Auf dieser Linie ist man in vor- und nachkonziliarer Zeit verblieben und stellt sich somit als das Gegenstück zu der vorzugsweise vom Jesuitenorden getragenen Schule von Lyon dar, deren Neutestamentlern (und Patristikern) es um die typologische und sprirituelle Erschließung der Schrift ging. B.s großes literarisch-analytisches Evangelien-Acta-Projekt darf wohl als Schlußstein des kritischen Antimodernismus Lagrangescher Observanz gelten.

Die Analyse der beiden ersten Lukaskapitel hatte zur Herausarbeitung einer Grundschicht geführt, die im Zeichen der Gegenüberstellung des Täufers Johannes und des ihm überlegenen Messias Jesus stand. Es lag methodisch nahe, nun auch Vorstufen der jetzigen Gestalt des Lukasevangeliums in seinem Hauptteil von Kap. 3 an aufzuweisen. Die Rezeption des Markusstoffes war bereits in der früheren Monographie so aufgefaßt worden, daß dem Lukasevangelisten nicht die jetzige Gestalt des Markus, auch nicht die von Matthäus verarbeitete, sondern eine noch ältere ("pre-pre-marcienne") vorlag. Für die Einordnung des verbleibenden Bestands schließt sich B. nicht der traditionellen Gestalt der Proto-Lukas-Hypothese (Proto-Lk = Q + Sonderstoff) an, sondern geht eigene Wege. Methodisch streng, wenn auch auf verschlungenen Pfaden versucht er uns Umfang und Charakter der von ihm mit dem Siglum L versehenen Quelle zu demonstrieren.

Er setzt bei jenem Komplex an, an dem er aufweisen kann, daß L nicht einfach mit dem gestaltenden Evangelisten identisch ist. Die sprachlichen und inhaltliche Differenzen werden gegen Ende (338-341) noch einmal aufgelistet. Zunächst zeigt er uns diese an dem über den Markusstoff hinausgehenden Anteil der "kleinen Apokalypse" (21,5-36) und der Passions-Ostergeschichte (22,1-24,53). Dabei glaubt er drei Redaktionsstufen ausmachen zu können: die von Lukas bearbeitete Markusschicht; die Integration von L; die abschließenden Zutaten des Evangelisten samt einiger eingefaßter Sonderüberlieferung, z. B. die Emmausgeschichte (40-161).

Der zweite Schritt wird mit der Analyse der Feldrede (6,20-49) getan, wo B. zwei Stufen der Q-Rezeption erkennen will: Q1, die von Mt und dem redigierenden Lk rezipiert wurde; Q2, die von L aufgenommen wurde (161-176).

So zugerüstet kann er sich dem Kernbereich der Quelle L als Darstellung der Geschichte des öffentlichen Wirkens Jesu zuwenden. In der vorliegenden Gestalt des Lukas begegnet sie als fortlaufender Faden, der Kapitel 3 bis 19 durchzieht und mit der kleinen Apokalypse und der Passionsgeschichte verknüpft wurde. Der in locker gefügte kleine Einheiten sich gliedernde Bericht führt vom initiatorischen Auftreten in Galiläa nach einem Präludium auf dem Wege zur Heiligen Stadt zum abschließenden Wirken in Jerusalem. Man tut gut, die Analyse der Einzelperikopen (177-260) mit der exakten Textrekonstruktion, die nach guter von B. auch in seinen früheren Bänden geübten Praxis im Schlußteil beigegeben ist (261-323), zu vergleichen.

Wie wir es von den vorausgehenden Werken her gewohnt sind, unternimmt er auch hier gegen Ende eine literargeschichtliche und theologische Einordnung, die das eigentliche Anliegen der kritisch-analytischen Exegese aufscheinen läßt. Der Aufweis eines spezifischen Jesusbildes und einer eigenen Theologie soll den Einwand mangelnder Kohärenz der dargebotenen Quelle entkräften. Jesu Verkündigung bei L ist Entfaltung des Gebotes der Liebe; seine Zuwendung gilt den drei Gruppen der Armen, der Sünder und der Samaritaner; schließlich erscheint er als zurückgewiesener König (roi rejeté), der durch den schuldlos erlittenen Tod hindurch triumphiert (324-332). Die Annahme, daß der größte Teil von L dem Wirken Jesu in Galiläa zuzuordnen ist (einschließlich vieler Stücke, die wir jetzt in Lk 10-17 finden), leitet B. zu der gewagten Vermutung, daß auch in L der Kern einer Verklärungsgeschichte enthalten war (Elemente von 9,28-36b), die den Einheiten über den Weg nach Jerusalem 13,31-35; 9,51-56; 17,11-19 voranging. Der Kern des sog. Reiseberichts wäre schon in L enthalten, seine Ausgestaltung, auch durch Umprägung des vorgegebenen Stoffs, ist erst Werk des Lukas. So ist das Urteil über "Proto-Luc" ganz konsequent: es handelt sich um ein komplettes Evangelium (un évangile complet).

Die literarkritische Einordnung lenkt den Blick über die Grenzen der präparierten Quelle hinaus. Wie L die Entsprechung in der täuferkritischen Grundschicht der Kindheitsgeschichte darstellt, deren Weiterführung sie sei, so erscheint die in früheren Werken über die Apostelgeschichte postulierte Schicht Acta I als Fortsetzung von L. Sie gehören sämtlich in die Zeit vor 70; als Verfasser wird hypothetisch der Chronist der Reisestücke der Acta ins Spiel gebracht. Auf jeden Fall wird an seiner Unterscheidung vom Autor des Evangeliums (und der Acta) festgehalten (333-352).

In der gegenwärtigen Forschung steht diese Sicht des Proto-Lukas-Problems auch innerhalb des frankophonen Raums ganz für sich. Für den sachkundigen Leser ist nicht zu übersehen, daß neben angelsächsischen Exegeten (V. Taylor und F. L. Cripps) zwei ältere deutsche Neutestamentler sich in nachbarschaftlicher Nähe befinden: Paul Feine mit seiner Schrift über die Vorkanonische Überlieferung des Lukas in Evangelium und Apostelgeschichte und Bernhard Weiß mit seiner Untersuchung über die Quellen des Lukasevangeliums. Diese Beiträge liegen jedoch problemgeschichtlich weit zurück und die genannten Exegeten waren eher am Rande der historisch-kritischen Richtung angesiedelt. Heute sind sie fast vergessen, anders als der hier unberücksichtigt gebliebene Adolf Schlatter, der mit seinem "neuen Erzähler" (in: Das Evangelium des Lukas aus seinen Quellen erklärt) gleichfalls ein "komplettes Evangelium" präsentierte, wenn auch methodisch einliniger und theologisch tiefschürfender. Es steht zu befürchten, daß die ganze mühevolle Kleinarbeit der (dominikanischen) École de Paris mit dem endgültigen Abklingen des antimodernistischen Affekts in der Ablage der Forschungsgeschichte verschwindet, während die neutestamentliche Arbeit, die von Lyon ausgegangen ist, dank ihrer spirituellen Tiefe auch künftigen Generationen Anregungen zu geben vermag.