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Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

558–561

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

Karl Barth - Emil Brunner: Briefwechsel 1916-1966. Hrsg. von der Karl Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Leitung Eberhard Busch).

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag 2000. XXVI, 506 S., 2 Taf. 8 = Karl Barth Gesamtausgabe, V: Briefe. Lw. DM 125,-. ISBN 3-290-17202-3.

Rezensent:

Klauspeter Blaser

Ob diese Edition ähnliches Interesse erregen wird wie seinerzeit die Herausgabe der Korrespondenz zwischen Barth und Bultmann und vorher diejenige mit Thurneysen? Heutige Studenten der Theologie kennen Brunner kaum noch und Barth eher vom Hörensagen als durch eigene Beschäftigung; den meisten ist die theologiegeschichtliche Dimension schnuppe. Die Zahl der Menschen, die Barth und Brunner persönlich erlebt haben, wird zusehends kleiner. Aber der Konflikt, der aus den beiden Freunden und großen Theologen deutschsprachiger Zunge Kontrahenten machte, ist darum noch längst nicht passé. Der neue Band der Barth Gesamtausgabe erlaubt den Rückblick auf ein wichtiges Kapitel Theologie im 20. Jh.

Die erwähnten Briefeditionen haben die bisherige Kenntnis der Umbruchjahre wie auch der Kirchenkampfzeit jeweils erweitert und korrigiert. Alle theologiegeschichtlich und systematisch Interessierten werden nun durch die Lektüre des jetzigen Bandes wiederum reich belohnt. Sie alle - und der Rez. schließt sich dabei ein - werden Eberhard Busch und seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen für die hervorragende Ausgabe und kundig-lehrreiche Kommentierung in Einleitung und kritischem Apparat ganz herzlich danken (ich habe nur zwei kleine Fehler gefunden: Gleich zu Beginn, XVII, muss es natürlich Obstalden und nicht Obwalden heißen, und auf 277 ist der Brief Thurneysens auf 1935 anstatt auf 1934 zu datieren).

Die Korrespondenz ist in vielerlei Hinsicht bewegend, ob man nun zu den Zeitgenossen oder zu den Nachgeborenen gehört. Sie setzt allerdings eine minimale Kenntnis des Werdegangs, der historischen Kämpfe im theologischen, spirituellen und politischen Felde und der Charaktere der beiden Theologen voraus. Zum besseren Verständnis ist oft der Briefwechsel Barths mit Thurneysen eine Hilfe, gelegentlich auch R. Bohrens Thurneysenbuch oder die (Auto-)Biographie von H. H. Brunner; die nötigen Verweise finden sich in den Anmerkungen. Obwohl die meisten Originale von Barths Briefen fehlen, finden sich im Archiv doch die Durchschläge. Insgesamt ist ihre Anzahl etwas geringer als diejenige der Briefe seines Gegenparts, auf dessen Schreiben Barth zuweilen via Thurneysen oder vielleicht gar nicht reagierte. Ein Anhang mit 20 Briefen Brunners an und von Personen aus dem Umkreis Barths und Dokumenten erweist sich ebenfalls als nützlich und materialreich; dabei wurde mit gutem Grund der rege Austausch zwischen Brunner und Thurneysen nicht berücksichtigt. Wie auch immer, es ist genügend vorhanden, um von Nostalgie-Gefühlen beschlichen zu werden; die Lektüre des gegenseitigen Austauschs bis in die späten zwanziger Jahre ist oft erregend: Wie wurde da mit innerem und äußerem Feuer um Gotteserkenntnis gerungen - etwas, was man heute in der theologischen Landschaft ganz vergeblich sucht.

Ich möchte den Gewinn, den diese Lektüre bringt, in subjektiver Gewichtung jedoch möglichst objektiv und unter Vermeidung unzeitgemäßer Bemerkungen, in historischer, biographisch-persönlicher und auch in theologischer Hinsicht, zu formulieren versuchen.

In historischer Hinsicht scheinen mir drei Dinge wichtig. Erstens kann man nun viel klarer fassen, was man immer schon wusste: Bei aller gegenseitigen Anerkennung war der Konflikt zwischen Brunner und Barth von allem Anfang an da, insofern sich Brunner dem Idealismusverdacht aussetzte (z. B. 25 ff., 42-53) und die steile Dissensustheologie des Römerbriefs trotz großer Bewunderung nicht mitmachen wollte: "Da sehe ich die Bibel mit viel mehr platonischen Augen an. In der reinen Pflichttreue, im sittlichen Ernst, ja in aller uninteressierten Sachlichkeit und Freude am Mehr als Ich sehe ich einen Funken jenes Unmittelbaren, einen Keim jener gläubigen Objektivität, ein Fünklein Christusliebe und Gottvertrauen" (27; 70-71, 83, 286). Barth verweigerte sich umgekehrt der ungeteilten Abschlachtung Schleiermachers und bekennt: "Nur verwehrt mir ein Daimon, dessen Stimme ich noch nicht in wissenschaftliche Formeln übersetzen kann, dir zu folgen, weder in der Unternehmung an sich ... noch in der Ausführung" (114). In dieser Hinsicht waren "Natur und Gnade" und das "Nein" Barths von 1934 (256 ff.) nur die logische Konsequenz aus den Positionen, die sich erst jetzt und erst noch unter bestimmten Zeitumständen auf beiden Seiten profilierten und explizierten. Zweitens geht aus dem Briefwechsel hervor, dass weniger die erwähnten Schriften von 1934 den Schnitt brachten, sondern eher Barths konsquentes Nein zur Oxfordbewegung als Erneuerung der Kirche (237, 263, 288-297, 445 ff.). In dieser Hinsicht übertraf Brunners Enttäuschung und Traurigkeit womöglich noch die vorangehende. Dass sich, drittens, ein weiterer Konflikt an der Haltung zum Ost-West-Konflikt und dem Kalten Krieg ergab (347 ff.), ist bekannt. Brunners Verdacht, Barth lasse die Klarheit vermissen, die ihn zur Haltung gegenüber Hitler-Deutschland veranlasst hatte und messe das Phänomen des Totalitarismus mit ungleichen Ellen, trug weiter zu der mit Händen greifbaren Abkühlung im beiderseitigen Verhältnis bei.

Die persönlich biographische Seite hängt mit dem eben Dargelegten eng zusammen. Ob es sich, wie Busch in der Einleitung bemerkt, um die Tragödie einer Freundschaft handelte? Ob die beiden nicht voneinander loskommen konnten? Das mag für Brunner gewiss stimmen. Bei Barth hat man das Gefühl - und Brunner spricht es ja gelegentlich auch aus -, dass ihm sein Gegenpart zwar nicht gerade egal war, dass er aber auch ohne ihn hat leben können. Doch davon einmal abgesehen: Es ist immerhin erstaunlich, dass der Kontakt zwar mit der Zeit spärlicher wurde, aber nie ganz abgebrochen ist und immer wieder, oft veranlasst durch praktische Fragen, wieder aufgenommen wurde.

Nach dem Nein von 1934 gab es sogar ein gutes Gespräch, von dem Brunner meint, es sei das erste Mal, dass ihm Barth wirklich zugehört habe und auf ihn eingegangen sei (286). Auch nach dem politischen Schlagabtausch holte der Zürcher den Basler zur teilweisen Lehrstuhlvertretung an die Limmat (369-373). Umgekehrt hielt Brunner einen Vortrag in Basel, den auch Barth besuchte (374-377). Die kumene brachte es mit sich, dass sich die beiden etwas auseinandergekommenen Freunde auch nach Amsterdam (1948) wieder begegneten, z. B. bei der Vorbereitung von Evanston. Auch sonst ist von manchen frühen und von einigen späteren Begegnungen die Rede, die jeweils auf die Initiative des einen oder des anderen (meistens Brunners) zustande kamen und von denen in den Briefen höchstens ein Echo hallt oder auch gar nichts steht. Weshalb, so frage ich mich, musste 1960 ein Treffen durch Dr. Hesselink vermittelt werden, als wären sich beide Kontrahenten nie mehr unter die Augen gekommen und Erzfeinde geworden? War es die Ungarnkrise von 1956, die das Ihre beitrug? Oder bietet der Briefwechsel nur die relativ freundliche Seite eines mündlich geführten Krieges, so dass er eigentlich gar nicht zum Nennwert zu nehmen ist? Jedenfalls beleuchtet er offenbar nur gewisse Seiten des Streits unter Freunden. Was zu lesen steht, relativiert m. E. aber auch ein wenig die bereits früher publizierten Briefe Barths an den sterbenden Brunner, die ja wirklich an Bewegendem nicht zu überbieten sind; sie hatten doch auch schon ihre Wegbereiter ab 1945, wenn Barth bekennt, das Nein lasse ihn jetzt eher kalt (336 ff.), oder mit Brunner klar den Konflikt benennt (331), ohne darauf zu verzichten, Brunner stets und ehrlich als "lieben Freund" anzureden und mit "Dein Karl Barth" zu unterschreiben. Die gegenseitige Anteilnahme an freudigen und traurigen Ereignissen in der Familie weist in eine ähnliche Richtung.

Was nun die speziell theologische Seite des Verhältnisses betrifft, so ist es natürlich im Zeitalter des postmodernen anything goes und des komplementären Yin-Yang-Denkens schwer plausibel zu machen, inwiefern zwischen Barth und Brunner um theologische Grundfragen gestritten wurde, die für die gesamte Theologie und ihre Stellung in der Gesellschaft Konsequenzen haben. Das heftige Ringen um Gotteserkenntnis bringt Brunner, jedoch auch Barth, oftmals in existentielle Bedrängnis: "Sie (Br.) fliehen - vor Wahrheiten, die nur abgesehen von Gott Wahrheiten sind -, und ich fliehe sehr oft, immer wieder mit Ihnen. Aber nichtwahr, wir wollen doch glauben, und wollen nicht fliehen! Also: Tun wir das Eine und lassen wir das Andere" (12, 7-14, 87 ff.).

Mit der Zeit verschiebt sich diese Existenzfrage und wird zum Streit um die rechte Gotteserkenntnis. Dies ist der Punkt, um den sich die Auseinandersetzung von 1934 dreht. Zunächst eine Frage der Calvininterpretation und des Streits um Stellen (hier sind besonders die Briefe an und von Peter Barth beizuziehen, 416-444), verlagert sich die Auseinandersetzung letztlich auf die Stellung der Natürlichen Theologie im christlichen Bekenntnis. Die Sache wird schon von frühester Zeit an dadurch kompliziert, dass Brunner wiederholt bekennt, mit Barth auf weiten Strecken einverstanden zu sein und immer wieder von ihm lernen will, dessen Lehre jedoch nicht als der Bibel und der Reformation entsprechend verstehen kann. Er beharrt auf jenem berühmten Anknüpfungs-Punkt der formalen Offenbarungsmächtigkeit bzw. Wortmächtigkeit des Menschen und also der Notwendigkeit einer christlichen, ja christologischen theologia naturalis. Sie bilde nämlich, so tönt es aus Zürich, die Voraussetzung dafür, dass man überhaupt in der Weise Barths reden könne, d. h. dem Menschen jedwede Einflussnahme auf Gottes Offenbarung abschneiden müsse, weil er sich diese immer schon verbaut hat. Was Brunner für eine unabdingbare reformatorische Erkenntnis und systematische Voraussetzung hielt, erschien Barth vielmehr als eine banale Selbstverständlichkeit (253) oder aber als der berühmte kleine Finger, dem bald die ganze Hand Natürlicher Theologie folgt. Über dieser "Konsequenzmacherei" Barths (241, 281 f., allerdings ein im Zusammenhang mit der Gruppenbewegung ausgesprochener Seufzer) verzweifelte Brunner und hielt die Entweder - Oder-Folgerungen (tertium non datur) für ein Missverständnis, wie er sich überhaupt im ganzen Streit immer wieder missverstanden fühlte (z. B. 283, 443 etc.).

Dieselbe Argumentationsfigur begegnet bekanntlich in den im Terminus "Eristik" zusammengefassten Anliegen. Brunner meinte damit natürlich mehr als platte Apologetik, sondern "ein Aufdecken der Illusionen vom Evangelium her, aber freilich ein solches, das nicht schon den Glauben des anderen voraussetzt, sondern in dem sich das Wegräumen von Glaubenshindernissen vollzieht" (175); für den theologischen Diskurs ist also die anthropologische und gesellschaftliche Situation als Folie mit zu bedenken. Barths Nein dazu kommt womöglich im Zusammenhang mit der Ekklesiologie noch heftiger zum Ausdruck, wenn literarisch auch weniger belegt; Psychologie und Gruppendynamik und der unterschwellige politisch naive Pietismus sind Gegenstand seines Zorns; Konsequenzen auf Grund praktischer Erfahrungen und Beobachtungen stehen hier mehr zur Debatte als bibelhermeneutische Überlegungen. Wenn schließlich Barth seinem Freund entgegenhält, das politische Zeugnis müsse der Situation entsprechen und "Theologische Existenz" heute sei nach dem Krieg nicht mehr dieselbe wie zur Zeit des Nationalsozialismus (357 ff.), dann redet er einem kontextuellen Grundsatz das Wort, der möglicherweise auch auf die Relevanz Barthscher Positionen für heutige, ihm damals noch unbekannte Probleme Anwendung finden könnte, besonders im ethischen Bereich. Sind wir auch in Bezug auf das Offenbarungsproblem immer noch in derselben Lage wie Barth? Würde er heute vielleicht sogar Brunner Recht geben? Wer weiß!?

Als heutiger Leser ist man hin und her gerissen. Sachlich hatte Barth wohl recht, auch wenn es Brunner zugegebenermaßen doch nicht viel anders meinte. Letzterer geißelt zu Recht, meine ich, die Tendenz, nicht ganz linientreue Meinungen sofort als Verrat am Evangelium bzw. an Christus zu taxieren (268.333. 475 f.). Hätte die Kirche nicht doch auch davon profitiert, wenn sie von der Barthschen Theologie auch als Gruppe und Gemeinschaftsleben anerkannt worden wäre? Es ist schließlich nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn in diesem Lager die Ökumene schon vor 1948 aktiv unterstützt worden wäre! An Barths Maßstäben gemessen sind wir heute alle irgendwo Verräter an der Sache Christi. Ich bin bereit, mich selbst mit diesem potentiellen Vorhalt auseinanderzusetzen, jedoch nicht, ihn einfach auf mein Gegenüber anzuwenden.

Der Bericht kann nur einen blassen Schimmer von den Höhen und Tiefen des damaligen Streits um die Erkenntnis Gottes geben. Theologische Gespräche, jedenfalls diesen Inhalts und dieser Leidenschaft, sind heute ja mehr oder weniger der profilierungssüchtigen Fragestunde im Anschluss an Vorträge auf Kongressen gewichen, wenn sie nicht gänzlich durch Marketing-Strategien ersetzt worden sind. Diese Art von Eristik hätte sich auch Emil Brunner nicht träumen lassen. So einseitig der Reflexion und der Kontroverse verpflichtet wie damals bräuchte das theologische Gespräch heute darum noch nicht zu sein. Wahr ist, dass eine Belanglosigkeit um sich greift, die letztlich alle irgendwie mit in ihren Strudel reißt. Für Barth und Brunner bedeutet sie den Ruin der Theologie. Darum täte uns wohl ein Quentchen "Konsequenzmacherei" not!