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Ausgabe:

Mai/2001

Spalte:

544–546

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Titel/Untertitel:

Lutherjahrbuch. Organ der internationalen Lutherforschung. Im Auftrag der Luther-Gesellschaft hrsg. von H. Junghans. 66. Jahrgang 1999. Glaube und Bildung. Faith and Culture. Referate und Berichte des Neunten Internationalen Kongresses für Lutherforschung Heidelberg, 17.-23. August 1997.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 392 S. 8. Geb. DM 98,-. ISBN 3-525-87431-6.

Rezensent:

Ernst Koch

Der Band ist gänzlich der Dokumentation des 9. Internationalen Kongresses für Lutherforschung gewidmet, der vom 17. bis 23. August 1997 unter dem Thema "Glaube und Bildung" in Heidelberg tagte. Die am Schluss gebotene Liste der mehr als 160 Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer zeigt einerseits die Präsenz aller Erdteile, andererseits das mit einem Drittel starke Übergewicht der Teilnehmerzahl aus Deutschland. An dieser Stelle können lediglich die 12 Plenarvorträge des Kongresses vorgestellt werden.

Sie werden mit dem Vortrag eröffnet, den Gerhard Müller als Präsident des Kongresses über das Kongressthema gehalten hat. Er geht dem Zusammenhang von Glaube und Bildung nach, stellt an Luthers Adelsschrift von 1520 die Unentbehrlichkeit des biblischen Wortes für den Weg von der Erkenntnis zur Einsicht dar, widmet sich Melanchthons Beitrag zum Thema unter den Leitbegriffen Frömmigkeit und Tugend und bietet einen aktuellen Ausblick ("Gebildeter Glaube und religiöse Bildung").

Christoph Gestrich ("Luther und Melanchthon in der Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts") widmet sich im Anschluss an die Feststellung, dass die Theologie im 20. Jh. Neues lediglich aus Luther geschöpft und Melanchthon "überwiegend negativ" gesehen hat, der Faszination, die Melanchthon im 19. Jh. ausgeübt hat, um schließlich doch die fast durchgängige Zwiespältigkeit der Beurteilung Melanchthons im Jahrhundert Ritschls zu vermerken. Im 20. Jh. ging es dann darum, dass Melanchthon immer wieder an Luther gemessen wurde. Als "noch kaum begriffenes Phänomen" wertet Gestrich den Einfluss Luthers bzw. des Lutherbildes auf die Systematische Theologie, wofür vor allem Friedrich Gogarten steht. Für die Zukunft mahnt der Beitrag die ökumenisch zu begreifende Doppelaufgabe der Theologie an, das Evangelium auf eine gegebene Zeit und Situation hin auszulegen und diese Auslegungen zu prüfen und mit der früheren Theologie der Christenheit abzugleichen. Melanchthon könnte dann wichtig werden, sofern er lehren kann, wie weltliche ratio angemessen in die innerkirchlichen Verständigungsprozesse einzubringen ist. Abschließende Erwägungen des Vortrags betreffen Änderungen, die sich im Vergleich mit dem 16. Jh. ergeben haben und zu akzeptieren sind, und welche Folgerungen daraus in Verzicht und Neugewinn zu ziehen sind.

Der Beitrag von Timothy J. Wengert "Melanchthon and Luther" bietet eine quellengesättigte historische Darstellung der Beziehungen der beiden Personen zueinander sowie ihrer Bibelinterpretationen und des Verhältnisses ihrer Arbeiten zu Rechtfertigungslehre und Sakramentstheologie.

"Melanchthons Beziehungen zu Südwestdeutschland" werden, ausgehend von der Herkunft des Wittenberger Professors, von Eike Wolgast untersucht, wobei vor allem nach dem geistig-theologischen und kirchenorganisatorischen Einfluss auf Grund seiner persönlichen Beziehungen gefragt wird, den er ausgeübt hat. Als Zäsur werden die Jahre 1546 und 1550 wahrgenommen.

Helmar Junghans versteht seinen Beitrag "Anthropologische Vorstellungen unter Renaissancehumanisten" u. a. als Korrektur der Behauptung, der Humanismus habe "das antike Menschenbild" erneuern wollen, und geht drei Themen nach: dem appetitus naturalis, der Willensfreiheit und der Unsterblichkeit der Seele. Als Ergebnis stellt sich heraus: "... es ist unmöglich, für einzelne anthropologische Fragen jeweils die humanistische Antwort zu ermitteln oder gar das humanistische Menschenbild zu skizzieren". Dies ist auch für die Ermittlung von Quellen zu Melanchthons Anthropologie zu beherzigen.

Oswald Bayer begibt sich mit dem Thema "Freiheit? Das Verständnis des Menschen bei Luther und Melanchthon im Vergleich" erneut in das Gespräch mit den beiden Wittenbergern und ihren anthropologischen Ansätzen. Er macht auf Melanchthons Inkonsequenz aufmerksam, gleichzeitig an der Heilsgewissheit festhalten und die Mitwirkung des menschlichen Willens am Rechtfertigungsvorgang sichern zu wollen. Denn Sigmund Freuds Erkenntnis, "daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus", ist nicht einmal eine Erkenntnis, die der Theologie bedarf. Bayer betont andererseits, dass dann auch die eigenverantwortliche Arbeit des Menschen an der Aufhellung seines Unbewussten mit Hilfe der Psychotherapie eine Arbeit sein kann, die im Glauben getan wird, "weil der menschliche Gott in sein Eigentum gekommen ist und es deshalb keine Kränkung, sondern die herrlichste Befreiung ist, nicht selbst Herr im eigenen Hause zu sein".

"Beten als Wahrnehmung der Wirklichkeit des Menschen, wie Luther es lehrte und lebte" betitelt Gerhard Ebeling als Ehrenpräsident des Kongresses den frei gewählten Gegenstand seines Vortrags. Er verfolgt mit einer systematisch-theologischen Orientierung, die er durch Zeugnisse aus Luthers Gebetspraxis ergänzt, vier Fragen, die der Ermächtigung und Nötigung zum Beten sowie der Wirkung des Betens und seiner Sprache nachgehen.

Das Thema "Glaube, Bildung und Gemeinschaft bei Luther" wird von Tuomo Mannermaa im Lichte der von ihm wiederholt behandelten These von der Theosis im Sinne der Teilhabe an der Seinswirklichkeit Gottes als Ziel der Rechtfertigung nach Luther entfaltet. Dieser Ansatz wird in jeweils eigenen Beiträgen als Antworten auf Mannermaa durch Eric W. Gritsch gewürdigt, von Karl-Heinz zur Mühlen jedoch kritisiert, weil "ein Luthers Theologie korrespondierendes ontologisches Modell die Seinsweise des Wortes, des konkreten Geistwortes Gottes hat" und weder auf scholastische Substanzontologie noch auf Anleihen bei der neuplatonischen Ontologie zurückgreifen darf.

Zum Thema "The Significance of Humanist Educational Methods of Reformation Theology" äußert sich James M. Kittelson. Er geht von zwei Korrekturen aus, die die Humanismusforschung des 20. Jh.s gebracht hat: der Zurückweisung der einfachen Identifizierung von Humanismus und Freiheit im Sinne der Neuzeit und der Zurückweisung der Gegensätzlichkeit von Humanismus und Konkordienluthertum. Daran anschließend verfolgt er die Bedeutung der formalen Bildungsmethoden des Humanismus, der humanistischen Loci-Methodik und der humanistischen Bibelauslegung für die Reformationsbewegung bis in die zweite Hälfte des 16. Jh.s.

Einen weit gespannten, dennoch auf eine Auswahl angewiesenen Überblick bietet Heinz Scheible unter dem Thema "Die Reformation von Schule und Universität in der Reformationszeit". Er macht auf die Gefahr einer Beschränkung des Blicks auf Wittenberg und seiner Originalität aufmerksam.

Die Berichte über die Arbeit in den 18 Seminaren, die den Kongress begleiteten, zeigen, dass sie sich nicht nur einer großen Themenbreite zuwandten, sondern auch sehr unterschiedlicher Methoden bedienten, die von der Arbeit an Texten bis zur Diskussion von Referaten reichten. Nach wie vor kam demnach der Beschäftigung mit Luthers Frühwerk bis 1525 ein gewisser Schwerpunkt zu. Dass über die Reihe der Lutherforschungskongresse hin manche Themen immer wieder auftauchen, dürfte sowohl im Wechsel der Forschergenerationen wie in der Verschiebung aktueller Aspekte begründet sein.