Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2001

Spalte:

110–112

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Wunderlich, Reinhard

Titel/Untertitel:

Pluralität als religionspädagogische Herausforderung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 409 S. gr.8 = Arbeiten zur Religionspädagogik, 14 Kart. DM 98,-. ISBN 3-525-61464-0.

Rezensent:

Reinhold Mokrosch

Die Pluralismusdebatte boomt - auch in der Religionspädagogik. Seit W. Welsch's grundlegendem Entwurf zur "postmodernen Moderne" (2. Aufl. 1988) mit dem Konzept einer ,transversalen Vernunft', welche Absolutes als Partikulares, Unbedingtes als Bedingtes entlarven und eine Gleichzeitigkeit vom Grenzbewusstsein und Ganzheitssorge als Doppelstruktur des Pluralismus entdecken soll, fragen auch Religionspädagogen verstärkt, ob Pluralismus normativ und nicht nur faktisch zur christlichen Erziehung hinzugehöre. Dazu bemühen sie auch die transversale Vernunft. Die religionspädagogischen Beiträge im Dokumentationsband des 8. Europäischen Theologenkongresses 1993 in Wien über ,Pluralismus und Identität' und die beiden Bände von K. E. Nipkow ,Moralpädagogik und Religionspädagogik im Pluralismus' belegen das eindrucksvoll.

In diese Diskussion zur Frage der Normativität des Pluralismus für Religionspädagogik, Theologie und christlichen Glauben reiht sich auch R. Wunderlich mit seiner Bamberger Habilitationsschrift ein und beantwortet sie kompetent, ja z. T. brillant auf 391 Seiten - natürlich positiv.

Seine Untersuchung ist luzid aufgebaut: Er untersucht Pluralität (1. Kap.) als ,Signatur unserer Zeit', (2. Kap.) in ,neueren ev. Religonspädagogikkonzepten', (3. Kap.) als ,normativen Aspekt christlicher Theologie', (4. Kap.) als ,normativen Aspekt der Pädagogik' und (5. Kap.) als ,Chance und Charme christlichen Religionsunterrichts heute'. Mit inhaltlichen Fragen des Pluralismus in und zwischen Weltreligionen oder Weltanschauungen befasst er sich nicht. Ihm geht es allein um den theologisch-religionspädagogischen Nachweis, dass Pluralität ein propriales Kriterium christlichen Glaubens sei. Man mag das bedauern oder begrüßen. Die Fülle seines Materials ließ keine andere Wahl zu. Das Buch sagt, dass und warum, nicht aber wie Religionsunterricht pluralitätsoffen gestaltet werden soll. Ich halte diese Selbstbeschränkung für einen Vor- und keinen Nachteil.

Zu den fünf Kapiteln seien kurze Hinweise gegeben: Allgemeine - noch nicht spezifisch christliche - Kriterien für eine pluralitätsrelevante Religionspädagogik gewinnt der Vf. schon im 1. Kap. aus seiner präzisen Welsch-Analyse: Selbstbegrenzungs-, Vorläufigkeits-, Endlichkeits- und Partikularitätsbewusstsein und vor allem Abschied von Homogenitäts-, Eindeutigkeits- und Einheitssehnsüchten seien die Tugenden einer transversalen religionspädagogischen Vernunft.

An ihnen misst er im 2. Kap. die Religionspädagogikkonzepte K. E. Nipkows, G. Ottos und H. Schmidts. Zugegeben: Er geht kritisch, teils rigide mit diesen Nestoren der Religionspädagogik um, wenn er ihnen allen bescheinigt, Pluralität als konstruktive Norm christlicher Religionspädagogik nicht erkannt und nicht begründet zu haben. Aber seine scharfsinnige Kritik trifft zu: Nipkow habe in seinen Werken von 1975 und 1990 zwar alle Pluralismus-Symptome als religionspädagogische Herausforderung beschrieben, sie aber nicht als Norm der Religionspädagogik ernst genommen (was Nipkow in seinem erst 1998, also nach Wunderlich, erschienenen o. g. Doppelwerk Bd. 1, 26, Bd. 2, 14.33 bestätigt, aber in diesem Doppelband reichlichst nachgeholt hat). Otto habe 1986 und 1988 freilich eine pluralitätsoffene ,allgemeine' Religionspädagogik entworfen, indem er alle halbwegs religiösen Phänomene unter ,Religion' gefasst habe; aber weil er die normative Pluralität christlichen Glaubens nicht erkannt habe, konnte er keinen christlichen, sondern nur einen allgemeinen Religionsunterricht im Pluralismus wagen. Und Schmidt sei 1982-84 dem Pluralismus nur für den Ethik-, nicht aber für den Religionsunterricht gerecht geworden, weil er religiöse Pluralität in Konkurrenz zum Evangelium gesehen habe. Die Kritik trifft zu, freilich nur vom Standpunkt eines pluralitätsoffenen christlichen Glaubens aus.

Spezifisch christliche Kriterien für eine pluralitätsrelevante Religionspädagogik eruiert W. im 3. Kap. aus W. Pannenbergs Systematischer und Trutz Rendtorffs ethischer Theologie. Wieder kritisiert er nur halbplurale theologische Ansätze: M. Honecker stelle nur faktische Normativität fest; H. M. Barth verabsolutiere Luthers particulae exclusivae; S. M. Daecke unterliege dem Missverständnis, dass plurale Positionen einer einheitlichen Wirklichkeit dienten; und die pluralistischen Religionstheologen hätten vor lauter Suche nach Einheit den Blick für Vielheit verloren. Wirklich pluralitätsoffen sei allein Pannenbergs trinitarisches Selbstunterscheidungskonzept: Christus sei aus der Trinität herausgetreten, um endlicher, begrenzter, vom Vater unterschiedener Mensch zu werden und damit die Pluralität alles Endlichen und Begrenzten zu begründen. Seine Selbstbegrenzung gegenüber Gott sei zum Urbild und Modell christlichen Lebens im Pluralismus geworden. Der göttliche Geist fördere durch seine Selbstunterscheidung von Gott diese Vielfalt und durchwalte sie zugleich zu geistlicher Einheit. Bei Rendtorff findet W. Pluralität schließlich trinitarisch-ethisch begründet: Leben sei von Gott geschenkte Gabe, von Christus ermöglichte Aufgabe und vom Geist unterstützte Reflexion in der Pluralität. Wer in dieser Weise, so der Vf., an den dreieinigen Gott glaube, habe Grenzbewusstsein und Ganzheitsvertrauen und könne damit im Pluralismus leben.

Gleichermaßen versucht W. im 4. Kap. Pluralität als Konstituens der Pädagogik zu begründen. Sein Durchmarsch durch die Geschichte der Pädagogik ist großenteils gelungen. Besonders seine D. Benner- und J. Diederich-Interpretationen zeigen Eigenständigkeit. So kommt er auch hier zu dem Resümee: "Der normative Aspekt von Pluralität zeigt sich also (in der Geschichte der Pädagogik, R. M.) in der durchgängigen Anwendung des Kriteriums der Selbstbegrenzung" (326).

Im Schlusskap. kündigt W. zwar praktische Konsequenzen für einen pluralitätsoffenen Religionsunterricht an, bleibt aber- naturgemäß - im Theoretischen stecken. Aber seine Theorie inspiriert: Christliche Erzieher könnten nur durch Selbstbegrenzung ihrer Gegenstandsfelder und ihrer Erkenntnisfähigkeit wirklich pluralitätsoffen werden (hier holt er Nipkow, Otto und Schmidt wieder positiv herein). Sie sollten die "Lebenskunst akzeptierter Endlichkeit" (368) durch Zweifel und Vertrauen erlernen und sich dabei an den zweifelnden und vertrauenden Christus halten. So könnten sie die christliche Tradition in einen fachübergreifenden, interkulturellen, interreligiösen, kompensatorischen und ökumenischen Religionsunterricht proprial einbringen. W.s Ausführungen zum ökumenischen bzw. konfessionell-kooperativen Unterricht sollte allen Kirchenleitungen zur Pflichtlektüre auferlegt werden. Sie überzeugen. - Weniger überzeugen dagegen die didaktischen und methodischen Aufforderungen, "im Spielraum Gottes" (385) Glaube "auf Probe" (380) zu unterrichten und so einen "Vorgeschmack auf Ewigkeit zu bereiten" (381). Warum hebt der gestandene Gymnasiallehrer W. derart ab?

Das Buch überzeugt. Allerdings nötigt die komplizierte, abstrakte Sprache des Verfassers dem Leser viel Geduld ab. Vieles hätte auf weniger Seiten klarer gesagt werden können. Trotzdem: Das Buch gehört zur Standardliteratur der Pluralitätsdebatte und ist jedem Religionspädagogen zu empfehlen.