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Ausgabe:

Dezember/2000

Spalte:

1322 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Eibach, Ulrich

Titel/Untertitel:

Sterbehilfe - Tötung aus Mitleid? Euthanasie und "lebensunwertes" Leben. 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl.

Verlag:

Wuppertal: Brockhaus 1999. 272 S. 8 = TVG-Orientierung. Kart. DM 44,80. ISBN 3-417-29083-X.

Rezensent:

Hans-Werner Scheuing

Als langjähriger Krankenhausseelsorger und Professor für Systematische Theologie/Ethik ist Ulrich Eibach einer der besten Sachkenner der Euthanasie-Debatte. Die neue Stoßrichtung seines Buches über die Sterbehilfe spiegelt die Veränderung der gesellschaftlichen Situation. In der 1. Auflage von 1988 ging es ihm vor allem um die ethische Rechtfertigung des Verzichts auf lebensverlängernde Maßnahmen. Die 1998 erschienene 2. Auflage hat er völlig neu bearbeitet und erweitert. Sein Blick richtet sich nun besonders "auf neue, zunächst versteckte Formen der ,Euthanasie'". Er behandelt das Thema in drei großen Abschnitten (Geschichte der ,Euthanasie', Theologische Grundlage, Ethische Beurteilung), wobei der Schwerpunkt auf der Entwicklung ethischer Kriterien liegt. Im Anhang werden die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung dokumentiert und mit einem kritischen Kommentar versehen.

Beim Rückblick auf die Geschichte der "Euthanasie" stellt er eindeutiges "Versagen von Theologie und Kirche" fest. Mit dem um die Jahrhundertwende entstehenden Sozialdarwinismus habe man sich kaum auseinandergesetzt. Bei der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" in der NS-Zeit sei dann nur konsequent ausgeführt worden, was lange zuvor gelehrt wurde. Es verwundere nicht, dass es von christlicher Seite kaum Widerstand dagegen gab. Widerstand - so wäre zu ergänzen - gab es erst recht nicht gegen das ökonomische Programm des NS-Regimes zur Einsparung von Finanzmitteln im Sozialbereich für den Aufbau einer Kriegswirtschaft, dessen Höhepunkt der Massenmord an Menschen mit Behinderung war.

Eine Gefährdung des Lebens in der heutigen Zeit sieht Eibach darin, dass gleichzeitig zur "ökonomischen Krise im Gesundheits- und Sozialwesen" eine philosophische und öffentliche Debatte stattfindet über Lebenswert und Lebensrecht von Menschen mit schwerer Behinderung. Der neuen Bioethik, die die Unterscheidung zwischen Person (mit Selbstbewusstsein und geistigen Fähigkeiten) und Mensch (nur Mitglied der Gattung, ohne Menschenwürde und Lebensrecht) lehrt, setzt er eine Theologie entgegen, die zwischen Person und Persönlichkeit unterscheidet. Die Personwürde sei allen Menschen unverlierbar von Gott zugesprochen, die Persönlichkeit hingegen könne durch Behinderung oder Krankheit zerstört werden. Zu einem sinnvollen Leben als Persönlichkeit gehörten Selbstbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit, Eigentätigkeit und Schmerzfreiheit. Dies sind für ihn zugleich Kriterien zur Begrenzung medizinischer Behandlung, die allein auf die Persönlichkeit ausgerichtet sei. Drei Beispiele sollen hier die Anwendung des Ansatzes auf konkrete Probleme verdeutlichen:

Trotz vorausgehender Kritik verabschiedete die Bundesärztekammer im September 1998 die "Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung", die u. a. das Lebensrecht schwerstbehinderter Neugeborener in Frage stellen und die Sterbebegleitung ausdehnen auf den Umgang mit nicht sterbenden Menschen. In seinem Kommentar fordert E. zu Recht eine Basisbetreuung (Befriedigung der Grundbedürfnisse, kein Entzug von Flüssigkeit und Nahrung) für alle Menschen. Leider fehlt der grundsätzliche Protest dagegen, dass eine Standesorganisation sich hier allein anmaßt, über das Lebensrecht von Menschen zu entscheiden.

Patientenverfügungen, die gegenwärtig in zahlreichen Fassungen im Umlauf sind, vemitteln den Eindruck, Menschen könnten durch Unterzeichnung eines Formulars ihre Selbstbestimmung im Sterben sichern. Nach E. ist Sterben jedoch gerade die Aufgabe der Selbstbestimmung, die "Entmächtigung des Ich". Wenn beispielsweise der Verzicht auf Behandlung bei schweren Hirnschäden zur verbindlichen Richtlinie werde, würde dies nach seiner Auffassung zwangsläufig zu einer "nach sozialökonomischen Maßstäben ,gelenkten Sterblichkeit'" führen. Leider nimmt E. seine Kritik weitgehend wieder zurück, wenn er zur Abfassung "sittlich verantwortbarer Patientenverfügungen" ermutigt und sie als "wesentliche Entscheidungshilfen" einstuft.

Mit dem Hinweis auf den "Hirntod" wurde im Transplantationsgesetz erstmals ein zentraler Begriff der neuen Bioethik in ein deutsches Gesetz aufgenommen. E. weist darauf hin, dass bei der Organentnahme der Organismus "instrumentalisiert" werde und dass aus christlicher Sicht "die Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Tod des Menschen problematisch" sei. Der Begriff "Hirntod" sei nur ein "definitorischer Akt", mit dem man das Problem aus der Welt schaffen wollte. Nach E. gibt es deshalb auch keine moralische Verpflichtung zur Organspende. Leider nennt er sie dennoch "eine mit dem Gebot der Nächstenliebe übereinstimmende und in ihren Zielen und Erfolgen heute meist sinnvolle und zu empfehlende Maßnahme". Selbst eine Organentnahme allein auf Grund der Zustimmung von Angehörigen sei "ethisch voll berechtigt".

E.s Buch sind viele Leser zu wünschen. Es bringt die neuen Formen der Euthanasie in die öffentliche Diskussion. Auch wenn man sich manchmal ein konsequenteres Durchhalten der Kritik gewünscht hätte, macht er den Leser doch aufmerksam auf eine der grundlegenden Herausforderungen unserer Zeit, in der viele Errungenschaften des Sozialstaats und das Lebensrecht vieler Menschen wieder in Frage gestellt werden. In Theologie und Kirche hat diese notwendige Debatte gerade erst begonnen. E.s Hinweis, "daß alte und todkranke Menschen, also die Betroffenen, überwiegend alle Formen der ,Euthanasie' ablehnen", könnte die entscheidende Wende bringen. Es ist höchste Zeit, dass hier die Betroffenen selbst zu Wort kommen.