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Ausgabe:

November/2000

Spalte:

1180–1182

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bultmann, Christoph

Titel/Untertitel:

Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. X, 222 S. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 110. Lw. DM 128.-. ISBN 3-16-147164-4.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Mit dieser ideengeschichtlichen Studie zu Herders Genesis-Interpretation von 1774/76 ist B. ein Paradebeispiel theologischer Wissenschaftsgeschichtsschreibung geglückt: Seine sorgsam aus den Quellen gearbeitete Analyse erbringt für die Herder-Forschung, die Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft und die theologische Aufklärungsforschung einen gleichermaßen wesentlichen Erkenntnisgewinn. Die nüchterne Klarheit und Distinktheit, in der B. seinen Gegenstand zur Entfaltung bringt, erinnert an das aufklärerische Erkenntnisideal, und dass sich die Darstellung ausgerechnet in sechs Arbeitsschritte und eine meditative Zusammenschau gliedert, wird bei einer Arbeit zur Rezeption der biblischen Urgeschiche zumindest ein schöner, sinnreicher Zufall genannt werden dürfen.

Die "Einleitung" erschließt zunächst das Verständnis dafür, dass Herder, dessen Einfluss auf die eigentliche Fachwissenschaft v. a. durch J. G. Eichhorn vermittelt wurde (6), der Krise, in die die alttestamentliche Exegese im 18. Jh. geraten war (Autoritätsverlust der biblischen Tradition, Herausforderung durch die philosophische Religionskritik), dadurch zu begegnen vermochte, dass er das philosophische Problem der Ursprungsfrage "durch die Interpretation von Gen 1 als urzeitlicher Poesie" zu lösen suchte (3) und damit das historische Denken als die gemeinsame Basis von Religionskritik und biblischer Exegese in Anspruch nahm (4). Indem B. die theologischen Schriften Herders einer konsequent theologischen Lektüre unterzieht, zeigt er zugleich, dass Herders "exegetischer Sinn für die ,Schönheiten des Alten Testaments' keineswegs theologisch substanzlos ist" (16).

Die ersten drei Kapitel erarbeiten die wesentlichen "Voraussetzungen für Herders Exegese der Genesis". Kap. 1 legt die Vorarbeiten frei, die Herder mit seinen frühen poetologischen Studien für seine spätere Beschäftigung mit der biblischen Urgeschichte erbracht hat. Bereits in den frühesten Manuskripten votierte Herder "gegen die Theorie einer kulturverbindenden Urtradition" (21). Und das Rigaer Manuskript über Gen 1-11 (1768/69) verwahrte sich - mit J. D. Michaelis - gegen eine kanonisch-dogmatische Vereinnahmung der Urgeschichte, blieb freilich mit seinem Begriff des "Unterrichts Gottes", der sich in den auf einen geschichtlichen Grund zurückführenden poetischen Texten der Urgeschichte überliefert habe, selbst noch dem klassisch-dogmatischen Offenbarungsbegriff verhaftet; erst mit der "Älteste[n] Urkunde des Menschengeschlechts" (1774/ 76) sei Herder die Wiedergewinnung der religionsphilosophischen Dimension für die biblische Urgeschichte geglückt (48).

Kap. 2 bietet eine pointierte Übersicht zur Genesis-Interpretation der frühen Hebraistik. Der Londoner Polyglotte von 1657 war H. Grotius' Schrift "De veritate Religionis Christianae" beigegeben, die die Genesis als den Beginn des Geschichtskontinuums (und also nicht mehr als bloße Typologie) deutete (52). Th. Burnet (1692) unterstrich den poetischen, nicht-lehrhaften Charakter von Gen 1. Bei A. Calmet (1707) wurden, wenn auch erst zaghaft, Ansätze einer poetischen, die urgeschichtlichen Texte als Ausdruck von Leidenschaften deutenden Auslegung erkennbar. Doch erst R. Lowth (1753) habe den Weg dahin geebnet, "Texte des Alten Testaments nicht als lehrhafte Offenbarung, sondern als poetischen Ausdruck einer religiösen Einsicht zu verstehen" (81). Insgesamt, so B., sei es für Herder ausschlaggebend geworden, dass zahlreiche Einsichten der kritischen Exegese in dem Augenblick zur Verfügung standen, in dem er "die Aporie des Gegeneinanders von Ablehnung und Verteidigung der biblischen Tradition erkennt" (85).

Kap. 3 rekonstruiert "die religionskritische Zurückweisung der biblischen Tradition durch David Hume", weil der apologetische Charakter von Herders Exegese der Urgeschichte erst als Auseinandersetzung mit Hume recht zu verstehen sei. Hume bestreitet den Geschichtscharakter einer wunderhaften Urgeschichte, deren Traditionen er für philosophisch wertlos erachtet (111). Da er bekanntlich von einer polytheistischen Anfangsphase der Religionsgeschichte ausgeht, gibt es für ihn keinen Grund, "die Tradition Israels von den übrigen Religionen der Menschheit zu unterscheiden" (118). Herder, der sich in seinem selbständigen Interesse an Hume durch die in seiner Studienzeit gängige theologische Ablehnung Humes nicht behindern ließ, sucht nun nach einer Lösung der "Spannung zwischen einer Theologie in biblischer Tradition und der aufgeklärten Religionsphilosophie" (130). Indem Hume "das Problem auf das Verständnis der Entstehung von Religion in der Geschichte der Menschheit gelenkt hatte, wird die Deutung der mosaischen Urgeschichte Herders Mittel zur Kritik Humes" (130).

Nach dieser dreifachen Vorbereitung präsentiert Kap. 4 "Die Genesisinterpretation in Herders ,Ältester Urkunde des Menschengeschlechts'". Interesse verdient dabei zunächst die hermeneutische Perspektivierung des Textes: Man müsse, so Herder, für die Exegese von Gen 1 in die Situation der sinnlichen Wahrnehmung, die der Text selbst evoziert, zurückgehen (137). Verstehe man freilich Gen 1 als poetische Szene, dann könne der Text nicht als ein direkter Bericht über das Handeln Gottes, sondern müsse als Dichtung eines Dichters gelesen werden (137). Infolgedessen deutet Herder die Vorstellungen von Gen 1 als Bilder, die direkt aus Anschauung und Gefühl stammten und jedes spekulativen Hintergrundes entbehrten (144). Herder erschließt die urgeschichtliche Situation des Menschen gegenüber dem Universum als Situation ursprünglicher religiöser Poesie (186). Der Offenbarungsbegriff, mit dem er die urgeschichtliche Poesie verbindet, ist eigener Art: Er bezeichnet "erstens Tat, Gottes Handeln, durch das er die Schöpfungswerke in ihrer Abfolge hervorbringt; ... zweitens Stimme ..., Gottes Zuwendung zum Menschen, seinem Geschöpf, in der er auf die Schöpfungswerke in ihrer Abfolge weist" (154; vgl. 154-158).

Der vordogmatische Charakter seiner Genesisinterpretation wird in der Deutung von Gen 3 besonders augenfällig: Hier sieht Herder den geschichtlichen Fortgang des Menschen auf dem "Pfad seines Mühelebens" erzählt, nicht aber - im Unterschied zu der von ihm sonst durchaus rezipierten Genesisauslegung Luthers - den Verlust der Gottebenbildlichkeit des Menschen (165).

Kap. 5 referiert schließlich die "zeitgenössische Resonanz von Herders Genesisinterpretation". Weder Hamann noch Kant vermochten seine poetologische Deutung der Urgeschichte nachzuvollziehen; Kant hatte, da er irrtümlich den traditionellen Offenbarungsbegriff ("göttlicher Unterricht") voraussetzte, schon bald das Interesse an Herders "Ältester Urkunde" verloren (172). In die alttestamentliche Wissenschaft hat Herder, wie gesagt, v. a. in einer durch Eichhorn transformierten Gestalt Eingang gefunden (177 ff.). Doch bereits W. M. L. de Wette, der 1807 den Begriff der Poesie ins Zentrum seiner Genesisinterpretation rückte, hatte sich von den Intentionen Herders wieder weit entfernt (182 f.).

Eine dichte "Zusammenfassung" (185-192) bündelt noch einmal die Erträge des beeindruckenden Bandes. Die Souveränität, in der B. durch seine Themenfelder einen Denkweg gebahnt hat, gründet in seiner mehrdimensionalen Kompetenz, die ihn ebenso im Zeitalter der Aufklärung wie in der Geschichte der alttestamentlichen Wissenschaft wie übrigens auch in der Textwelt der biblischen Urgeschichte zuhause sein lässt. Die Massstäbe, die damit gesetzt worden sind, sollten der künftigen theologischen Aufklärungsforschung Ansporn und Verpflichtung bedeuten.