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Ausgabe: | November/1998 |
Spalte: | 1115–1117 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Ethik |
Autor/Hrsg.: | Hoerschelmann, Thomas |
Titel/Untertitel: | Theologische Ethik. Zur Begründungsproblematik christlicher Ethik im Kontext der diskursiven Moraltheologie. |
Verlag: | Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1996. 320 S. gr.8. Kart. DM 79,-. ISBN 3-17-014407-3. |
Rezensent: | Friedrich Heckmann |
Die gesellschaftliche Relevanz und fortwährende Rezeption der "Diskursethik" hat ein weiteres Mal einen Theologen herausgefordert, sich mit Jürgen Habermas auseinanderzusetzen.
Thomas Hoerschelmann legt mit seiner 1995 am Fachbereich Evangelische Theologie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommenen Dissertation eine "Theologischen Ethik" vor, die die Begründungsproblematik christlicher Ethik im Kontext der Habermasschen Moraltheorie analysieren und darüber hinaus zu einem eigenen Ansatz evangelischer Ethik kommen will.
Diesem anspruchsvollen Ziel nähert sich der Autor in sieben Kapiteln in der Absicht, Belege für die Tragfähigkeit seiner Unterscheidung von Ethik und Moral, die er in Anlehnung an Habermas nachvollzieht, beibringen zu können.
In einem ersten Kapitel konkretisiert H. die Problemstellung seiner Arbeit. Es geht ihm um die Krisenwahrnehmung, die Problemwahrnehmung selbst. Urteile ethischer Dilemmata unterscheiden sich seiner Ansicht nach weniger durch unterschiedliche Normenbegründungen als durch heterogene Situationsdeutungen. Von diesem Ansatz aus untersucht der Autor, auf welche Krisen und Problemfelder seine Gesprächspartner - hier Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas - aufmerksam machen (II. Kapitel). Deren jeweilige Krisenwahrnehmungen stehen sich, so H., "wie ,polytheistische Götter gegenüber" (59). Der Autor bringt nach einem Exkurs über eine These Max Webers - die zunehmende Pluralisierung von Lebensformen, Wertehaltungen und Sinndeutungen - damit u. a. zum Ausdruck, daß die von ihm wahrgenommenen gemeinsamen Begründungsanstrengungen und -forderungen von Apel und Habermas keinesfalls gemeinsame Krisenwahrnehmungen garantieren. Folgerichtig untersucht H. in seiner weiteren Problembearbeitung (III. Kapitel) Krisenwahrnehmungen anderer Ethiken.
Es ist dies ein Versuch, eine Ethik jeweils von innen zu verstehen, ohne sie mit fremden Maßstäben zu messen (21, 61-83). H. systematisiert in der Absicht, Ethik als Krisentheorie zu verstehen, drei Grundelemente und verdeutlicht die Grundidee der "Lesart der Ethiken als Krisentheorien" (66) in einer - zugegebenermaßen - pharaphrasierenden und plakativen Skizze konkurrierender Theoriebildungen (66-71) von den "skeptisch argumentierenden Ethiken" bis hin zu den "kognitivistischen Moraltheorien". Die drei Grundelemente H.s (62-65) sind:
1. Die Grundfrage nach der Verortung - den Quellen und Ressourcen - des praktischen Wissens, 2. die Grundfrage nach den Zugangsvoraussetzungen zum praktischen Wissen, 3. die Grundfrage nach den Grenzen und Widerständen des praktischen Wissens.
Er sieht in der ,Lesart der Ethiken als Krisentheorien, die in den Grundelementen jeder Krisenwahrnehmung auf das Problem der divergierenden Problemwahrnehmungen antworten, den Vorteil, daß so ein gemeinsamer Bezugspunkt zwischen den verschiedenen Theoriebildungen existiert. So lassen sich dann auch die theologischen Ethiken mit den unterschiedlichen anderen Entwürfen ins Gespräch bringen. Der gemeinsame Grundzug theologischer Ethiken ist eine Korrektur der unterschiedlichen Krisenwahrnehmungen. Darauf baut auch H.s These von der Aufgabe theologischer Ethik auf, die in der Thematisierung und Gegenstandsbestimmung der ethischen Situationswahrnehmung, nicht aber in der moralischen Begründung liegt (82).
Auf dieser Basis wendet sich der Autor dem Begründungsprogramm der diskursiven Moraltheologie zu (IV. Kapitel), um in der Auseinandersetzung mit der Habermasschen Grundlegungsschrift "Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm" zu einer Beschreibung des Gegenstandes und der Aufgaben theologischer Ethik zu kommen.
In diesem umfangreichsten Kapitel der Dissertation (84-197) versucht der Autor nicht, die Diskursethik nachzuzeichnen, sondern in der Auseinandersetzung mit ihr die Aufgaben und Gegenstände der theologischen Ethiken - oder vielmehr die der religiös-theologischen Ethiken, wie er sich ausdrückt - zu bestimmen. Zum Verständnis seiner Habermas-Interpretation sind die fünf Exkurse, die H. in diesem etwas umfangreich und unübersichtlich geratenen Abschnitt einstreut, hilfreich. (Weniger ist manchmal mehr!) Nichtsdestotrotz gewinnt das erklärte Ziel des Autors, ein komplementäres Beziehungsverhältnis von Ethik und Moral zu beschreiben, nur unwesentlich klarere Konturen, auch wenn es ihm gelingt, die ethischen Implikationen in der Argumentation von Habermas bei dessen Ziel deutlich zu machen, eine diskursive Moraltheorie zu begründen.
In dem zweiten großen Abschnitt der Problembearbeitung (V. Kapitel) setzt sich der Autor jedoch folgerichtig mit den theologischen Einwänden an der diskursiven Moraltheorie auseinander (Rendtorff, Peukert, Arens, Höhn), auch wenn sich Theologie und theologische Ethik sonst in erster Linie mit der "Theorie des kommunikativen Handelns" beschäftigt haben (198). Ziel seines neuen Argumentationsganges (198-271) ist, mit der Habermasschen Unterscheidung von Ethik und Moral auf Problemwahrnehmungen zu stoßen, die innerhalb der diskursiven Moraltheorie ausgeblendet sind. Dabei versucht er, die theologische Kritik an der Theoriebildung von Habermas auf zwei idealtypische Argumentationsmuster zu reduzieren. Ein meines Erachtens nicht zureichender Versuch, da er der Differenziertheit der besprochenen Entwürfe kaum gerecht werden kann. Dies wird auch weiter deutlich im VI. Kapitel, in dem H. die Reichweite der angesprochenen Entwürfe sehr beschränkt sieht (Rendtorff wird auf Entscheidungssituationen in Institutionen, Arens auf das gesellschaftspolitische Engagement, Höhn auf Problemstellungen in Fürsorgesituationen reduziert). Werden die theologischen Ethiken dann nicht wirklich "nur" darauf beschränkt, eine ergänzende und korrigierende Funktion im Prozeß der Urteilsbildung einzunehmen?
Es ist in der Tat so, wie H. herausarbeitet, daß die theologischen Ethiken den Diskurs weder unterlaufen noch dominieren (293-295). Tertium non datur? An dieser Stelle hätte ich mir als Leser gewünscht, daß der Autor seine Perspektive "von innen" stärker hätte konkretisieren können.
So bleibt es im kurzen VII. Schlußkapitel bei der zusammenfassenden These, mit der H. die Ergebnisse seiner Arbeit wieder auf den Punkt zu bringen versucht, daß es einen eigenständigen Aufgaben- und Gegenstandsbereich "religiös argumentierender Ethiken" gäbe, der - so läßt sich aus dem Vorhergegangenen entnehmen - nicht als besonderes Ethos der Christenheit oder einer christlichen Gruppe beiseite zu schieben ist.
An dieser Stelle sehe ich ein Defizit dieser originellen und interessanten Arbeit, die die eigenständige Interpretation sucht und diese auch durchhält. Für den Leser ist der sorgfältige Aufbau der Arbeit sehr hilfreich: Rückblicke, Ausblicke und Schlußbetrachtungen erleichtern die Lektüre. In der Einleitung versucht H., sowohl sein methodisches Vorgehen zu erläutern als auch eine Begriffsklärung in der begrifflichen Vielfalt von "Ethik", "Ethos", "Moral" und "Sittlichkeit" vorzunehmen. Das hat sich als sehr sinnvoll erwiesen, auch wenn ich mir vor allem die Begriffsklärung ausführlicher gewünscht hätte, beispielsweise als ein erstes Kapitel, auf das dann auch die nachfolgenden Kapitel hätten bezogen werden können, und nicht als ein kurzer Teil einer kurzen Einleitung. Wenig hilfreich ist der "Ausblick" in dem wiederum sehr kurzen Schlußkapitel. Hier versucht der Autor, Belege für die Tragfähigkeit der Unterscheidung von Ethik und Moral im Gebiet der gesamten Systematischen Theologie zu finden. Das mußte in der Kürze Stückwerk bleiben und gehört wohl eher an eine andere Stelle. Insgesamt tut dies aber der spannenden, nicht immer leicht zu lesenden Arbeit keinen Abbruch.