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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

735 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schilling, Christof

Titel/Untertitel:

Moralische Autonomie. Anthropologische und diskurs-theoretische Grundstrukturen.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1996. 263 S. gr.8. Kart. DM 78,-. ISBN 3-506-77723-8.

Rezensent:

Christian Danz

"Die Humanität moralisch autonomer Individuen entfaltet sich im Konflikt" (246). Mit dieser Sentenz faßt Christof Schilling die Resultate seiner 1994 an der Philosophischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen eingereichten Dissertation, die nun in einer "geringfügig überarbeitete[n]" (7) Fassung vorliegt, bündig zusammen.

Die Grundthese seiner Untersuchung läßt sich so bestimmen, daß mit dem Begriff der moralischen Autonomie in der Philosophie Immanuel Kants eine für die Moderne unhintergehbare Position entwickelt wurde, die jedoch ob ihrer bewußtseinsphilosophischen Prämissen zu internen Aporien führt. Die von Jürgen Habermas vorgeschlagene Transformation und diskurstheoretische Reformulierung des Kantischen Autonomiebegriffs vermag jedoch nur partiell den Potentialen des Kantischen Autonomiebegriffes zu entsprechen. Aus diesem Grund schlägt der Vf. eine Ergänzung der diskurstheoretischen Transformation des Kantischen Autonomiebegriffes durch eine strukturell-anthropologische Dimension vor. Der Aufbau der Untersuchung folgt konsequent aus dieser Grundthese. In einem ersten Punkt werden die Defizite der Habermasschen Diskursethik freigelegt (11-39), in einem zweiten Untersuchungsgang die Aporien von Kants Autonomiebegriff aufgewiesen (40-82), sodann in einem dritten Argumentationsgang eine Rekonstruktion der anthropologischen Grundlagen der Handlungsfreiheit sowie der praktischen Vernunft durchgeführt (83-147). Nach einem theoriegeschichtlichen Exkurs, der die Theoriedefizite von existentialistischen Transformationen von Kants Autonomiebegriff in den Blick rückt (148-181), entwickelt der Vf. in dem abschließenden fünften Untersuchungsgang eine Position moralischer Autonomie, die eine Transformation von Kants Autonomiebegriff auf der Grundlage einer Komplementarität von strukturell-anthropologischen Grundlagen und diskurstheoretischer Rationalität intendiert (182-246).

Die Ergänzungsbedürftigkeit der Habermasschen Diskursethik wird vom Vf. dadurch begründet, daß in der diskurstheoretischen Transformation von Kants Autonomiebegriff der Zusammenhang von Individuum, Freiheit und Vernunft aus dem Blick gerät. "Habermas' Mead-Interpretation explizierend... läßt sich festhalten, daß das post-konventionelle Selbst als frei vorausgesetzt werden muß, sowohl für moralische Selbstbestimmung und ethische Selbstverwirklichung als auch für deren Integration in selbstverantworteter Lebensführung" (35). Genau diese Voraussetzung der diskurstheoretischen Transformation von Kants Autonomiebegriff läßt sich nur dann vollständig explizieren, wenn auf eine strukturell-anthropologische Ebene zurückgegriffen wird. Unterläßt man dies, dann geht eine Pointe von Kants Autonomiebegriff verloren, nämlich die "Verankerung der auf universale Anerkennungsverhältnisse entschränkten Vernunft in der Freiheit des jeweiligen Individuums" (38).

Gegenüber der Habermasschen Diskursethik gilt es daher, die ungeklärte Voraussetzung der ethischen Freiheit zu explizieren. Ethische Freiheit, die in der Freiheit des Individuums gegenüber vorgegebenen ethisch-politischen Orientierungen, gegenüber ethisch-existentiellen Werten, die das eigene Selbstverständnis bestimmen, besteht, setzt jedoch ihrerseits sie ermöglichende anthropologische Grundstrukturen voraus (182). Diese sieht der Vf. in dem praktischen Sich-Verhalten, welches als Sich-Verhalten zu sich eine Distanz zum eigenen Handeln ermöglicht. Auf Grund der Möglichkeit der Distanz gegenüber dem eigenen Handeln ist das Individuum befähigt zur Kritik und Begründung seines Handelns und der es leitenden Normen. Die anthropologische Grundstruktur des Sich-Verhaltens ist daher ab ovo dialogisch. Der Zusammenhang von Individuum, Freiheit und Vernunft, der dem Vf. als Leitfaden für eine Rekonstruktion von Kants Begriff der moralischen Autonomie unter den Bedingungen einer handlungstheoretischen Semantik dient, wurde damit in einer anthropologischen Grundstruktur verankert, insofern das Sich-Verhalten immer schon Freiheit und kommunikative Vernunft impliziert. Im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Analysen in Sein und Zeit (124-141) ar-beitet der Vf. die anthropologische Grundstruktur als Dialogizität heraus, wobei er Heideggers Verkürzung dieser Grundstruktur um die Dimension der diskursiven Vernunft zu Recht kritisiert und einen reflexionsgeleiteten Übergang von dem un-eigentlichen zu dem eigentlichen Selbstverhältnis vorschlägt.

Zeigte die Analyse der Diskursethik von Habermas deren Er-gänzungsbedürftigkeit durch eine strukturell-anthropologische Dimension, so zeigt umgekehrt die Analyse von Ansätzen, die die anthropologische Grundstruktur in den Vordergrund stellen (Heidegger, Kierkegaard, Sartre, Gorz), ein rationalitätstheoretisches Defizit und damit deren Ergänzungsbedürftigkeit (148-180). Ein reflexionsgeleiteter Übergang von ethischer Freiheit zu moralischer Autonomie vollzieht sich, so der Vf., durch die Einsicht der Individuen in ihre Abhängigkeit von Anerkennungsbeziehungen. Diese Anerkennungsbeziehungen können unter den Bedingungen der Moderne nur eine primär egalitär-universale Form haben. Moralische Autonomie manifestiert sich demzufolge in der Reflexion des ethisch autonomen, zweckrationalen Handelns unter Gesichtspunkten reziproker und egalitär-universaler Anerkennung (230). Konflikte, die stets partikular und von objektiven, sozialen und subjektiven Bedingungen bestimmt sind, werden demzufolge nur dann moralisch gelöst, wenn dies im Zuge einer reziproken und universalen Anerkennung geschieht. Dann realisiert sich moralische Freiheit in Situationen.

Der Rationalitätsgewinn, der durch die Verschränkung von einer strukturell-anthropologischen und einer diskurstheoretischen Dimension erzielt wird, besteht in einer Steigerung der Komplexität in der Rechtfertigung von Handlungen. Die Forderung einer minimalen Komplexität für das Rechtfertigen von Handlungen und den ihnen zugrundeliegenden Willensbestimmungen in ihren verschiedenen Dimensionen bildet das Kriterium für eine moralisch-rationale "Handlungsorientierung-in-Situationen". Eine Rechtfertigung von strittigen Handlungen ist dann moralisch, wenn die Komplexität der handlungsbestimmenden Faktoren argumentativ berücksichtigt wird. Dies geschieht idealiter in den drei Sequenzen von Artikulation des moralischen Konflikts, Geltungsreflexion sowie einem Anwendungsdiskurs, in dem die Angemessenheit der durch den Diskurs legitimierten Norm in einem diskurstheoretischen Verfahren geklärt wird.

Die um eine strukturell-anthropologische Dimension erweiterte Diskurstheorie vermag so den Kantischen Autonomiebegriff zu beerben und ihn unter den Bedingungen einer pluralistischen Moderne zum Zuge zu bringen. Dabei weiß sie sich, wie der Vf. in der Einleitung seiner Untersuchung betont, einem Wesensmerkmal der Aufklärung verpflichtet, indem sie nicht nur den Maßstab ihrer Kritik am Bestehenden selbst rechtfertigt, sondern auch die Orientierung des Handelns diesem Maßstab der Freiheit und Einsicht der Individuen anheimstellt.