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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

730 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Langhorst, Peter

Titel/Untertitel:

Kirche und Entwicklungsproblematik. Von der Hilfe zur Zusammenarbeit.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 1996. 397 S. gr.8 = Abhandlungen zur Sozialethik, 37. Kart. DM 68,-. ISBN 3-506-70237-8.

Rezensent:

Christoph Stückelberger

Eine Gesamtdarstellung und Zusammenfassung der Entwicklungsproblematik aus Sicht des katholischen Lehramtes will diese Dissertation leisten (4). Der Schwerpunkt der umfassenden Untersuchung liegt auf lehramtlichen Texten zwischen 1931 und 1995, insbesondere päpstlichen Enzykliken von Papst Pius XI. bis Papst Johannes Paul II.

Im ersten Kapitel wird der Entwicklungsbegriff insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg nachgezeichnet. Der Autor lehnt sich dabei insbesondere an Studien von Nolen/Nuscheler (Herausgeber des Handbuches Dritte Welt) an, führt deren Entwicklungsbegriff aber weiter, indem er neben Arbeit, Wachstum, sozialer Gerechtigkeit, Partizipation und Unabhängigkeit (Nolen/Nu-scheler) Menschenwürde und Ökosoziale Marktwirtschaft als konstitutiv für seinen Entwicklungsbegriff hinzufügt. Dies führt ihn zu folgender Entwicklungsdefinition: "Entwicklung ist die eigenständige Entfaltung der produktiven Kräfte zur Versorgung der gesamten Gesellschaft mit lebensnotwendigen materiellen sowie lebenswerten kulturellen Gütern und Dienstleistungen auf ökologischer Basis im Rahmen einer menschenwürdigen, politischen und sozial disziplinierten, marktwirtschaftlichen Ordnung, die allen Gesellschaftsmitgliedern Chancengleichheit gewährt, sie an politischen Entscheidungen mitwirken und an gemeinsam erarbeitetem materiellen Wohlstand teilhaben läßt" (47). Dieser Entwicklungsbegriff ist umfassend, beinhaltet allerdings auch manche mit dieser Definition nicht gelöste Zielkonflikte.

Im zweiten, zum Hauptteil hinführenden Kapitel wird die katholische Kolonial- und Missionsgeschichte unter dem As-pekt von Entwicklung wie auch das Verhältnis von Mission und Entwicklung zusammengefaßt. Diese komplexen Vorgänge des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jh.s werden etwas zu summarisch dargelegt, zeigen aber doch, daß auch heutige Entwicklungsbemühungen nicht frei sind von kolonialen Mechanismen.

Im dritten bis sechsten Kapitel, dem Hauptteil des Buches, werden die lehramtlichen und päpstlichen Dokumente zur Entwicklungsthematik von 1931-1995 in chronologischer Reihenfolge zusammengefaßt, systematisiert und bewertet. Dabei un-terscheidet der Autor vier Phasen: wirtschaftliche Entwicklungshilfe 1931-1966 (Pius XI, Pius XII, Johannes XXIII, Zweites Vatikanisches Konzil), die zweite Phase 1967-1970 mit dem Schwerpunkt auf integraler Entwicklungspolitik (Paul VI), die dritte Phase von 1971-1986 mit dem Schwerpunkt auf sozialer Gerechtigkeit (Lateinamerikanische Bischofsvollversammlungen von Medellin und Puebla, Johannes Paul I und Johannes Paul II) und die vierte Phase seit 1987 mit der Betonung universaler Solidarität (Johannes Paul II.).

Diese Kapitel leisten die in der Zielsetzung genannte Gesamtschau über die insgesamt zahlreichen päpstlichen Dokumente zu Entwicklungsfragen. Die vier Phasen sind eine angemessene Charakterisierung der Veränderung des Entwicklungsverständnisses, auch wenn die wirtschaftlichen, sozialen und universalen Aspekte faktisch immer auch miteinander verflochten sind.

Im sechsten Kapitel weist der Autor auf die wichtigsten amtskirchlichen Versammlungen und Verlautbarungen nationaler oder kontinentaler Bischofskonferenzen hin (US-amerikanische Bischöfe 1986, lateinamerikanische Bischofsvollversammlung 1992, außerordentliche Bischofssynode für Afrika 1994, asiatische Bischofskonferenz 1995). Diese nationalen und kontinentalen Bischofskonferenzen sind für den realen Einfluss der Kirchen auf kontextbezogene Entwicklungen wohl viel bedeutender, als sie in der relativ knappen Darstellung in diesem Buch erscheinen mögen, auch wenn von der Zielsetzung der Studie her die Gewichtung verständlich ist.

Im letzten Teil des Buches formuliert der Autor sieben weiterführende Problembereiche, die für die zukünftige katholische Entwicklungsethik zu lösen wären: Rolle und Aufgabe der Frau in der Gesellschaft, Bevölkerungsproblematik, Migrations- und Flüchtlingsprobleme, Revolution und Gewalt, Befreiungstheologie und katholische Soziallehre, Strukturpolitik und Strukturen-ethik, Mentalitätswandel. Im weiteren erwähnt er, wenn auch knapp, als große Herausforderungen der Zukunft die Universalisierbarkeit der Menschenrechte, die neue Weltwirtschaftsordnung und die christliche Ökumene und Kooperation der Weltreligionen als Notwendigkeit für das gemeinsame Zeugnis der Kirchen und Religionen für eine humane Entwicklung.

Eine Grenze der vorliegenden Studie liegt m. E. in der allzu knappen zeitgeschichtlichen Einordnung der päpstlichen Dokumente in die säkulare und ökumenische Entwicklungsdebatte. Dies führt dann zur Fehleinschätzung, daß eine Enzyklika an vorderer Front der Entwicklungsdebatte stehe - was bei manchen Texten auch der Fall ist! -, während es in der Tat eine Reaktion auf bereits länger dauernde Debatten ist.

So wird "Pius XI als Entdecker der globalen sozialen Frage" (83 f.) mit seiner Enzyklika Quadragesimo anno 1931 bezeichnet. Die globale soziale Frage wurde aber seit Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation IAO 1919 sehr intensiv international debattiert. Eine neue Studie zeigt, daß die protestantischen Kirchen dazu in den zehner und zwanziger Jahren bereits wesentliche Anstöße gegeben haben (Les églises protestantes et la question sociale, hrsg. vom Internationalen Arbeitsamt Genf 1996). Oder wenn der Autor schreibt, Papst Johannes Paul II habe die neuen Begriffe Humanökologie und Sozialökologie in seiner Enzyklika Centesimus annus 1991 geprägt (257, Anm. 59), ist anzumerken, daß der Begriff Humanökologie seit den siebziger Jahren in der säkularen Umweltdebatte in Gebrauch war.

Die Frage des Autors, "ob nicht eine konfessionell-kirchlich betriebene Entwicklungsarbeit mehr und mehr in den Hintergrund treten kann und eine religiös motivierte Entwicklungszusammenarbeit aller christlichen Kirchen angesichts der Komplexität der zu lösenden Probleme gemeinsam geplant werden sollte" (364), kann ich als evangelischer Ethiker und Entwicklungspolitiker nur unterstützen. Ein ermutigendes Beispiel dazu ist die verbindliche Zusammenarbeit des katholischen Fastenopfers und des evangelischen Werkes Brot für alle in der Schweiz, indem seit 1967 die Informations- und Sammelaktionen gemeinsam durchgeführt werden.

Trotz der erwähnten Grenzen ist die vorliegende Untersuchung eine sehr informative und sorgfältige Übersicht, ja ein Nachschlagewerk über die lehramtlichen katholischen Positionen zur Entwicklungsproblematik der letzten 60 Jahre. Vieles, was in diesen Enzykliken zur Armutsfrage, zur Weltwirtschaftsentwicklung, zum Handel, zur Verschuldung oder Abrüstung steht, ist auch heute noch aktuell. Diese Texte in die heutige Entwicklungsdiskussion einzubeziehen, lohnt sich für katholische wie für evangelische Bemühungen.