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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

735–737

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bayer, Oswald

Titel/Untertitel:

Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. 351 S. gr. 8o. Lw. DM 68,-. ISBN 3-16-146363-3.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Diese Aufsatzsammlung zur theologischen Ethik ist als Ergänzung und Fortführung anderer hermeneutischer, schöpfungstheologischer oder theologiegeschichtlicher Publikationen B.s angelegt (XI). Ein einführender Abschnitt hebt den Freiheitsbegriff als Leitmotiv der theologischen Ethik hervor. B. legt menschliche Freiheit unter der Vorgabe der Zusage Gottes und als Antwort auf Gott aus. In drei Hauptabschnitten - I. "Mensch sein vor Gott"; II. "Ethik im Konflikt"; III. "Lebensbereiche" (nämlich "Ehe und Familie" sowie "Gesellschaft und Staat") - sind dann verschiedene Aufsätze B.s zu Grundsatzfragen der Ethik, zum heutigen Rückgriff auf biblische und reformatorische Hintergründe und zu materialen Themenfeldern eines theologischen Ehe- und Staats- oder Politikverständnisses zusammengestellt. Von neuzeitlichem Denken, das nach dem Menschen als eigenverantwortlichem ethischen Subjekt fragt, grenzt sich B. immer wieder ab. I. Kants Transzendentalphilosophie und Autonomiegedanke werden aufgrund der anthropologisch-rationalen Be-gründungsstruktur von Kants Denken sogar als atheistisch bewertet (165 ff.). B.s Neuzeitkritik erfolgt also in sehr schroffer Form.

Sicherlich leuchtet es ein, bestimmte Einseitigkeiten Kants - dualistische Züge bei Kant (81) oder einen abstrakten, geschichtsenthobenen Vernunftbegriff (100, 181) - kritisch in Blick zu nehmen. B. postuliert jedoch einen prinzipiellen Gegensatz zwischen Kant und Schleiermacher einerseits, Martin Luther andererseits. Im Zuge dieser Alternative vollzieht er selbst einen Rückgriff auf Luther (99 f.). Zugleich übt er Grundsatzkritik an anderen Autoren, z.B. an G. Ebeling (ebd.), an T. Rendtorff, an der Fundamentalmoral des katholischen Moraltheologen Franz Boeckle (179) sowie an dem von einem "römisch-neuprotestantische(n) Konsens" getragenen Handbuch der Christlichen Ethik von 1978/1993 (232). In solchen der Neuzeit zugewandten neueren Denkansätzen verblasse das Gottesverständnis der Reformation, in dem Gottes Zusage, Forderung und Gericht verdeutlicht wurde. Der Gottesgedanke werde zur bloßen "Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit" (179).

Nun ist es sicherlich zweifelhaft, ob bei den von B. kritisierten Autoren der christliche Gottesgedanke tatsächlich vorschnell mit dem Freiheitsideal eines vordergründig bleibenden neuzeitlichen transzendentalen Idealismus harmonisiert wird. B. selbst jedenfalls versteht Ethik als eine "Konfliktwissenschaft" (9), die nicht vom neuzeitlichen Kategorischen Imperativ, sondern von "der Güte der kategorischen Gabe" ausgeht (16). Freiheit und Verantwortung des Menschen resultieren aus dem Hören. Anstelle einer deskriptiven oder präskriptiven wird eine performative Ethikauffassung vorgeschlagen, die auf der Sprachbewegung biblischer Texte und den von Gott ausgehenden Assertionen beruht (38 f., 97 f.).

Einen thematischen Schwerpunkt des Buches bilden Aufsätze über Luther. B. charakterisiert Luther als einen "seelsorgerlichen" Ethiker (148). Bei Luther verbinden sich eine "Haustafel-Ethik", die an weltlich-geschichtlichen Sachverhalten interessiert ist, und eine "Nachfolge-Ethik", für die das Liebesgebot das Kriterium ist, miteinander (133, 147 ff.). Mit solchen Hinweisen macht B. für Luthers Ethik die Intention des realistischen Weltbezuges, der Weltzugewandtheit einerseits und die Verankerung im christlichen Glauben andererseits namhaft. Den damaligen Weltbezug von Luthers Ethik zeigt B. anhand der Ständelehre auf (116-146). Insofern in der Ständelehre (ecclesia, oeconomia, politia) die Dimensionen von "geistlich" und "weltlich" ineinander verschränkt werden, vermittelt sie B. zufolge ein adäquateres Bild von Luthers Ethik als die heute zumeist im Blickfeld stehende Zwei-Regimenten-Lehre (121 f.). In der Tat ist ja grundsätzlich zu beachten, daß das "weltliche" Regiment, das in der sogenannten Zweireichelehre thematisiert wird, mit dem Begriff des Weltlichen im Sinne der von Säkularisierung und Aufklärung bestimmten Moderne nicht verwechselt werden darf. Interessant sind B.s Hinweise auf die Äußerungen Luthers, denen zufolge die Liebe als christlicher "Stand" über den drei Ständen ecclesia, politia, oeconomia steht (z.B. 133 f.). Hiervon ausgehend, könnte mit Hilfe von Luthers eigenen Gedankengängen ein starr ordnungstheologisches, gesellschaftlich statisches Luthertum in Frage gestellt werden.

B. selbst behandelt vor allem die Ehe als "Stand" bei Luther und lehnt heutige nichteheliche Lebensformen ab (199-246). Freilich ist es fraglich, ob der Rückbezug auf Luthers Ehelehre als solcher zureicht, die Motive und Aspekte heutiger Lebensformen wirklichkeitsnah und umfassend zu diskutieren. In neuzeitkritischem Blickwinkel betrachtet B. auch die heutige Realität des Single-Daseins, indem er diese Lebensform auf das cartesische Ich und auf das in sich beziehungslose neuzeitliche Individuum zurückführt (242). Bei einer solchen Sicht bleiben konkrete ökonomische und soziale Faktoren - z.B. der heutige Mobilitätsdruck - und die sehr vielfältigen persönlichen Motive, die als Hintergrund für heutige Lebensformen wie die Single-Existenz eine Rolle spielen, allerdings abgeblendet und unerörtert.

Zu Luther selbst, zu J. G. Hamann und auch zu Moses Mendelssohn (247 ff.) oder zu Aspekten des Machtbegriffs (283 ff.) enthält das Buch viele Denkanstöße und Anregungen. Indem B. die Grenzen menschlicher Vernunft und Verantwortungsfähigkeit betont (195), übt er - im Zeitalter einer eigengesetzlich werdenden Hochtechnologie - berechtigte Kritik an einem überdehnten Vernunft- und Fortschrittsoptimismus. Hierfür ließen sich freilich auch andere theologische Gründe als die von B. hervorgehobene Lehre vom Letzten Gericht (195 f.) anführen. Manchmal erfolgt der Überschritt von der christlichen und reformatorischen Tradition zu ethischen Gegenwartsproblemen recht unvermittelt. Läßt sich die heutige industrielle und technologische Arbeitswelt tatsächlich im Horizont des theologischen Wortes Beruf - als vocatio, Berufung - realitätsgerecht erfassen (60-63)? Überhaupt wäre zu fragen, ob die programmatische, dezidierte Neuzeitkritik des Buches der Chance konstruktiver gegenwartsbezogener Überlegungen nicht zum Teil im Wege steht. Eine typologische Argumentation, die Luthers Ehelehre einerseits, die "neuzeitliche Subjektivität..., die alles Gegenständliche auflöst und nur das gelten läßt, was sie selber produziert" (222), andererseits antithetisch gegeneinander stellt, droht den Individualitäts- und Subjektivitätsgedanken der Neuzeit auf einen bloßen Individualismus und auf eine überzogene Subjektzentriertheit zu reduzieren. Daß in der neuzeitlichen Ethik - und nicht zuletzt bei Kant selbst - die persönliche Gewissensverantwortung jedes einzelnen handelnden Menschen verstärkt ins Licht gerückt worden ist, ist doch auch aus evangelisch-theologischer Sicht als ethiktheoretisch konstruktiv und wegweisend zu würdigen. In B.s Buch werden neuzeitliche Entwicklungen, zu denen die Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit oder die plurale, tolerante Demokratie gehören (91), aber nur am Rande positiv erwähnt.

In überzeugender Weise betont das Buch im Anschluß an Luther und an das Erste Gebot (93) grundsätzlich die "Weltlichkeit" theologischer Ethik. Es hinterläßt den Denkanstoß, danach zu fragen, wie sich diese Weltlichkeit theologischen Denkens im Kontext der säkularisierten, pluralen Postmoderne und angesichts des heutigen sozialen Wandels materialethisch konkretisieren läßt.