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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

730–735

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Neuhaus, Gert

Titel/Untertitel:

Theodizee – Abbruch oder Anstoß des Glaubens.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1993. 365 S. gr. 8o. Kart. DM 68,-. ISBN 3-451-23237-5.

Rezensent:

Bernd Hildebrandt

Der Vf. will mit diesem Buch, das 1992 als Habilitationsschrift an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angenommen worden ist, nicht zuerst ein weiteres Glied der Reihe der Antworten auf die Theodizeefrage hinzufügen. Primäres Anliegen ist vielmehr, in der Auseinandersetzung mit solchen Antworten und noch mehr in der Aufnahme des Protestatheismus der Neuzeit die Theodizeefrage zu rekonstruieren. Real-geschichtliche, d.h. objektiv-empirische Voraussetzungen und transzendental-geschichtliche, d. h. subjektiv-erkenntnismäßige Bedingungen sind dabei zu unterscheiden. Unterscheiden bedeutet aber nicht Trennen, sondern ein qualifiziertes Aufeinanderbeziehen. Dieses nimmt in der Weise Gestalt an, daß eine Dialektik beider Instanzen aufgewiesen wird, die auf eine Geschichte der Theodizeeproblematik aufmerksam werden läßt. Eine solche Geschichte finden wir schon im Alten Testament vor, in welchem das überlieferte Gottesverständnis angesichts es falsifizierender Erfahrungen erschüttert wird, um schließlich in einem erweiterten Gottesverständnis diese Erfahrungen zu bewältigen und auf diese Weise die Einheit des sittlich-religiösen Bewußtseins wiederherzustellen.

Das im Alten Testament Erkannte wird für den Vf. zum Schlüssel für die Rekonstruktion der Theodizeeproblematik in der Neuzeit, die aufgrund ihrer geschichtlichen Dialektik auf dem Wege der Klärung ihres eigenen Gehaltes ist. Weil die Theodizeefrage unmittelbar die Konstitution des sittlichen Bewußtseins betrifft, steht mit dieser Frage, wenn sie ohne Antwort bleibt, das sittliche Bewußtsein als solches zur Disposition. Erhält doch die Theodizeefrage, wenn man die protestatheistische Variante vor Augen hat, ihre radikalste Zuspitzung in der das Denken A. Camus' umtreibenden Paradoxie, daß die sittliche Empörung über das Übel in der Welt und das daraus folgende Engagement dagegen das Übel nicht beseitigt, sondern es nachgerade perpetuiert. Angelegt ist diese Paradoxie schon in Kants Freiheitsantinomie, die den Widerspruch zwischen ethischem Wollen und der empirischen Welt konstatiert und damit die Einheit des Ichbewußtseins in Frage stellt. Für Kant löst sich die Aporie noch durch das Gottespostulat zugunsten der Einheit des Ichbewußtseins auf. Eben dies wird für Camus angesichts des im Roman "Die Pest" geschilderten Sachverhalts unmöglich, daß nämlich das sittlich Gewollte nicht nur ohnmächtig ist im Handeln, sondern in seinen Akten das sittlich ausdrücklich Nichtgewollte bewirkt (die Verlängerung der Leiden des Kindes Philipp Othon). Aber mit dieser über Kant hinausgehenden Gestalt der Antinomie zwischen Wollen und Bewirken wird nicht nur der Entdeckungs-, sondern auch der Begründungszusammenhang sittlicher Vernunft zerstört (153).

Auf diese Antinomie im sittlichen Bewußtsein zielt die vom Vf. vorgenommene phänomenologische Analyse, um die theologische Antwort auf die Theodizeeproblematik vorzubereiten. Denn wer die Aporie nicht verdrängt, "sondern als solche aushält, der hält damit den Horizont offen, innerhalb dessen die Botschaft von demjenigen Gott, der sich am Kreuz für den Menschen als Liebe offenbart, als befreiend vernommen werden kann (347)."

Ausgangsspunkt der Argumentation ist das berühmte Wort Büchners in "Dantons Tod": "Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus." In diesem Wort steckt schon die grundlegendere Frage nach dem Fels der Empörung. Eine konsistente Antwort darauf fehlt indes bei Büchner. Das Problem wird dann in aller Form von Camus in der Frage nach dem Möglichkeits- und Geltungsgrund der sittlichen Revolte aufgenommen. Tastende Antwortversuche bei Camus werden vom Vf. sichtbar gemacht und, ohne Camus vordergründig christlich vereinnahmen zu wollen, auf dem Hintergrund des Verständnisses Gottes als Ereignis der Liebe entschlüsselt.

Der erste Teil des Buches entwickelt die Frage, wie angesichts der gegebenen Alternativen von Theismus und Atheismus noch der Fels sittlicher Empörung möglich sei (159 f.). Die Suche nach einer Antwort auf die Theodizeefrage wird zu einer transzendentalen Notwendigkeit. Denn in praktischer Hinsicht bedarf die Vernunft einer Antwort, weil ohne sie die Möglichkeit sittlichen Handelns undenkbar wird. Und in theoretischer Hinsicht ebenso, weil ohne eine solche Antwort "jene Einheit des Ich nicht möglich wird, die es allein gestattet, die Vielfalt der Wahrnehmungen in einen strukturierten Kontext der Erfahrung einzuordnen"(6O). Zerschlagen die alternativen Antworten des Theismus und des Protestatheismus nur den Knoten des Problems und lassen, indem die einander widersprechenden Positionen unverbunden zurückbleiben, schließlich das sittliche Bewußtsein des Menschen untergehen, so richtet sich der Blick auf die Erfahrung eines noch zu suchenden "Dritten" jenseits dieser Alternativen, das dem transzendentalen Freiheitsbewußtsein ein Fundament darstellt, welches dem Erosionsprozeß real-geschichtlicher Enttäuschungen zu widerstehen vermag (16O).

Der zweite Teil des Buches fragt zunächst danach, inwiefern in den Entwürfen Rahners, Pannenbergs und Küngs von der theologischen Antwortseite her dieser Frage bzw. Suche entgegengearbeitet wird. Das Ergebnis lohnt, weil in diesen Entwürfen die menschliche Transzendentalität, insbesondere das Urvertrauen als Bedingung für die Einheit der Erfahrung, thematisiert und von diesem aus das Gottesverständnis als Grund dieses Urvertrauens entfaltet wird. Der erarbeitete Reflexionsstand hinsichtlich der Theodizeefrage macht einerseits auf die offenen Flanken dieser Entwürfe aufmerksam. Denn mit der Begründung des Urvertrauens in Gott und mit der Verwandlung desselben in Gottvertrauen wird die Paradoxieerfahrung als solche nicht bewältigt, sondern noch radikalisiert (256). "Andererseits verlangt diese Koinzidenz, die Grundvertrauen und Gottesglauben in den gleichen Paradoxieerfahrungen finden, jedoch auch eine begründete Zuversicht: daß nämlich in der Geschichte des Gottesglaubens dem Grundvertrauen eine Erfahrung von Gott entgegentritt, die auch über die genannten Paradoxieerfahrungen hinweg aufrechtzuerhalten vermag (253)."

Diese Erfahrung ist das Ereignis der Liebe Gottes im Kreuz Jesu Christi. Der Vf. geht dann auf die theologischen Entwürfe Moltmanns und Jüngels ein, die das Kreuzesgeschehen zum Angelpunkt des Gottesverständnisses machen. Zwar sieht Jüngel seine Theologie anders als Moltmann - und anders, als der Vf. intendiert - nicht als Antwort auf die vom Menschen gestellte Theodizeefrage. Gleichwohl weiß sich der Vf. einig mit der von Jüngel vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem menschlichen "Liebe haben" und dem davon unabhängigen göttlichen "Liebe sein" (3O1) und sieht in dieser Unterscheidung die Probleme aufgenommen, die sich insbesondere von Camus her stellen, daß "wir nämlich die Liebe als eine vom Liebenden unterschiedene Macht bestimmt haben, an der ich liebend in gebrochener Weise Anteil gewinne (253)."

Der Vf. präzisiert die transzendentale Fragestellung Rahners für die Theodizeeproblematik in ihrer nichtreligiösen Gestalt. Er will die darin virulenten Fragen vorantreiben hin zu ihrer Verwandlung in eine transzendental-theologische Fragestellung. Das kann aber für ihn nicht heißen, daß auch die Antwort deduziert werden dürfte. Diese kann nur kontingent sein und allein geschichtlich gegeben werden, muß aber hinsichtlich ihres Geltungsanspruches, d. h. ihres Begründungszusammenhanges, transzendental eingeholt werden können. So führt die Frage nach dem Begründungszusammenhang für eine Antwort zurück auf die Geschichte, die - wissenschaftstheoretisch ausgedrückt - den Entdeckungszusammenhang darstellt, wenn eine Antwort den Menschen erreichen soll.

Die vom Vf. im Zusammenführen von transzendental entwickelter Fragestellung (resp. Begründungszusammenhang) und geschichtlicher Erfahrung (resp. Entdeckungszusammenhang) gegebene Antwort auf die Theodizeefrage lautet dann im dritten Teil des Buches dahingehend, daß die Paradoxie wohl nicht aufgelöst, aber durch die Erfahrung einer Liebe, die nicht identisch ist mit der offenkundigen Schwäche des liebenden Menschen und an der er gleichwohl Anteil hat, objektiviert und insofern ausgehalten werden kann. Es ist die Liebe Gottes im Kreuzesgeschehen, die im Gegensatz zur absoluten und passiven Ohnmacht des Menschen hinsichtlich der Durchsetzung des sittlich Gewollten einen aktiven, um der Freiheit des anderen willen geleisteten Machtverzicht darstellt. Dieser geschieht in der Macht der Liebe um der Liebe willen (346). So schafft diese Liebe durch die Ohnmacht des Todes hindurch neues Leben und birgt den Tod in sich. Indem der Mensch noch in der Erfahrung der Ohnmacht seiner Liebe an dieser Liebe Gottes partizipiert, wird die Paradoxieerfahrung in die Gestalt gläubigen Vertrauens, das liebenden Einsatz gegen das Leid und Hoffnung auf Gottes Antwort auf die jetzt noch unbeantwortbaren Fragen entbindet, verwandelt. Auf diese Weise vermag sich dann auch die kindliche Urerfahrung des Vertrauens nicht nur durchzuhalten über alle Enttäuschungen hinweg, sondern wird im Licht der Liebe Gottes als Verheißungsgestalt dieser Liebe identifiziert.

Das Verdienstvolle des Buches liegt nicht nur darin, die Theodizeefrage in ihrer protestatheistischen Gestalt umfassend reflektiert zu haben. In dieser Reflexion gelingt es dem Vf., die darin aufgeworfenen Fragen als Bezugs- und Relevanzpunkt für die Theologie des Gekreuzigten herauszuarbeiten und sie auf diese Fragen hin zu entfalten. Dieser Ansatz mag von manchem beargwöhnt werden. Freilich muß er sich dann die Frage gefallen lassen, wie sonst theologisch mit dem Problem der Theodizee, inwiefern dieses von außen an die Theologie herangetragen wird, umgegangen werden kann und soll.

Der Reichtum der Analysen, insbesondere des Werkes von Camus und der Darlegungen Hegels zur Theodizeeproblematik, und der Effekt, zugleich mit einer konkreten Sachfrage verbunden in bedeutende theologische Entwürfe der Gegenwart eingeführt zu werden, macht das Buch zu einem Studierwerk. Fern von allem bloß Plakativen und Thesenhaften fordert es zum Mitdenken heraus und belohnt die Mühe mit einem erheblichen Erkenntnisgewinn.