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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

722–725

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Haas, Hanns-Stephan

Titel/Untertitel:

"Bekannte Sünde." Eine systematische Untersuchung zum theologischen Reden von der Sünde in der Gegenwart.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1992. IX, 285 S. 8o = Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie, 10. Kart. DM 58,-. ISBN 3-7887-1409-3.

Rezensent:

Christine Axt-Piscalar

In der Hauptsache führt der Vf. eine weitgehend kritische Auseinandersetzung mit der Sündenlehre W. Pannenbergs (63-179). Er legt dafür dessen "Anthropologie" (1983) und themenbezogene Aufsätze zugrunde, während der erst 1991 erschienene Bd. II der "Systematischen Theologie" noch nicht berücksichtigt ist. Für die Drucklegung ist die bei G. Sauter in Bonn angefertigte Dissertation um ein kurzes Referat der Hamartiologie von Chr. Gestrich erweitert worden (180-203). Die Arbeit wird eingeleitet mit einer Übersicht über das "Reden von Sünde - heute"( 4-62). Dabei werden in einer jeweils knappen Darstellung eine Vielzahl von Beiträgen, zumeist Aufsätze, vornehmlich der letzten dreißig Jahre gesichtet, die alle die Überzeugung von einer tiefgreifenden Krise des Redens von der Sünde teilen (4). Die Frage nach der Beurteilung der Krise in der zeitgenössischen Theologie hat den Vf. zu einer Typologisierung wahrgenommener Erklärungsversuche ohne Anspruch auf Vollständigkeit (3) geführt. Unterschieden werden drei (von einander zu trennende?) Grundtypen: Der erste führt die Krise des theologischen Redens von der Sünde auf geistesgeschichtliche Gründe zurück (5, 9 ff., ihm wird Pannenberg zugeordnet 75 ff.); der zweite versteht sie als eine "Krise der modernen Situation selber" (5, 40 ff., ihm sowie dem dritten gehört Gestrich zu, vgl. 189 ff.); der dritte geht davon aus, daß sie Ausdruck für die Krise der Vergebungserfahrung ist (5, 61 ff., zu Gestrich 181 ff.). Des Vf.s eigene, eng an diejenigen von Sauter anknüpfende Überlegungen, gehören dem dritten Grundtyp an und be-schließen den Band (214-249).

Der Titel der Untersuchung spielt auf die doppelte Verwendung des Wortes "bekannt" an und kennzeichnet die vom Vf. anvisierte Abgrenzung sowie den eigenen systematischen Ansatzpunkt. Die Sünde ist nicht bekannt (vgl. bes. 219 ff.). Das wird grundsätzlich eingewandt gegen Pannenberg, demzufolge "der Erfahrungsbezug der Sünde... letztlich ein verifizierbarer Bezug zu empirischen Basisdaten" (2) sei. Aber auch in Gestrichs Versuch einer Beziehung der Sündenlehre auf die Überlebenskrise der Menschheit sieht der Vf. eine "Innenspannung", denn das impliziere eine "prinzipiell jedermann nachvollziehbare theologische Sündenlehre", wohingegen diese "natürlicher Aneignung nicht einfach offensteht." (2, vgl. 194, 196, 199, bes. 201 f., 208 f., 212). Die Sünde ist im Sündenbekenntnis, mithin nur als bekannte Sünde auch bekannt. Das Sündenbekenntnis ist gebunden an den Vergebungszuspruch und die Sündenlehre daher pneumatologisch, näher ekklesiologisch zu verorten (247 ff., mit Gestrich 182 ff.).

Auf der Einsicht in diese "Erkenntnisordnung" (253) für die Erkenntnis der Sünde als Sünde beharrt der Vf. zu Recht. Problematisch hingegen ist sein kritisch gewendeter Umgang mit ihr. Das theologische Reden von der Sünde ist nach dem Vf. ein "Sprachspiel", das sich zwar intern auf die Regeln seines Funktionierens hin überprüfen (236) läßt, dessen Überprüfung jedoch "nicht außerhalb des Verständigungsbereiches möglich" (236, vgl. 237) ist. Diese Einsicht handhabt der Vf. so, daß er faktisch jedwede Plausibilierung der Sündenlehre an der Selbst- und Welterfahrung des Menschen (vgl. auch seine Kritik an G. Ebeling 41 ff. und G. Schneider-Flume 33 ff.) ablehnt (trotz 229 f.) als eine dem theologischen Sprachspiel äußerliche. Damit entsteht die Frage nach der möglichen Beziehbarkeit der Rede von der Sünde auf die faktische Existenz des Sünders, von der sie doch handelt. Diese "Innenspannung" ist ganz offenbar eine solche, die mit der theologischen Rede von der Sünde selbst verbunden ist, insofern sie den Selbstvollzug des natürlichen Menschen als Sünde qualifiziert, also eine Implikation des ,intern funktionierenden Regelsystems' darstellt.

Den mit seiner materialen Darstellung der jeweiligen Entwürfe verbundenen Anspruch relativiert der Vf. mit Bedacht. Er gebe eine "systematische Feldbeschreibung" (1, 3), die "keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt" (3).

Zunächst geht der Vf. auf Pannenbergs geistesgeschichtliche Standortbestimmung als Horizont für seine Durchführung der Sündenlehre ein (vgl. 63-75). Sie wird mit der Etikette "geschichtsphilosophisch überhöhte() Subjektivitätstheorie" (69, vgl. 73) belegt, als nicht "so eindeutig" (77) und, was wichtiger ist, als untauglich für die theologische Rede von der Sünde zurückgewiesen (75, vgl. 103) und damit die Beziehung der Sündenlehre auf die Problematik der Subjektivität, Identitätsbildung und Sinnfrage des einzelnen abgelehnt. Der Vf. wittert Hegelianismus (vgl. 77 ff., 123). Pannenbergs durchgängige Kritik am transzendentalen Ich, mit der diejenige am Handlungssubjekt einhergeht, kann dabei im Eifer des Gefechts (obwohl gesehen 73, 119) ebenso zurücktreten wie der Stellenwert etwa der Gedanken Herders, Schleiermachers und Kierkegaards für Pannenbergs Ausführungen. "Geschichtsphilosophische Spekulation" (81, vgl. 82) ist für den Vf. der Gedanke einer "werdenden Identität", während P. in ihm zumindest auch die Ergebnisse der empirischen Persönlichkeitstheorien und die Bedeutung der Eschatologie einzubeziehen sucht.

An Pannenbergs inhaltlicher Durchführung beanstandet der Vf. die "Ontologisierung des noetisch Postulierten" (115, 118, 119), nämlich des für die Gegenstands- und Selbstwahrnehmung faktisch in Anspruch genommenen Gedankens des Ganzen der Wirklichkeit, der ihm wiederum als "eine Setzung des orientierungsbedürftigen Menschen" (117, vgl. 118) gilt. Den nolens volens auch vom Vf. zugestandenen "Zug zum Unbedingten" verwechsle Pannenberg mit einem "faktische(n) Zugang" zu diesem (118, vgl. 119, 120; zu denselben Vorwürfen vgl. bereits F. Wagner, Was ist Religion?, 503 f., ohne Bezug beim Vf.). Pannenberg indes handelt von einer "impliziten" und "unausdrücklichen" Bezogenheit des Menschen auf den absoluten Grund, die zu einer "bewußten" Thematisierung als Gottesglaube nur im Überlieferungszusammenhang der positiven Religionen und näher der christlichen Religion werden kann - von welchem her dann auch allererst der Projektionsvorwurf zu entkräften wäre. (Vgl. Anthropologie 65 ff. und - ohne Bezug beim Vf. - Syst. Theol. Bd. I, 1988, 125 ff.; 155 ff., 207 ff.).

Pannenbergs Betonung der Exzentrizität des Menschen be-deutet dem Vf. zufolge, daß "die Selbsttranszendenz des Menschen an sich" von der Sünde ausgenommen (121), der Mensch mithin nicht totaliter Sünder sei (121, 178, vgl. 162 ff., s. aber u.). Die Sünde sieht der Vf. "auf eine insuffiziente Selbstauslegung (beschränkt), die... nahe an einen intellektuellen Defekt herankommt" (121), wo der Vf. selbst feststellt, daß der Sinnausgriff für Pannenberg mehr ist als "eine noetische Leistung" (116). Der für Pannenbergs Konzeption grundlegende Gedanke einer impliziten Sünde im selbstbezüglichen Selbstvollzug des Menschen (Anthropologie 89 ff., 134), mit dem er die Vorstellung von der Sünde als eines bewußten, in der Wahlfreiheit gründenden Widerspruchs zu Gott zu überwinden sucht und mit ihm auch den Gedanken verbindet, daß "erst von Gottes Selbstoffenbarung her" die Sünde vollends als "Abwendung von Gott" erhellt werde (Anthropologie 89, 130 ff.), wird vom Vf. nicht gestreift.

Sünde ist für Pannenberg die Dominanz der Zentralität gegenüber der Exzentrizität im Selbstvollzug des Menschen und der Vf. stellt zu Recht fest, "daß der Bruch nicht auszumachen ist" (129), durch welchen es zu dieser Dominanz gekommen ist, von einem "realen Übergang" könne nicht die Rede sein (132), Pannenberg insistiere vielmehr auf dem "immer schon der Gebrochenheit" (131), woraus sich die von ihm "angestrebte(n) Verbindung von Natur und Sünde" (139, vgl. 148) ergebe. Die Sünde als "fundamentale Vorfindlichkeit" sei bei Pannenberg mit der Willentlichkeit des Menschen so verbunden, daß der Mensch sie "nur noch durch seinen Willen zu perpetuieren oder zu totalisieren die ,Freiheit' hat" (139). Dennoch sieht der Vf. bei Pannenberg den Gedanken der guten Schöpfung unterbestimmt (150) und hält den Begriff der Bestimmung des Menschen für "völlig unanschaulich" (151), was übersieht, daß Pannenberg ihn christologisch füllt (Anthropologie 133 ff.).

Pannenbergs Kritik am Begriff der Freiheit als Indifferenz- bzw. Wahlfreiheit als Voraussetzung der Schuldzurechnung (vgl. 151 ff.) wird als "wegweisend" angesehen (151, vgl. aber 155) und ebenso wird die Entfaltung der Zusammengehörigkeit von Selbst-, Welt- und Gotteserfahrung im Gefühl und Gewissen gutgeheißen (vgl. 178, kritisch gegen Gestrich 188, 202).

Das Referat zu Gestrich hält neben dem o. Genannten fest, daß er die Krise der Sündenerkenntnis auf die Kirche als "An-bieterseite der Vergebungserfahrung bezieht (203 ff.), für welche er den Bezug auf die Gemeinschaft der Christen betont (204). Sünde manifestiert sich im "Selbstrechtfertigungszwang" (als ein idealistisches Erbe 185, 195), der zur "Vergötzung" der Natur und des anderen führt (199), während der im Stellvertretungsgeschehen am Kreuz begründete Vergebungszuspruch Stellvertretung auf der Seite des Menschen ermöglicht und so vom "Selbstrechtfertigungssyndrom" (183, 196 ff.) befreie.

In summa: Der Vf. liefert eine nicht leicht lesbare, manchmal auch nicht nachvollziehbare (122, 125, 202) Arbeit, bei der der Wille zur Kritik die Darstellung der systematischen Intention des behandelten Entwurfs überlagert, was - ganz unabhängig von der jeweils besprochenen Position - m. E. immer abträglich ist. Gleichwohl stellt sie eine Vielzahl bedenkenswerter Anfragen und ist eine der ersten, die sich ausführlich mit Pannenbergs Anthropologie auseinandersetzt.