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Ausgabe:

September/1997

Spalte:

839–841

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Villwock, Jörg

Titel/Untertitel:

Die Sprache – ein "Gespräch der Seele mit Gott". Zur Geschichte der abendländischen Gebets- und Offenbarungsrhetorik.

Verlag:

Frankfurt/M.: Klostermann 1996. XIII, 686 S. 8 = Das Abendland, N. F. 24. Lw. DM 138,-. ISBN 3-465-02867-8.

Die Themenstellung des anzuzeigenden Bandes ist geeignet, eine Neuentdeckung der Rhetorik für die christliche Theologie zu ermöglichen. Ausgehend von der Darstellung eines von dem in der gorgianischen Sophistik manifesten unterschiedenen Rhetorikverständnisses in den Tragödien des Aischylos, gefaßt als eine Rhetorik des Erhabenen (die Systematik Quintilians wird später das genus grande vom genus medium und dem genus tenue unterscheiden), versteht sich die Studie des Autors, der derzeit im Rahmen der deutschen Philologie an der Universität zu Frankfurt lehrt, als Beitrag zu einer Geschichte der religiös motivierten und abzweckenden, zumal christlichen Rhetorik des Erhabenen bis hin zu ihrer Wiederentdeckung und Reformulierung in der deutschen Romantik. Die Analyse der vorgestellten Entwürfe der abendländischen Geistesgeschichte wird einer Rhetorikkonzeption ansichtig, welche sich nicht lediglich als profane Technik versteht, sondern, indem sie des inneren Gespräches des Menschen, seiner Selbstreflexion gewahr wird, als "Gespräch der Seele mit Gott", um mit Schlegel zu formulieren, sich als Rhetorik des Gebetes darstellt. War man im binnentheologischen Diskurs zuletzt gewohnt, die Rhetorik nurmehr als interpretatorisches Instrumentarium oder aber zur Reflexion der Logizität der eigenen Disziplin heranzuziehen, so ergeben sich nun aufregend andere Anforderungen:

"Wo die Philologie bislang lediglich ein aus der griechischen Kulturentwicklung resultierendes profanes [alle Kursivierungen in Zitaten stammen vom Autor des Buches; H. L.] Stilprinzip zu sehen gewohnt war, wird sie nun mit einem religiösen Bezug konfrontiert, dessen Tragweite die Mitwirkung der Theologie selbst an der Klärung des Begriffs der Rhetorik und ihres geschichtlichen Werdens unumgänglich macht. Die Befreiung des Blicks von der humanistischen Verengung öffnet die Sicht auf die nicht im ,Menschlichen' verankerten Komponenten des Rhetorischen, die seinen Zu-sammenhang mit antiken Mysterien und christlicher Offenbarung begründen" (5).

Die Theologie ist aufgefordert, ihre spezifische Fragestellung analytisch fruchtbar zu machen für einen historisch-philologisch wie vornehmlich "philosophisch-phänomenologisch" (vgl. XIII) argumentierenden Gedankengang. Nichts weniger als die Wiederentdeckung und integrative Bearbeitung abendländisch-geisteswissenschaftlicher Fragestellungen in Hinsicht auf eine zukünftige allgemeine Theorie des Selbstbewußtseins ist angestrebt: "Rhetorik - so lautet der leitende Grundsatz - betrachtet die Rede und ihre Formen mit Rücksicht auf den selbstbewußten Geist des Menschen" (23). Dabei steht philosophisch bzw. theologisch viel auf dem Spiel, denn der angestrebten geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung muß es um den phänomenologischen Aufweis von Sinn als erfahrbares Ereignis im Transzendenzbezug gehen: "Ob Subjektivität bzw. Intersubjektivität und Realität eine letzte, für den Erkenntnisimpuls unübersteigbare Alternative bilden, gilt uns als eine Frage, an der sich entscheidet, ob Geisteswissenschaft in Diskursverwaltung aufgeht oder nicht" (64 Anm. 1 [auf 65]). Daß eine diesen Anspruch formulierende und so mit dem wissenschaftlichen Programm zugleich ihr kritisches Potential bestimmende geistesgeschichtliche Untersuchung den Ziel- und Schlußpunkt ihrer Darstellung im deutschen Idealismus, bei Schlegel und Schelling findet, verwundert nicht, auch wenn die Arbeit explizit wie implizit weitere Ausblicke ermöglichen und durch die Bearbeitung ihres Gegenstandes insgesamt "wesentliche Aspekte der Vorgeschichte der Moderne faßbar" (27 Anm. 32 [auf 28]) machen möchte.

Doch auch die Anregungen und Konsequenzen für die theologische Sicht der Rhetorik und ihre Inanspruchnahme in den Einzeldisziplinen könnten erheblich sein. Denn:

"Jenseits mechanischer Vorstellungen von Ideenverkettung und Wissenstransport, die nur allzuoft zur Kenntnisnahme der schöpferischen Ur-sprünge unfähig machen, zeichnen sich... die Konturen eines Problemkreises ab, dessen Bearbeitung den Begriff der Rhetorik selbst modifiziert, indem sie ihn zu einem historischen Problemkomplex in Beziehung setzt, der zwischen Heidnischem und Christlichem in der Mitte liegt, an beidem partizipiert und so das Scharnier bildet, das sie auseinanderhaltend verbindet. Den ersten Impuls gibt dabei die Entdeckung einer von der hellenistischen unabhängigen christlichen Rhetorik, welche die Geltung jener gängigen Ansicht begrenzt, wonach die Redelehre als profanes Bildungsgut zu betrachten sei, das innerhalb des frühen Christentums aus mehr oder weniger opportunistischen Gründen Aufnahme gefunden habe, um seine Akzeptabilität zu steigern. Der so erweiterte Begriff der Rhetorik erfaßt unter den neutestamentlichen Schriften insbesondere die paulinische und die jo-hanneische Literatur" (10).

Nach der Einleitung, welche Fragen, Methodik, Gegenstände und mögliche Ziele des Untersuchungsganges in (für das Buch insgesamt typischer) komplexer Verknüpfung und bisweilen allusiver Knappheit, welche auch polemische Abgrenzung nicht ausschließt, anspricht (1-63), erarbeitet der Vf. in weiteren neun Großkapiteln Bausteine zur Konstruktion der von ihm angestrebten Geschichte der hypsos-Rhetorik. Gegenstand der Darstellung werden dabei:

"Rhetorik und Gebets-Mystik in der Orestie des Aischylos" (64-117), "Grundlagen und theologische Aspekte der Rhetorikkonzeption bei Platon und Aristoteles" (118-182), "Die Christianisierung der Rhetorik" besonders in der Gnosis und im Neuplatonismus (183-306; 277 ff.: Exkurs zu Augustin), "Die Verbindung von Gnosis und Stoa in der Gebetsrhetorik des Origenes" (307-380), die "Theologisierung der Rhetorik bei Johannes Scotus Eriugena" (381-421), "Die Gebetsrhetorik des Wilhelm von Auvergne" (422-510), "Das Gebet als geistige Aktion" bei Francisco Suarez (511-545), "Grundformen der Offenbarungsrhetorik und -poetik in Kontexten der frühen Neuzeit (546-605) sowie zuletzt Ausführungen zum "Verhältnis von Mystik und Rhetorik im Barock und in der Romantik" (606-644; 645-670: Literaturverzeichnis; 671-686: Namens- und Sachregister).

Wie dieser Überblick bereits erkennen läßt, bietet die Untersuchung weder einen auf Vollständigkeit drängenden historischen Abriß, welcher die großen Linien einer christlichen (ein auch traditionsgeschichtlich gewiß ertragreicher Blick auf die jüdische Philosophie unterbleibt leider) Rhetorik des Erhabenen gleichsam lehrbuchartig vor Augen führte, noch auch eine gleichmäßig eindringliche Exegese bedeutsamer Entwürfe der abendländischen Geistesgeschichte zum Thema. Den Vf. führt seine Methodik zu einer belesenen, doch nicht durchweg leicht zu lesenden Mischung von Darstellung größerer Zusammenhänge, paraphrasenartigem Nachzeichnen einzelner Schriften und deren philosophischer Kommentierung sowie dem Aufweis von gedanklichen Aufnahmen oder zumindest Analogien bis in die Philosophie- und Literaturgeschichte des 20. Jh.s. Zwar wird immer wieder der Bezug zum übergreifenden Problemhorizont gesucht (u. a. auch mit Hilfe der leitmotivisch eingesetzten Kategorien des Enthymems und der Gestalt, ohne daß mir übrigens der interpretatorische Gewinn ihrer Evozierung in jedem Falle deutlich geworden wäre), doch droht in der "Fülle der Einzel-themen" (XIII) der Erkenntnisgewinn für den übergreifenden Fragehorizont bisweilen außer Sicht zu geraten - wenn nicht dem Autor, so doch seinem Leser. Auch vermag die Durchführung der Untersuchung die Bedenken, die sich gegenüber ihrem Programm ergeben, nicht gänzlich auszuräumen, ob nämlich eine stärker problem- als ideengeschichtlich orientierte Analyse nicht im Einzelfall zu zwar zurückhaltenderer, dem jeweiligen zeitgenössischen Diskurs aber angepaßterer Textinterpretation geführt hätte.

Meisterstück und ",exzentrische Mitte' der ganzen Abhandlung" (23) bildet die skizzierende Paraphrase und Analyse der theologiegeschichtlich selten beachteten, zum aszetischen Schrifttum zu rechnenden Rhetorica divina des Wilhelm von Auvergne (gest. 1249 in Paris) im siebten Kapitel. Einer der Leitgedanken der ganzen Untersuchung, Nähe und Unterscheidung der Rhetorik des Erhabenen von der gewöhnlichen (Gerichts-)Rhetorik, kommt in Wilhelms Schrift zu klarem Ausdruck. Die Rhetorica divina deckt den Zusammenhang zwischen der Rede ad hominem und derjenigen ad Deum auf, in-dem sie die Differenz in der Analogie klar herausstellt:

"Sieht man näher zu, so wird das Gebet unter zwei antithetischen Gesichtspunkten unterschieden, nämlich unter dem des Primats und dem der Vorherrschaft: Dem, was im Gebet vorherrscht, kommt in der gewöhnlichen Rede der Primat zu und umgekehrt. Das im Gebet Primäre ist nun ersichtlich der Selbstbezug, in der gewöhnlichen Rede ist es der Ausgriff auf "anderes". Dieser Fremdbezug bildet jedoch hier nur die Oberfläche, die das tatsächlich Vorherrschende deckt: die Egoität. Im Gebet aber geht es demgegenüber um das Einrücken in ein Selbstverständnis, das es ermöglicht und gestattet, daß der Fremdbezug wahrhaft vorherrschen kann" (448).

So kann das Gebet in Analogie zu den geläufigen rhetorischen Kategorien in Exordium, Erzählung, Bitte, Ermutigung, Entkräftung und Konklusion gegliedert und abgehandelt werden, doch werden diese Kategorien in Wilhelms Konzeption zu antithetischen "Figurierungen des Geistes und der ihm zugehörigen Redeformen" (451). So macht etwa das Gebetsexordium nicht den Richter, sondern den Betenden selbst aufmerksam, sich dem eigenen Sein zuzuwenden, "in dessen grundloser Nichtigkeit allererst ein wahrhaft Anderes, ein Heterogenes begegnen kann" (453). Indem sich so die Frage nach dem Selbst mit derjenigen nach der Substanz verknüpft, erfährt die Rhetorik als Gebetsrhetorik ihre - deutlich neuplatonisch beeinflußte - Aufwertung als fundamentalphilosophische Reflexion und Meditation; die Darstellung ihrer Lehre geht in den Vollzug des Gelehrten als Gebet über.

Die vorliegende Arbeit empfiehlt sich dem, der sich auf ihren methodischen Zugriff einläßt, durch die Originalität und Tiefe ihrer Fragestellung, durch die Auswahl des ausgebreiteten Materials (auch wenn z. B. der Beitrag der reformatorischen Theologie zur Thematik zu knapp am Beispiel von Melanch-thon aufgezeigt wird), das zum weiteren eigenen Studium verleitet sowie die Fülle der vermittelten Einsichten und Anregungen. Sie liefert wertvolle Bausteine für eine künftige Geschichte von Rhetorik und Poetik, welche der Rhetorik des Erhabenen den ihr zukommenden Platz einräumen wird. Die Theologie sollte an dieser bemerkenswert interdisziplinären literaturwissenschaftlichen Arbeit keinesfalls vorübergehen.