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Ausgabe:

Juli/August/1997

Spalte:

753 f

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Delgado, Mariano

Titel/Untertitel:

Abschied vom erobernden Gott. Studien zur Geschichte und Gegenwart des Christentums in Lateinamerika.

Verlag:

Immensee: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 1996. XLVIII, 356 S. gr.8 = Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, Suppl., 43. Kart. sFr 46.-. ISBN 3-85824-077-X.

Rezensent:

Hermann Brandt

Mit einer religionsgeschichtlichen Studie (Die Metamorphosen des Messianismus in den iberischen Kulturen, Immensee 1994) promovierte der Autor, gebürtiger Spanier, im Fach Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin; das hier anzuzeigende Buch ist seine von der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck angenommene Habilitationsschrift für das Fach Fundamentaltheologie.

In ihrem Titel kommen beide Interessen - das historische und das systematische - zum Ausdruck: "Abschied vom erobernden Gott" bezeichnet sowohl das heuristische Motiv der religions- bzw. missionsgeschichtlichen Partien des Buches wie auch die programmatische Quintessenz. Die Evangelisierung autochthoner Völker in Lateinamerika wird - deskriptiv - "als ein doppelter religionsgeschichtlicher Reinigungsprozeß" gesehen: einerseits als ein Kampf zwischen jüdisch-christlichem Monotheismus gegen den Polytheismus, ein Kampf, in dem sich echte christliche Apologetik "vorkonstantinischer Zeit" und massive Druckmittel "des erobernden Christentums der Ecclesia militans" mischen, andererseits auch als "ein binnenmonotheistischer Kampf des messianischen Gottes Jesu und seiner wahren Jünger... gegen den von den Christen selbst mitgebrachten erobernden Gott" (70). Daraus zieht D. - thetisch - die Konsequenz für Theorie und Praxis einer "Neuevangelisierung" Lateinamerikas im Geiste des II. Vaticanums: endgültiger Abschied vom erobernden Gott, Förderung des prophetischen Freimuts, Dienst am Leben (Joh 10,7-10), Ausklammerung "jeder Herrsch- und Habsucht" aus der christlichen Rede von Gott, "wobei die Bischöfe ,kraft göttlichen Rechtes' verpflichtet sind, ,unermüdlich und unerbittlich' für die Befreiung der Unterdrückten einzutreten" (unter Berufung auf Las Casas in der Schlußbilanz des Buches, 329 f.).

In den einzelnen Kapiteln greift der Autor häufig auf frühere Veröffentlichungen zurück. Deren Charakter - instruktive, ex-emplarische "Fallstudien" (vgl. 302) - ist erhalten geblieben.

Auf die Einleitung ("Abschied vom erobernden Gott - Für eine fundamentaltheologische Betrachtung der Christentumsgeschichte [Lateinamerikas]") folgt als Teil I eine "Theologische Grundlegung", die aber eigentlich eine spannend geschriebene und quellengesättigte Beschreibung verschiedener historischer Modelle der theoretischen und praktischen Bestimmung des Verhältnisses zwischen iberischem Katholizismus und indianischer Religion und Kultur bietet: "Mission im Schatten des Kolonialismus"; "Inkulturation oder Transkulturation? - Die Evangelisierung der indianischen Kulturen am Beispiel der Trinitätskatechese" sowie "Von der Verteufelung zur Anerkennung durch Umdeutung - Der ,Wandel' in der Beurteilung der indianischen Religionen durch die christliche Theologie".

Im II. Teil ("Die messianische Alternative") geht es einmal um die Auswirkung des Motivs der elften Stunde (Mt 20,6), nämlich die ",chiliastische Versuchung' bei den Franziskanern Neuspaniens im 16. Jahrhundert" und um den Verlust "der ökumenischen Unschuld" der "Theologie im Schatten des Kolonialismus" unter Bezug auf die folgenreiche Argumentation des anonymen Parecer de Yucay aus dem 16. Jh., in dem die Neue Welt als Gottes "bestialische", häßliche Tochter, die Alte Welt aber als "sehr schöne" und weiße, kluge und anmutige Tochter beschrieben wird: Wie ein Vater nur bei der häßlichen eine Mitgift bieten muß, um sie zu verheiraten, so habe Gott der Neuen Welt sagenhafte materielle Reize (Berge von Gold und Silber) verliehen, damit - von diesem "Duft" angelockt - die Christen das Evangelium nach Amerika brächten: "die Schätze" der amerikanischen "Bestie" also als Mittel göttlicher Heilsökonomie (243 f., 257-260)!

Teil III bestimmt "Die gegenwärtige Aufgabe" der Theologie als Herausforderung zum kritischen Dialog mit synkretistischen nachchristlichen Mythen und Riten, die das "Trauma der Conquista" auf ihre Weise verarbeiten und Identität stiften wollen. D. analysiert den Inkarrímythos der Qechua, diskutiert die jüngsten Publikationen von Leonardo Boff ("Regnozentrischer Synkretismus im Weltmaßstab?") und schließt mit einem Plä-doyer für ein "Messianisches Christentum jenseits des ,erobernden Gottes'".

Neben dem ausführlichen Literaturverzeichnis (34 Seiten) und Registern enthält das Buch einige Skizzen und Abbildungen, vor allem sind die sieben ausführlichen Quellenanhänge hervorzuheben, die der Autor an das Ende der einzelnen Kapitel gestellt hat.

Die Stärke der "Studien" liegt ohne Zweifel in der differenzierenden Aufarbeitung der Positionen und Argumentationen vor allem des 16. Jh.s zum Verhältnis des iberischen Christentums zu den indianischen Kulturen und Religionen.

Die Schwerpunktsetzung impliziert freilich die Ausblendung der Bedeutung und des Beitrags afrikanischer bzw. "schwarzer" religiöser und kultureller Traditionen (besonders angesichts der Herausforderung durch die synkretistischen Religionen, vgl. Teil III). Ebenso hätte das Verhältnis zwischen den chiliastischen Anschauungen (des 16. Jh.) und den Pfingstbewegungen und -kirchen im Lateinamerika von heute thematisiert werden können. Auch sei angemerkt, daß sich der Vf. in lebhafter Polemik gegen die Fortsetzung des Konfessionalismus bei der Darstellung der lateinamerikanischen Missionsgeschichte (durch Autoren wie Benz und Prien, vgl. 113 f.) wehrt, daß ihm dann aber die Widerlegung entgegen seiner Intention ("Ökumene [!] des Versagens", 67-70) gelegentlich doch zu einer konfessionellen Aufrechnung unter umgekehrten Vorzeichen gerät (vgl. 68 f., 164).

Vor allem aber empfinde ich die durchgehende Verwendung der Kategorie des Messianischen bzw. des Messianismus als problematisch. Beide Begriffe werden alternativ verwendet; "messianisch" steht für das Gesamtkonzept der Studien: Der "messianische" Gott Jesu repräsentiert den "Abschied vom erobernden Gott" (11), die "messianische" Alternative. Dem ",messianischen Gott' (Jesu)" (ebd.) steht die Versuchung des "politischen Messianismus des Alten Exodus" (16) gegenüber - seit der Landnahme Israels, dem "politischen Messianismus des ,Gott-mit-uns' (und gegen alle anderen)" (ebd.), über die puritanischen "Jahwelehrlinge" (68) bis in die Gegenwart. "Messianismus" kennzeichnet das gewalttätige, unterdrückerische Prinzip, der Zweck könne die Mittel heiligen (unter häufiger Berufung auf Röm 3,8). Der christlichen Theologie wird so die Aufgabe gestellt, das "wahrhaft ,Messianische' vor den Umschlag in den ,Messianismus' zu bewahren", wobei "messianisch" und "apokalyptisch" identifiziert werden (310). Diese gegensätzliche Bewertung und Verwendung von "messianisch" und "Messianismus" hätte einer Begründung bedurft.

Diese Rückfragen wären allerdings mißverstanden, wenn sie als Kritik an der Tatsache aufgefaßt würde, daß der Autor bei seinen Darstellungen durchaus energisch wertet. Seine Studien zeigen immer wieder die Fähigkeit, die Anwendung der Unterscheidung zwischen dem erobernden und dem messianischen Gott mit scharfsinnigen Analysen zu verbinden, die verbreitete Klischees bei der Wahrnehmung der Geschichte Lateinamerikas entlarven.

Nur zwei besonders beeindruckende Beispiele seien genannt: einmal der Nachweis der tendenziösen "Fälschung" des Argueda-Zitats durch Gustavo Gutiérrez in dessen "Gott oder das Gold" (274 f. mit Anm. 24), und dann die Analyse des nachchristlichen "indianischen" Inkarrí-Mythos (aus: Inka und Rey = König). D. analysiert ihn als Typus ",nativistisch-chiliastischer' Ideologie" und zeigt in Anlehnung an René Girard, daß selbst eine christliche Missionspredigt "im Schatten des Kolonialismus" aufklärend und kritisch gewirkt und einen "Übergang vom Mythos zum Ethos im Andenraum" befördert hat (261-302).