Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/1996

Spalte:

839 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Thüsing, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Studien zur neutestamentlichen Theologie. Hrsg. v. Th. Söding.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1995. VIII, 327 S. gr. 8o = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 82. Lw. DM 198,-. ISBN 3-16-146337-4.

Rezensent:

Ulrich Schoenborn

Der Habilitationsvortrag (Würzburg 1964) und die Abschiedsvorlesung (Münster 1983) markieren den Zeitraum, aus dem die hier anzuzeigenden Studien stammen. W. Thüsing gehört, so der Hg., zur "Generation der katholischen Exegeten, die den historisch-kritischen Methoden der Exegese in ihrer Konfession Geltung verschafft haben" (V). Leitgedanke, der alle Studien miteinander verbindet, ist die Suche nach der theologischen Einheit des Neuen Testaments. Zugleich wird den verschiedenen ntl. Konzeptionen Respekt gezollt. Theologische Vielfalt ist als Reichtum erkannt, ohne daß die Spannung zwischen den vorhandenen Perspektiven einem zwanghaften Harmoniedenken zum Opfer fällt. An der Vorgehensweise des Vf.s fällt auf, daß er, wenn es um zentrale theologische Themen geht, sich immer bemüht, ihre ntl. Basis zu erkennen und in die Diskussion einzubringen. Darum gehört der Dialog des Exegeten mit der Systematischen Theologie zu den impliziten Voraussetzungen, deren Tragweite stets neu zu erproben ist.

Die Titel der Studien verraten eine Spannweite, die von Jesus über Paulus zum Johannes-Kreis reicht bzw. unter gattungskritischem Gesichtspunkt Evangelien, Briefe und die Johannes-Offenbarung umgreift. In diesem Horizont erscheinen aktuelle Fragestellungen u. a. aus der Gotteslehre, Christologie, Ethik und Ekklesiologie. Fundamentaler Faktor ist die Einsicht, daß im Christusgeschehen Ursprung und Kriterium aller christlichen Theologie liegt (vgl. 59-99). Darum sind Christologie und Theologie nicht voneinander zu trennen (vgl. 3-22). Jesu Gotteserfahrung mit ihrer absteigenden und aufsteigenden Theozentrik begründet Strukturlinien, deren "Bleibendheit" orientierende Wirkung hat. Das Neue und Bleibende des Christusglaubens gewinnt durch hermeneutische Reflexion an Plausibilität, wobei das Gespräch mit D. Bonhoeffer (vgl. 74 u. ö.) und M. Buber (vgl. 84 ff.) besonders hervorzuheben ist.

Von nachhaltiger Aussagekraft sind die Beiträge zum johanneischen Schrifttum (124-134; 216-232; 265-294). Hier verbinden sich exegetische Detail-Analyse und systematische Synthese in ihrer erkenntnisleitenden Funktion, um auf das Fundamentale zu weisen. Signifikant für den theologischen Diskurs des Vf.s ist die Studie "Das Bitten des johanneischen Jesus in dem Gebet Jesu Jo 17 und die Intentionen des Jesus von Nazaret" (265 ff.), in der es um die Frage geht, ob das Johannesevangelium im wirkungsgeschichtlichen Horizont des Nazareners gesehen werden darf, trotz massiver nachösterlicher Kerygmatisierung. Bei aller Verschiedenheit und differenten Denkschemata stellt der Vf. Übereinstimmung in den Zielen fest (vgl. 288). Zwischen der "Sache Jesu" und dem "Geheimnis Jesu" wird immer ein spannungsvoller Zusammenhang bleiben.

Ethischen und ekklesiologischen Fragestellungen sind mehrere Studien gewidmet (201-215; 235-250; 251-263). Hier zeigt sich ein pastorales Engagement, das bewußt auf kirchlichen Integralismus verzichtet, aber der ipsissima intentio Jesu (i. e. Jesus - der Mensch für Gott und der Mensch für andere) als Triebkraft und Korrektiv verpflichtet bleibt. Gerade im Dienst-Horizont braucht Pro-Existenz die Rückbindung an die theologia crucis (vgl. 235; 241; 259).

Mehrere Aufsätze behandeln Fragen des Hebräerbriefes (171-183; 184-200) und der Johannes-Offenbarung (135-150; 151-168). Theologischem Denken, das sich am Rande entwickelt hat, gewinnt der Vf. überzeugende Aspekte ab. Die Kategorie des Opfers im Neuen Testament eröffnet, so paradox das erscheinen mag, die Möglichkeit, eine Krisis der Religion im Christentum durchzuführen (vgl. 183; 199). Dadurch, daß die literarischen Besonderheiten der Johannes-Offenbarung nachvollziehbar gemacht werden, kommt ihre theologische Mitte als Herrschaftsübernahme Gottes in der Geschichte (vgl. 142), deren bleibendes Geheimnis er ist (vgl. 144; 147), zur Sprache. Dabei geht es auch um das Andere und Fremde im Gottesverständnis, das entgegen aktuellen Tendenzen nicht eingeebnet werden darf.

Ökumenischer Konsens zeichnet den Beitrag "Rechtfertigungsgedanke und Christologie in den Korintherbriefen" (100-123) aus - nicht nur weil die Christologie der Ekklesiologie vorgeordnet oder weil der dialogischen Theozentrik der Christologie tragende Bedeutung zuerkannt wird. Der Vf. hebt das Pneuma-Element in der Christologie als wesentliche Voraussetzung (vgl. 102; 121 f.) hervor, um den paulinischen Rechtfertigungsdiskurs zu verstehen.

Den Abschluß stellt eine exegetisch-theologische Reflexion (295-316) dar, deren eigentliches Thema die These vom anonymen Christentum und dessen ntl. Ansatzpunkt ist. Der Vf. setzt sich produktiv-kritisch mit Gedanken K. Rahners auseinander. Er zeigt historische Divergenzen auf, will aber gleichwohl den transzendentalen Ansatz Rahners theo-logischer (!) denken, indem er auf den jesuanischen Glauben zurückgreift (vgl. 301 ff.). Hatte Jesus doch die Spannung von Befreiung und radikalem Anspruch gelebt, etwas, das neuzeitliches Denken nachvollziehen kann. Auch wenn es "das Christliche nicht ohne eine Grundstruktur des Bekenntnismäßigen" geben kann (vgl. 300), hält der Vf. die Rede vom anonymen Glauben für berechtigt.

Wenn der Hg. in den Studien ein hermeneutisches Programm realisiert sieht, das die wissenschaftliche Methodik in den Dienst am Evangelium stellt und auf die Einheit der Theologie zielt, kann ihm nur zugestimmt werden. Allerdings nicht ohne die Ergänzung, daß der Vf. stets ein ideologiekritisches Fragen in Anspruch genommen hat. Wahrscheinlich wird er heute bei manchen Sachfragen differenzierter urteilen, anderes berücksichtigen und einbeziehen (vgl. den Rückblick 3-22). Dieser Veröffentlichung kommt also "Zeugnis-Charakter" zu, sie do-kumentiert einen Denkweg. Gegenwärtige Leserschaft stößt aber auch auf Impulse, über alle exegetische Detailforschung nicht die theologischen Grundfragen zu vergessen.