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Ausgabe:

September/1996

Spalte:

831–834

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ennulat, Andreas

Titel/Untertitel:

Die "Minor Agreements". Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. VII, 594 S. gr. 8o = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 62. Kart. DM 178,-. ISBN 3-16-145775-7.

Rezensent:

Nikolaus Walter

Die Arbeit, als Dissertation bei Ulrich Luz 1990 in Bern angenommen, verspricht, eine "offene Frage des synoptischen Problems" zu untersuchen. Das geschieht auch mit großer Sorgfalt und Gründlichkeit; soweit ich weiß, wird zum ersten Mal der Gesamtbefund - tabellarisch dargestellt etwa bei F. Neirynck, The Minor Agreements of Matthew and Luke against Mark, with a Cumulative List, Leuven 1974 - so gründlich durchgearbeitet wie hier, im Kapitel II: "Textanalysen" (35-416!), mit denen das gesamte Markusevangelium abgeschritten wird; es handelt sich immerhin um etwa 1000 größere oder geringere "agreements" (417), die zu behandeln sind. Das Problem der "minor agreements", also der kleineren Übereinstimmungen von Matthäus- und Lukastext gegen den Markustext in den aus Markus übernommenen Textpassagen, ist eins der Probleme, das der heute von den meisten Forschern vertretenen Zwei-Quellen-Hypothese (Abhängigkeit des Matthäus und des Lukas einerseits von Markus, andererseits von der Redenquelle Q) einige Schwierigkeiten bereitet und das jedenfalls sorgfältig bedacht werden muß. In seiner vollen Schärfe wird das Problem freilich erst in den letzten Jahrzehnten gesehen, so daß wir noch im Stadium des Ausprobierens von Lösungsversuchen stecken. Daher ist Ennulats Arbeit sehr willkommen, zumal sie sich der offenen Forschungslage bewußt ist und keineswegs eine allseitig befriedigende Lösung zu besitzen behauptet. Schon dieses - auch am Ende der Arbeit (Kap. III: "Ergebnisse der Untersuchung", 417-430) noch deutliche - Problembewußtsein macht die Arbeit sympathisch. (Im "Anhang" auf S. 471-594 findet sich übrigens auf 69 "Textblättern" der gesamte Mk-Text mit den Parallelen bei Mt und Lk, sehr sorgfältig aus Alands Synopse ausgeschnitten und für den vorliegenden Zweck präpariert. Das könnte für die Benutzung der Arbeit eine große Erleichterung darstellen, wenn diese Blätter als Beilage, aus dem Band herausnehmbar und neben die Arbeit zu legen, beigegeben wären.)

Im Kapitel I ("Grundsätzliche Vorüberlegungen", 1-34) sortiert E. die in der Forschung bisher vorgestellten Lösungsmodelle. Die geläufigste Auskunft bei der Darstellung des synoptischen Problems (unter Voraussetzung der Zwei-Quellen-Hypothese) ist bisher noch diejenige, die meint, jeweils mit der Annahme paralleler, aber gegenseitig unabhängiger Veränderungen am Mk-Text durch Mt und durch Lk auskommen zu können. Da diese Version auch von einem so kompetenten Erforscher der literarkritischen Probleme der Evangelien wie F. Neirynck (s. oben) vertreten wird, ist sie nach wie vor ernstzunehmen, auch wenn sie in eine Zeit zurückreicht, in der das Problem nur an Einzelstellen gesichtet und bearbeitet wurde. Aber E. hat auch die Möglichkeiten im Blick, die sich bei anderem literarkritischen Ansatz (z. B. unter Voraussetzung der zur Zeit in England "wiederentdeckten" Griesbach-Hypothese: Lk sei von Mt abhängig, Mk habe beide Großevangelien vor sich) ergeben. Insgesamt listet er neun Erklärungsmodelle auf, von denen er freilich die meisten nach genauerer Durchmusterung wieder beiseite legt (22-34), zumal diejenigen, die sich nicht auf die Zwei-Quellen-Hypothese beziehen. Das ist gut so; denn es wäre ein Unding, alle 1000 Stellen immer an dem Raster von neun Modellen durchzudiskutieren.

Übrig bleiben für E. das Modell, das voneinander unabhängige, aber gleichgerichtete Änderungen des Mk-Texts durch Mt und Lk annimmt, und ein anderes, das voraussetzt, Mt und Lk hätten nicht die uns bekannte Mk-Fassung, sondern ein mehr oder weniger stark redigiertes Mk-Evangelium vor sich gehabt. Diese Sicht, in der der bearbeitete Mk-Text "Deutero-Markus" genannt wird, wird zur Zeit vor allem von Albert Fuchs (Linz) und seinen Schülern (H. Aichinger, Ch. Niemand) in einer Reihe von Studien zu Einzelperikopen bei Mk vertreten. Für diese Schule ergibt sich freilich noch eine bestimmte Vorstellung von der theologischen Absicht der Mk-Bearbeitung und eine methodische Komplizierung durch die Annahme, auch Q (oder mindestens die in Q und Mk doppelt überlieferten Texte) hätte auf diese Mk-Bearbeitung Einfluß ausgeübt. Für diese Zuspitzung der DtMk-Hypothese findet E. bei seinen Untersuchungen freilich keine ausreichenden Belege, so daß er sich dieser Sicht nicht anschließt (23, Anm. 57, 419 f. Anm. 7). Insgesamt kommt er aber zu dem Ergebnis, die Annahme einer vor Mt und Lk liegenden Bearbeitung des Mk (während der uns erhaltene Mk-Text die ursprünglichere Fassung darstelle) sei angesichts des Befundes die am besten begründbare. Auch ließen sich einige inhaltliche Züge dieser Bearbeitung (aber eben keine komplette eigene "Theologie" des DtMk) aufweisen. So seien die Motive des heilenden und lehrenden Jesus stärker betont; sein Bild werde ein Stück weit "ent-menschlicht" (gemeint ist natürlich: über das Niveau des Normal-Menschlichen erhöht; der Schiller-Freund denkt bei dem Stichwort an das Gegenteil); auch seien bei den Menschensohn-Worten im Munde Jesu Veränderungen vorgenommen worden, und die Motive des Jünger-Unverständnisses und des sog. "Messiasgeheimnisses" seien erheblich zurückgedrängt worden (422-428); auch habe die Bearbeitung eine sprachlich-stilistische Verbesserung des Textes mit sich gebracht (420-422).

Damit rundet sich für E. das Bild; es ist aber - wie gesagt - sympathisch, daß er auch am Ende noch einmal zusammenfassend feststellt, daß von den untersuchten Stellen etwa 3% nahezu sicher, weitere 6% mit größerer Wahrscheinlichkeit nicht zu diesem Modell passen, während sich etwa 42% "weder definitiv noch tendenziell einem bestimmten Erklärungsmodell zuordnen" lassen (417); daß demgegenüber 19% eine "leichte Tendenz" zu dem bevorzugten Modell, weitere 20% eine "deutliche Tendenz" dorthin aufweisen; nur für gut 4% sieht er die Er-klärung nur im Sinne des Modells, für weitere 6% mit hoher Wahrscheinlichkeit so für möglich an (418). Genau genommen sind es also schließlich 10% eindeutig zugunsten des Modells sprechende, 9% ebenso eindeutig nicht in diesem Modell unterzubringende Stellen. (Auch die tabellarische Übersicht S. 469 gibt etwa 64 praktisch eindeutige, etwa 150 mehr oder weniger deutliche Belege zugunsten des Modells an - und das bei 1000 durchgeprüften Stellen!)

Schon diese Statistik müßte eigentlich den Vf. noch stärker verunsichern, als er es auch so schon ganz offen zugibt (er war mit der Hoffnung an die Arbeit gegangen, das Problem einer eindeutigen Lösung zuführen zu können - wer wollte das nicht verstehen! Und wer wäre nicht froh, wenn es so möglich wäre!). Aber mein eigentlicher Einwand liegt noch an einer anderen Stelle, und zwar bei der Entscheidung E.s für die Aussonderung bestimmter Lösungsmodelle (21-31). Daß eine solche Einschränkung nötig ist, hatte ich gesagt. Aber sie wird m. E. doch zu radikal durchgeführt. Ich gebe zu, daß ich dabei ein Modell im Auge habe, das sich mir im Laufe meiner exegetischen Tätigkeit an vielen Einzelstellen immer wieder als probat erwiesen hat, ohne daß ich freilich eine komplette Durchmusterung aller Stellen vorlegen könnte. Ich versuche eine kurze, auf methodische Logik bedachte Darstellung.



Daß es zwei verschiedene Mk-Fassungen gab - von denen die eine den beiden anderen Synoptikern vorlag, die andere aber in den kirchlichen Kanon gelangte -, setze ich als genügend gesichert voraus. Nennen wir sie Mk(1) (= Erstfassung) und Mk(2) (= überarbeitete Fassung; die Begriffe Ur-Mk und Dt-Mk lasse ich lieber beiseite; sie sind durch andere Theorien "vorbelastet"). Eine dieser beiden Fassungen kennen wir als "kanonisches Mk-Ev" (also Mk(k)), das andere erschließen wir als synoptische Vorlage für Mt und Lk (also Mk(s)); übrigens ist in jedem Fall der Text, der in modernen Synopsen in der Mittelspalte steht, jedenfalls gerade nicht die Mk-Fassung, die Mt und Lk vor sich hatten - sonst gäbe es das Phänomen der "Minor Agreements" ja gar nicht. Meist wird nun quasi selbstverständlich vorausgesetzt, daß wir im Kanon (Mk(k)) den ursprünglichen Mk-Text (Mk(1)) vor uns hätten, daß dagegen die für uns nur hypothetisch erreichbare Grundlage für Mt und Lk (also Mk(s)) die "sekundäre", überarbeitete Fassung sein müsse (vgl. etwa U. Schnelle, Einleitung in das NT, Göttingen 1994, 205 f.).

Geschichtlich überlegt ist das aber keineswegs die wahrscheinlichere Annahme. Warum sollen Mt und Lk in den letzten Jahrzehnten des 1. Jh.s und geographisch in der gleichen palästinisch-syrischen Gegend wie (nach geläufiger Annahme) Mk den sekundären Mk-Text vor sich haben, wäh-rend ausgerechnet in Rom um die Wende vom 1. zum 2. Jh. die unveränderte Mk-Erstfassung im Gebrauch gewesen wäre? Anders ausgedrückt: den Gleichungen Mk(1) = Mk(s) und Mk(2) = Mk(k), also der Annahme, wir be-säßen die überarbeitete Mk-Fassung im Kanon, und die Mk-Urfassung sei nur hypothetisch aus Mt und Lk (bzw. ihren Übereinstimmungen gegen Mk(k)) erschließbar, müßte mindestens die gleiche Wahrscheinlichkeit zugebilligt werden wie der entgegengesetzten These (Mk(1) = Mk(k) und Mk(2)= Mk(s)).

Natürlich wird E. antworten: In meiner Arbeit hat sich gezeigt, daß für die "UrEvangeliums-Hypothese" (wie E. sie leider nennt) aufgund der Einzeltextanalysen ein "Nachweis nicht möglich ist" (so schon S. 30). Das geht mir entschieden zu schnell, und ich denke wohl, daß - wenn man in einer Untersuchung ein Modell A am Gegenüber eines Modells B überprüft - damit ein Modell C noch keineswegs falsifiziert ist. Auch wenn man zu dem Schluß käme, daß Modell A alle Fälle mehr oder weniger gut erklären könnte (was E. ja keineswegs behauptet), könnte ein bei der Prüfung allenfalls nebenher beachtetes Modell C durchaus noch nicht als "erledigt" gelten; viele Fälle dürften in beiden Richtungen erklärt werden können. Ich meine, es gäbe genug Belege für die Gültigkeit des von E. eben nicht genügend in Anschlag gebrachten Modells "Mk(k) = Mk(2) und Mk(s) = Mk(1)"; ich kann freilich hier nur auf ein - m. E. ziemlich wichtiges, weil den Anfang von Mk betreffendes - Beispiel verweisen, zu dem ich eine Arbeit vorgelegt habe: "Mk 1,1-8 und die 'Agreements' von Mt 3 und Lk 3. Stand die Predigt Johannes des Täufers in Q ?", in: The Four Gospels 1992 (FS F. Neirynck), Leuven 1992, vol. I, 457-478. Und darüber hinaus muß man sich vermutlich an den Gedanken gewöhnen, daß das ganze Problem vielleicht gar nicht mit einem "Entweder - Oder" gelöst werden kann, sondern daß auf dem Weg zwischen dem ursprünglichen Mk und den von Mt und Lk benutzten Exemplaren eine Reihe von Änderungen vorgenommen wurde, während bei dem in den Kanon gelangten Exemplar eine andere Reihe von Änderungen statthatten. Das oben skizzierte (statistische) Gesamtergebnis der Arbeit Ennulats scheint mir eigentlich am ehesten in diese Richtung zu weisen, und der m. E. richtige Hinweis auf den relativ sorglosen Umgang mit "religiöser Kleinliteratur" vor jeder Kanonisierung (427) kann ohne weiteres auf ein solches "gemischtes Modell" hindeuten.

Übrigens sei noch darauf hingewiesen, daß nach Annahme der Dissertation E.s (1990) in Göttingen 1991 ein Symposion zum Thema "Minor Agreements" stattfand (vgl. den Berichtsband: G. Strecker [Hrsg.], Minor Agreements, Göttingen 1993 [GThA 50]), bei dem auch E.s Betreuer, U. Luz, ein Referat gehalten hat. In seinem Resümee stellte G. Strecker u. a. fest, daß ein wenigstens mehrheitlich anerkannter Lösungsvorschlag noch "nicht in Sicht" sei (10).

Richtig und wichtig ist übrigens der Hinweis E.s auf eine Folgerung für die Exegese: Wenn sein Modell (Mk(2) = Mk(s)) gilt, dann muß an den Stellen mit "minor agreements" die Behauptung "redaktioneller" Änderungen am Mk-Text durch Mt bzw. Lk sehr viel vorsichtiger erfolgen als bisher (vgl. 429); wenn das Modell Mk(2) = Mk(k) zutreffen sollte, wäre die gleiche Zurückhaltung bei der "redaktionsgeschichtlichen" Exegese des Mk zu beachten; uns läge ja dann im Kanon ein schon durchgehend überarbeiteter Mk-Text (= Mk(2)) vor.

Fazit: Bei allem Dank, der dem Vf. für seine intensive und mühevolle Kleinarbeit gebührt (die ja keineswegs verloren oder überflüssig ist!), kann das Problem der "minor agreements" noch nicht ad acta gelegt werden; mindestens eine Gegenprobe steht noch aus. Wer sie durchführen will, hat zumindest den großen Vorteil, daß er die sorgfältige Durcharbeitung der Stoffmasse durch Ennulat schon als Basis benutzen kann, auf der er ein anderes (oder noch weitere?) Gegenmodell(e) testen kann. In jedem Fall liegt hier eine Arbeit vor, die niemand übergehen kann, der sich künftig zum Problem der "minor agreements" (und sei es nur zu einzelnen Stellen) äußern will.