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Ausgabe:

November/1998

Spalte:

1072–1075

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Feuerstein, Rüdiger

Titel/Untertitel:

Das Buch Baruch. Studien zur Textgestalt und Auslegungsgeschichte.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-New York-Paris-Wien: Lang 1997. 542 S. m. 6 S. Anl. 8 = Europäische Hochschulschriften, Reihe 23: Theologie, 614. Lw. DM 128,-. ISBN 3-631-32359-X.

Rezensent:

Jens Herzer

Dem in den letzten Jahren verstärkten Interesse an der apokryphen Baruch-Literatur im allgemeinen und dem apokryphen Baruchbuch im besonderen entsprechend, legt F. eine umfassende Auslegungsgeschichte zu diesem Buch von den Anfängen der Rezeption im 2. Jh. bis hin zu den Publikationen der vergangenen Jahre vor. Es handelt sich um eine an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Eichstätt eingereichte Dissertation, deren Absicht es ist, mit der kritischen Aufarbeitung der Ergebnisse der Forschung am Baruchbuch "eine bisherige Forschungslücke zu schließen" und damit gleichzeitig "einen Beitrag zu der Frage nach einer heute möglichen Rezeption" zu leisten (5).

Unter der Voraussetzung, daß auch die Textgeschichte zur Auslegungsgeschichte hinzugehört, wird ein Kapitel über die Textgestalt vorangestellt (11-93), das durch philologische Präzision bei der Analyse der Textüberlieferung ausgezeichnet ist. F. weist überzeugend alle Versuche ab, die den griechischen Text mit Hilfe anderer Übersetzungen oder auch Rückübersetzungen ins Hebräische zu verbessern suchen: "Doch selbst eine problembewußte und sorgfältige Rückübersetzung ergibt letztlich doch nur eine handschriftlich unbelegte hypothetische Textfassung" (13).

Dabei werden vor allem die von D. G. Burke für Bar 3,9-5,9 zugunsten des Wertes der syrischen Übersetzung vorgebrachten Argumente überzeugend widerlegt, wonach diese eine direkte Übersetzung aus dem Hebräischen, nicht aus dem Griechischen sei. Die Konsequenz ist, daß die syrische Überlieferung keine Hilfe für die Textkritik sein kann (41 f.) und kein "besserer" Text erreichbar ist, als ihn die Göttinger Septuaginta-Ausgabe bietet (17). Gleichwohl rechnet F. selbst mit der ursprünglichen Abfassung von Bar in Hebräisch. In ähnlicher Weise werden auch die lateinischen Übersetzungen analysiert. Hier wird Erhellendes über das Verhältnis der Kirchenväterzitate untereinander festgestellt. Im Blick auf den Wert für die Rekonstruktion eines älteren Textes als den der Septuaginta aber ist das Ergebnis ebenfalls negativ (67 f.; allein in 3,7 und 4,34 ist nach F. auf der Grundlage des Codex Cavensis der Ziegler-Text mit B zu korrigieren).

Der Hauptteil der Arbeit (Kapitel 2; 95-367) behandelt die Auslegungs- und Forschungsgeschichte, von der hier freilich nur einige Schlaglichter benannt werden können. Mit guten Argumenten weist F. zunächst die in Nestle-Aland (27) vermerkten Anspielungen des Neuen Testaments auf Bar als unbegründet zurück (96-112). Hier ist vor allem die Kritik an der oft gezogenen Parallele zwischen Bar 3,9-4,4 und 1Kor 1-2 hervorzuheben (106-112), wobei F. selbst die nach wie vor umstrittene, aber verbreitete These vertritt, daß Paulus in 1Kor 1,31 Jer 9,23f. rezipiere (111). In der Konsequenz wäre zu fragen, ob die von F. zu Recht festgestellte Zurückhaltung der neutestamentlichen Autoren gegenüber dem Baruchbuch über die S. 112 genannten Gründe hinaus nicht auch mit der Zurückhaltung gegenüber dem Jeremiabuch und damit auch seiner Tradition zusammenhängt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang für die Rezeption von Bar in der Alten Kirche die "Fehlanzeige" noch bis zur Mitte des 2. Jh.s. Erst danach nimmt F. im Anschluß an M. Hengel insbesondere Bar 3,36-38 als Bestandteil einer Testimoniensammlung an, die freilich erst bei Cyprian von Karthago wirklich nachweisbar ist (134). Vor allem im Blick auf die neuzeitliche Rezeption von Bar ist bemerkenswert, daß die Aufnahme von Bar in der frühen Zeit zunächst christologisch, dann (nach Nicäa) trinitätstheologisch ausgerichtet war und im Grunde eine Rezeptions- und Interpretationsgeschichte von Bar 3, (36-)38 ist (143 ff.). Hat die Möglichkeit der christologischen Interpretation vielleicht dazu beigetragen, daß die neuzeitliche Literarkritik gerade 3,38 als christlichen Einschub herauslöst?

Nach dieser frühen Rezeptionsphase von Einzelbelegen setzen vor allem der historische Kommentar des Theodoret von Kyros und die geistliche Interpretation des Olympiodor von Alexandrien positive Meilensteine in der Bar-Rezeption, während in eher negativer Hinsicht die Nichtübersetzung durch Hieronymus bis in die mittelalterliche Zeit einflußreich war und erst durch Theodulf von Orléans im 8./9. Jh. korrigiert wurde, der nach der Analyse von F. den Bar-Text durch eine eigenständige Übersetzung aus einer griechischen Handschrift gegen die Vulgata-Tradition wiedergewinnt (203ff.).

Im Unterschied zu den Anfängen der Rezeption von Bar bemerkt F., daß Bar in der Zeit des Humanismus und der Reformation (228 ff.) vor allem in kanongeschichtlicher Perspektive behandelt wurde bei ganz bewußter Unterscheidung zwischen der Autorität einzelner Schriften. Interessant ist hierbei das kritische Urteil von F. als katholischem Forscher hinsichtlich der Haltung der Reformatoren (232 ff.). Man muß freilich auch sagen, daß die Basis, auf der F. die kritische Sichtung der Position Luthers vornimmt, nicht überzeugend ist angesichts gegenwärtiger interkonfessioneller Konsensbemühungen, zu denen nicht unwesentlich auch die Fragen nach Schrift- bzw. Kanonverständnis gehören. Vor allem die unterschiedliche Wertung von Apokryphen durch Luther, bei der Bar eher schlecht wegkommt, könnte in dieser Perspektive präziser reflektiert werden. Die vage Vermutung S. 239 ist dazu kaum ausreichend: "Anscheinend hat Luther kein Verhältnis zu Bar gehabt, sonst hätte er gewiß positiver über Bar geurteilt ... Jedenfalls kann man sich eine Auslegung von Bar auf dem Boden von Luthers Hauptartikel, der Rechtfertigungslehre, gut vorstellen."

Der Abschnitt über das Tridentinum und dessen Folgen für Bar (298 ff.) ist in dieser Hinsicht ausgewogener. Warum aber Bar aus "Sorge, die Lehrtradition der ganzen Kirche könnte wanken" (252), zum Kanonbestandteil erklärt wurde, wird aus den Ausführungen nicht deutlich. Welchen Einfluß hatten hier möglicherweise die reformatorischen Positionen? Und: Wenn es so war, was bedeutet dann die heute eher selbstverständliche historische Kritik katholischer Provenienz für die Zuverlässigkeit der kirchlichen Lehrtradition? In der Perspektive der Frage nach den Möglichkeiten heutiger Rezeption, die F. mit seiner Arbeit ausdrücklich verfolgt, sind diese Fragen doch die spannenden, zumal die Folgezeit nach Trient von F. eindrücklich als Prozeß zunehmender Konfessionalisierung zwischen protestantischer historisch-(literar)- kritischer Arbeit und katholischem Konservativismus beschreibt (264 ff.), die sich bis zum Anfang unseres Jahrhunderts fortsetzte (299 ff.). Die Bedeutung des sog. "Modernismusstreites" deutet er nur an (307).

In einem letzten Abschnitt (315-367) wird die Auslegung der vergangenen Jahrzehnte nachgezeichnet, in denen ein Umschlag von der rein literarkritischen Exegese über redaktionskritische Ansätze hin zu Annahme einer einheitlichen Komposition von Bar festzustellen ist. Ausführlich (329-353!) wird hier das Werk von O. H. Steck kritisch gewürdigt, der "energisch" (329) für die einheitliche Komposition des Bar votiert und dies neuerdings detailliert und - nach Meinung des Rez. (vgl. ThLZ 120, 1995, 632-634) - überzeugend begründet hat. F. konzentriert sich in seiner Kritik an Steck vor allem auf die "fehlende Kriteriologie für die Grade literarischer Abhängigkeit" (343), bleibt aber hinter Stecks Argumenten zurück, weil die Komplexität dieses "Standardphänomen(s) literarischer Abhängigkeit" (344) und die damit notwendig verbundenen Unsicherheiten oft literarkritische Lösungen begünstigen (vgl. 350 f.), an denen F. dann auch ausdrücklich gegen Steck festhalten will (353).

Die Konsequenzen dieser Schlußfolgerung zeigen sich zum Teil im 3. und letzten Kapitel (369-488), in welchem F. Einzelstudien zu Fragen bietet, die nach seinem Urteil bisher nicht befriedigend beantwortet wurden. Er beginnt mit Überlegungen zur Gattung der Einleitung Bar 1,1-15a (370 ff.), die er zunächst einem relativen Konsens folgend als "geschichtstheologisch" kennzeichnet (377). Das darin enthaltene fiktionale Element der Darstellung wird freilich allzu schnell beiseite geräumt (375), obwohl doch gerade dieses für solche Art von Geschichtstheologie von erheblicher Bedeutung ist. Die anschließenden form- und gattungskritischen Überlegungen (387 ff.) führen dann zur Feststellung einer "Vielschichtigkeit" (397) der Einleitung, deren "holzschnittartig-straffe Darstellungsweise" (398) F. mit Hilfe narrativer Analysemethodik zu verstehen sucht. Die Vielschichtigkeit wird aber mehr beschrieben als analysiert, so daß das Ergebnis der Gattungsbestimmung von Bar 1,1-15a als "Bericht mit paränetischer Abzweckung" (404 f.) in Abgrenzung zur Gattung der "Erzählung" letztlich nicht überzeugt. So sind die genannten Unterschiede zur "Erzählung" nicht plausibel, denn auch in Bar 1,1-15a gibt es sowohl "Handlungsträger" (vgl. 401 f.!) als auch einen "Geschehensablauf". Warum auch "Gespräche" zu den (konstituierenden?) "Grundelementen" von Erzählungen gehören (401), wird nicht begründet.

Zu den detaillierten Textvergleichen zwischen Bar 1,15-3,8 mit Dan 9 (415-454) und Bar 4,36-5,9 mit PsSal 11,2-7 (455-461) sollen hier nur einige Probleme angesprochen werden.

Hinsichtlich Dan 9 bringt F. besonders gegen Steck erwägenswerte Argumente für die Abhängigkeit dieses Textes von Bar 1,15 ff. Gegen die Annahme eines literarischen Bezuges (gleich in welcher Richtung) ist aber vor allem wegen des Problems der Datierung beider Texte die Annahme eines gemeinsamen Bezugstextes nicht vom Tisch, wie es F. denn auch für das Verhältnis von Bar 4,36 ff. mit PsSal 11,2 ff. plausibel begründet (461). Hinzu kommt die nach Meinung des Rez. offene Frage nach der Originalsprache von Bar (vgl. ThLZ 20, 1995, 633), die F. nicht erörtert, sondern - mit vielen anderen - das Hebräische nahezu selbstverständlich voraussetzt. Aber gerade bei solchen Textvergleichen bricht diese Frage akut auf (vgl. 421) und stellt methodisch für die Forschung an apokryphen und pseudepigraphischen Schriften immer wieder ein Problem dar. - In seiner Kritik an Stecks präziser Datierung bietet F. selbst keine genauere zeitliche Einordnung von Bar, sondern nennt den Zeitraum zwischen 3. und 1. Jh. v. Chr. (473), ein Ergebnis, das durch das vorausgesetzte literarkritische Modell ohnehin kaum lösbar ist. Hinzu kommt eine Spannung in der Argumentation: Wenn die Datierung bis in das 1. Jh. v. Chr. hinaufreichen kann, was bedeutet dann das Attribut "vormakkabäisch-vorqumranisch" (473)? - Insgesamt führen daher diese Einzelstudien kaum über die bisherige Forschung hinaus, so daß man den Eindruck gewinnt, F. unterliege derselben Gefahr, die er im Blick auf andere formuliert, "sich in möglichst vielen Punkten gegen Steck auszusprechen, damit der Eindruck selbständiger Arbeit gewahrt bleibt" (369).

In dem abschließenden und im Verhältnis zu den anderen Teilen der Arbeit erstaunlich kurzen "Ausblick" (489 f.) spricht F. zwar von der Möglichkeit, "Ansatzpunkte einer auch heute fruchtbaren Auseinandersetzung mit diesem Buch (zu) entdecken" (490), benannt werden sie aber leider nicht, obwohl der Leser nach dem Vorwort darauf gespannt war.

Insgesamt gebührt F. das Verdienst, in einer bisher unerreichten Fülle das Material der Rezeptionsgeschichte des apokryphen Baruchbuches systematisch zusammengestellt und kritisch aufgearbeitet zu haben, so daß künftige Forschung gern darauf zurückgreifen wird. In dieser Perspektive ist das Buch auch ein Beitrag dazu, daß die moderne kritische Forschung ihre Tradition nicht aus den Augen verliert und womöglich auch hinsichtlich scheinbar neuester Erkenntnisse bescheidener wird, wenn sie wahrnimmt, daß manches "Neue" auch von den "Alten" schon gedacht wurde. Über die Möglichkeiten einer heutigen Rezeption von Bar im christlichen Kontext muß freilich weiter nachgedacht werden.

Eine letzte Bemerkung sei gestattet: Die begrüßenswert schnelle Publikation des Buches ist wohl die Ursache für erhebliche äußere Mängel, namentlich das Fehlen jeglicher Register und zahlreiche Druck- und Zitatfehler, die das Gesamtbild beeinträchtigen.