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Ausgabe:

Juli/August/1996

Spalte:

702–704

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Olender, Maurice

Titel/Untertitel:

Die Sprachen des Paradieses. Religion, Philosophie und Rassentheorie im 19. Jahrhundert. Mit einem Vorwort von J.-P. Vernant und einem Nachwort von J. Starobinski. Aus dem Frz. von P. D. Krumme.

Verlag:

Frankfurt/M.-New York: Campus Verlag; Paris: Editions de la Fondation Maison des Sciences de l'Homme 1995. 214 S. gr. 8o. Kart. DM 58,-. ISBN 3-593-35191-9.

Rezensent:

Kurt Nowak

Maurice Olender, Historiker an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, legt mit seinem 1989 bei Gallimard/Le Seuil erschienenen und jetzt in deutscher Sprache auf den Markt gebrachten Buch einen Beitrag zur Archäologie des modernen Antisemitismus vor. Die Kernthese ist so einfach wie eindringlich. Durch prominente Sprachphilosophen, Philologen und Theologen erfolgte im 18./19. Jh. eine Ablösung des "hebräischen Ursprungsmythos" der Menschheit durch den indogermanischen bzw. arischen oder indoeuropäischen Mythos. Der Beitrag der Sprachphilosophie und der Philologie bei der Ausprägung des antisemitisch-rassentheoretischen Vorurteilskomplexes sei, stellt der Vf. zu Recht fest, ungleich weniger bekannt als derjenige der Biologie oder der Politischen Ökonomie (26).

Unter dem emblematischen Titel "Les Langues du Paradis" (Originalausgabe) führt uns der Autor in ganz und gar unparadiesische Gefilde. "Sprachen des Paradieses" meint den prätendierten Urzustand der Sprache, aus dem alle weiteren Sprachen herauswuchsen, den Ort einer Authenzität, an dem Sprache sie selber war: reines Wort (Gottes, der Welt, der Natur). Entlehnt hat O. den Titel seines Buches einer kleinen Schrift von 1688: "Die Sprachen des Paradises das ist Begebene Anleitung der Natur zu erkennen was vor Sprachen im ersten Anfange der Welt im Paradeis absonderlich beym Fall Adams und Eve seynd geredet worden." Die Schrift, eine Übersetzung aus dem Schwedischen, trug burlesken Charakter. Ihr Verfasser Andreas Kempe belustigte sich über den wunderlichen Gelehrtenstreit, ob die Schlange im Garten Eden französisch, Adam dänisch und Gottvater selber schwedisch gesprochen habe.

Die Suche nach dem Idiom der Ursprünge und die Entwicklung der vergleichenden Sprachforschung stand im Zusammenhang mit konkurrierenden Identitätsbildungsstrategien der Nationen Europas. Im 17. Jh. belebte G. W. Leibniz die antike These von einem "skythischen Erdteil" als Ursprungsraum der Sprachen Europas. Richard Simon (1638-1712) erkannte schnell und scharfäugig die politische und theologische Bedeutung jener Diskurse, die auf die Bestreitung des Hebräischen als "Ursprache" hinausliefen (14 f.).

Im Umbruch vom 18. zum 19. Jh. löste das Sanskrit das als heilige Sprache des Anfangs bis dahin noch immer privilegierte Hebräisch ab. Die erste Generation der Erforscher des "Indo-Europäischen", die im Sanskrit die Mutter der meisten europäischen Sprachen sahen - Friedrich Schlegel, A. L. de Chézy, Franz Bopp u. a. - leiteten eine Umwälzung ein, welche die Grenzen der vergleichenden Philologie schnell hinter sich ließ. Das "indoeuropäische Areal" war geboren (19), und mit ihm ein neues mytho-poetisches Zeitalter sowie ein unbekanntes Paradiesvolk mit einer verlorenen Sprache. Die Benennungen wechselten: "arisch", "indoeuropäisch", "japhetisch", "sanskritischer Ursprung", "indoklassisch", "indo-keltisch", "thrakisch" usf. Diesem "Paradise regained" begannen die semitischen Sprachen - auch "aramäische" und "orientalische" Sprachen ge-nannt - gegenüberzutreten. "Aryens et Sémites: un couple providentiel" lautet der Untertitel von O.s Studie in der Version von 1989. Während den Völkern der "indoeuropäischen" Idiome Dynamik, Inspiration, Beweglichkeit zugeschrieben wurde, erhielten die "an Ort und Stelle gebliebenen Semiten" schlechte Zensuren: "an ihre Sprachen, Kulturen und Religionen gefesselt. Unbeweglich in Zeit und Raum haben sie keinen oder nur geringen Anteil am Fortschritt der Universalgeschichte, wie sie das 19. Jh. beschreibt." (22).

O. verfolgt das Gegensatzpaar "arisch" - "semitisch" durch die Labyrinthe der Philologie, Kulturphilosophie und Religionswissenschaft. Behandelt werden R. Simon, R. Lowth, J. G. Herder, E. Renan, F. Max Müller, A. Pictet, R. F. Grau und I. Goldziher. Rudolf Friedrich Grau (1835-1893), Professor in Königsberg, verteidigte die "Semiten", warb aber feierlich für die "Ehe zwischen semitischem Geiste und indogermanischer Natur", die "eine im Himmel beschlossene" sei (Semiten und Indogermanen in ihrer Beziehung zu Religion und Wissenschaft. Eine Apologie des Christenthums vom Standpunkte der Völkerpsychologie. Stuttgart 1867, 257; op. cit. 114). Ignaz Goldziher (1850-1921), durch einen ärgerlichen Druckfehler als Schüler des Leipziger Orientalisten Heinrich Leberecht Fischer (richtig: Fleischer) ausgegeben (117), war Inhaber des Lehrstuhls für semitische Philologie an der Universität Budapest. Wie unheilvoll weit der "arische" Mythos bereits seine philologischen Kreise gezogen hatte, wird an Goldzihers angestrengten, doch verfehlten Bestrebungen sichtbar, die neue "Mythoswissenschaft" in die "semitischen Wüsten" zu verpflanzen und eine neue, historisch validierte Dramaturgie der Ursprünge, die auf Austauschprozessen beruhte, zu entfalten. "Jedes Volk kann so unter völliger Wahrung seiner Identität die Pluralität seiner geschichtlichen, religiösen und politischen Ursprünge anerkennen" (129).

Die Bedeutung von O.s Buch liegt auf mehreren Ebenen. 1. Der Autor zerstört die Illusion von der methodisch-methodologischen Resistenz einer empirischen Wissenschaft, der vergleichenden Sprachforschung. Die Philologien des 19. Jh.s waren bei der Konstruktion des Gegensatzpaars "arisch-semitisch" mythosbeladen. 2. Er zeigt jene abstrusen, wissenschaftsintern gleichwohl als seriös geltenden philologischen Denkwege, die alsbald neue ideologische und politische Bahnen zu eröffnen vermochten. "Vokabeln mit unklaren Umrissen [riefen] mörderische Wirkungen hervor" (23). 3. Bei aller Beklemmung, welche die Nachzeichnung der sich kumulierenden Schreckensspuren erzeugt, verzichtet der Autor nicht darauf, auch Gegenbeispiele zu nennen. Ferdinand de Saussure sah in Pictets Werk "Origines indoeuropéennes", d. h. in der Konstruktion einer Anthropologie auf dem Boden einer verlorenen prähistorischen Sprache, nichts anderes als einen gigantischen Irrtum.

Geschrieben ist das Buch als wissenschaftlicher Essai. Die Leichtigkeit der Darbietung sollte über die Fülle des verarbeiteten Materials ebensowenig hinwegsehen lassen wie die etwas pompöse Rahmung durch das Vorwort von Vernant und das Nachwort von Starobinski. An manchen Stellen der deutschen Übersetzung sind die frankophonen Versionen von Namen und Termini stehengeblieben (z. B. 13 Kyrrhos [Kyros]; 146 Massoreten [Masoreten]). Mit der deutschen Geistes- und Theologiegeschichte außerhalb seines thematischen Einzugsbereichs scheint der Vf. nicht besonders vertraut zu sein. Schleiermachers Charakteristik als "ein Berliner Pastor" und die Verwendung der Reden "Über die Religion" in einer Ausgabe von H. Leisegang gibt zu dieser Vermutung Anlaß. Jenseits der Beckmesserei: eine anregende Studie, von der Umberto Eco meint: "Eines der schönsten Bücher, das ich zu diesem Thema kenne, ein außergewöhnliches Buch - ich zitiere es oft."