Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/1998

Spalte:

1252–1254

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Beuscher, Bernd, Schroeter, Harald, u. Rolf Sistermann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Prozesse postmoderner Wahrnehmung. Kunst - Religion - Pädagogik.

Verlag:

Wien: Passagen Verlag 1996. 241 S. gr.8 = Passagen-Philosophie. Kart. öS 350.-. ISBN 3-85165-223-1.

Rezensent:

Rainer Volp Ý

"Eine Religion, die sich absolut gebärdet, wirkt unheilvoll und folgt allein den Gesetzen des Marktes oder der eigenen Ideologie"- mit dieser Diagnose auf dem Buchrücken medikamentiert das Buch eine Religion, welche als offen, angreifbar und prozessual erhofft wird. Die Hrsg. wollen "im Blick auf Vermittlungsinstanzen und Bewährungsfelder in dieser modernen Lebenswelt mit einem phänomenologischen Ansatz mögliche positive Konnotationen der Variable ’postmodern’ als sinnstiftend ... probieren" (1). Und die Autoren sind bemüht, den sachlich notwendigen Gehalt der sog. "Postmoderne" theologisch aufzuarbeiten, diese aber weder feuilletonistisch-modisch noch fahrlässig diffamierend einzusetzen. Da sich jedoch die Hrsg. auf den Zwischenruf von Reinhard Löw berufen, das Christentum sei "die Postmoderne selbst", muß gefragt werden, ob bzw. wie das Buch solchen Anspruch einlöst.

Das Vorwort benennt die Parameter des Anspruchs "postmoderner" Ziele und Methoden in sechs Forschungsinteressen: 1. "Das Ende der allesumfassenden Systeme und Metaerzählungen", 2. "Radikale, interferentielle Pluralität von Sprachen, Modellen, Verfahrensweisen ...", 3. "Solidarität und Demokratie in Form ethischer Streitkultur", 4. "Fragmentarität", 5. "Analogisierung in gleichschwebender, interdisziplinärer Aufmerksamkeit" und 6. "neostrukturalistisch-phänomenologische Methodik". Diese Prämissen nehmen zwar die Autoren in die Pflicht, doch einer Festschrift (hier: Dietrich Zilleßen - dem großen Anreger der Religionspädagogik - zum 60. Geburtstag gewidmet) kann solches naturgemäß nur schwer gelingen. Die Positionen sind zwangsläufig heterogen und Theologen üben selten, ernsthaft interdisziplinär oder fröhlich im genus demonstrativum zu arbeiten - oder gar eine "Pluralität der Verfahrensweisen" zu wollen. Gleichwohl: an den Beiträgen soll der Anspruch der Herausgeber geprüft werden.

Viele Blüten treibt die eingangs zitierte Kritik an den Petrifizierungen der Religion. Deren eigner Saft leuchtet nicht immer auf; desto erfreulicher, wenn es anders ist - wie bei Rolf Sistermann ("Gemeinschaft ohne Konsens?": 49-60). Indem er z. B. mit J.-F. Lyotard (und im Gegensatz zu Habermas) den "Konsens" für einen veralteten und suspekt gewordenen Wert hält, will er festhalten, daß Bewußtseinsbeziehungen von Anderssein, Opfer, Schuld, Versöhnung u. ä. als stete "Sehnsucht nach dem Ganzen und Einen" anthropologisch im symbolisch-gebrochenen Glaubensbewußtsein und nicht im Wissenskonsens ihre Gestalt suchen. Für Peter Rech ("Zum ’Mehrwert’ der Religion": 93-102) wird die Unbegreifbarkeit Gottes zum therapeutischen Anlaß, Wertefindung und Glauben zuzulassen und also nichts verstehen zu müssen, was an der Religion zu verstehen sei ("Verständigungen in der Religion sind ideolektische Mißverständnisse"): weil wir Religion nur durch innere Bilder rekonstruieren, werde ihre Gestalt - ein "offenes Gefühl" - zur "Ahnengalerie für die Differenzen". Diese grandiose Einsicht in der Tradition von Augustin und Schleiermacher jedoch verschenkt Rech, wenn er bestreitet, der Gegenstand von Religion könne jemals "positiv" sein, ein "Apriori-Schluß", der sich des Klischees bedient, "das katholische Denken" sei "affirmativ" und das evangelische "depressiv". Solches Surplus verkennt die Realität von Relationen, welche dank Differentialien konstruktive Sinnevidenzen erlaubt, nicht also dazu zwingt, die Kunst etwa nur als Sublimierung von Todesangst zu denken. Etwas exakter an solcher Grenze verbleibt der Philologe Jochen Hörisch ("Auslegen gehört Gott zu": 141-148), der vom "a priori" unglücklichen Pharisäer (142) ausgeht, der sich genötigt sieht, zu interpretieren, obwohl er sich - gesetzestreu - nicht anheischig machen möchte, Gott zu verstehen. Der Urszene einer "scheuen Hermeneutik" Gen 40,5-8 und ihren Folgen folgend, zeigt Hörisch, warum Interpretation stets Frevel bleibt: Es ist die vereinheitlichende Wut des Verstehens, welche die "Abwesenheit zentrischen Sinns" verkenne. Wenn er dann ein "Sinn-Integral" bestreitet, welches "keine Leerstellen im Reich der Zeichen und des Seins mehr zuließe", bleibt er in Bezug auf das bloß Denkbare im Recht, erklärt aber nicht, warum Verstehen stets (wütend) vereinheitlichend sein müsse - ein Widerspruch zur deklarierten hermeneutischen Offenheit.

Wenn dann Frank Hiddemann ("Das protestantische Idiom": 149-158) fragt, wie Kontinuität ohne Rekurs auf Traditionsbeschwörung und Kohärenz ohne Reduktion von Komplexität (auf einheitliche Grundmuster) in der Religion funktioniere, verweist er auf den Protestantismus, dessen einzig verläßliche Stabilität "in der Veränderlichkeit" liege. Im Rekurs auf Friedrich Schlegel, Lessing und den "sense of coherence" als einer erfolgreichen "Patchwork-Identität" hat er eine "bewegliche Identität" im Auge, welche einen kreativen Prozeß von Selbstorganisation ermöglicht. Solche Identität zu pflegen verbiete, "Eigenschaften positiver Religion nachzuahmen". Doch solche Typisierung des Protestantismus verkennt dessen reale (psychische wie soziale) Entwicklung als einer dynamischen und also offenen Religion, die als Religion wesentlich auch auf mimetische Konstellationen angewiesen war und sein wird. Friedrich Schweitzer ("Am Ende der religiösen Normalbiografie ?": 61-77) begnügt sich damit, die Religionspädagogik im Allgemeinen aufzufordern, sich "auf ein höheres Maß an individueller Variabilität und Subjektivität" einzulassen (69), ohne auf das Solidaritäts- und Gerechtigkeitspostulat zu verzichten.

Einen produktiven Grundsatz der Identität findet Karl Graffmann ("Identität - Ein Konfliktbegriff": 191-202) in dessen "Signum des Schwebens und nicht Sicherbaren" (Brentano, 199), z. B. in unfertigen Geschichten des Lebens. Indem er jedoch die Konstruktion des Wissens mit dessen Rekonstruktion und die Infamie von Nicht-Orten mit der Leere des Orts verwechselt, greift sein Projekt einer "konstruktivistisch orientierten Pädagogik" ins Abseits der Diskurse: Er verkennt, daß jedes Gebiet der Ethik eine andere Menge von Konfliktbegriffen bereithält. Nicht weit davon liegt denn der Versuch von Uwe Gerber ("Religiosität in der Erlebnisgesellschaft", 203-211), empirische Einsichten über aktuelle Religiosität zum Axiom einer Erleichterungsreligion zu erheben: Seine berechtigte Kritik an Normen und Prinzipien postuliert ein "veränderndes Wahrnehmen" und eine "individualisierende Nachreligion der Liebe". Doch ohne die praktisch-prinzipielle Möglichkeit ästhetischen Anspruchs liefert solche Bestandsaufnahme dem Argument modischer Anbiederung berechtigte Nahrung. Denn niemand wird heute ernsthaft bestreiten: "der Großteil aller von Menschen getroffenen, auch ökonomischen Entscheidungen, beruht vollständig oder in großem Maße auf normativ-affektiven Erwägungen; dies nicht nur im Hinblick auf die Wahl von Zielen, sondern auch auf die Wahl von Mitteln".1

Praktisch-Konstruktives liefert der Beitrag von Hans-Günther Heimbrock/Wolf-Eckart Failing ("Gelebte Religion wahrnehmen": 159-181), die eine "religionspädagogische Wahrnehmunglehre" (178) phänomenologisch zu repristinieren versuchen. In berechtigter Kritik an einer enggeführten Methodendiskussion der Praktischen Theologie wird auf bestehende und neu entstehende intrasubjektive Pluralitäten und Logiken religiösen Denkens hingewiesen. Die Ziele sind allerdings nur erreichbar, wenn statt überholter Symboldidaktiken endlich tragfähige Kunsttheorien und präzisere semiotische Analysen (zur Verbesserung der Didaktik wie zur Klärung der Kategorien) die theologische Ausbildung wie die interdisziplinäre Forschung verbessern. Anders bleiben Postulate wie "Annäherung an die Lebenswelt" oder "Wahrnehmung-Prozeßorientierung-Vertrauenskultur" noch zu plakativ (170f.). Wenn die berechtigen Kriterien der sogenannten Postmoderne in der Theologie endlich diskurs- und erprobungsfähig werden sollen, reichen offensichtlich neostrukturalistische und phänomenologische Kriterien allein nicht aus.

Die erwähnten Beiträge folgen der guten Erkenntnis: Dem Glauben gegenüber zeigt sich Wissen stets nur in Differenzen und Ambivalenzen. Solche Einsicht legten schon Lessing, Herder und Schleiermacher in die Wiege der Historisierung: den Selbstzweifel der Wissenschaft, im streng hypothetischen Status wissenschaftlicher Sinnkonstitution bei Foucault und Derrida wieder in Erinnerung gebracht.

Die vorliegenden Beiträge übersehen, daß solche Intention semiotische Erkenntnistheorien braucht (welche schon Augustin und die Reformatoren nutzten),2 wenn entgegen der allumfassenden Systeme - der Gnosis aller Epochen - die Verläßlichkeit einer theologischen Komplexität erreicht werden soll, welche ästhetische Offenheit, Methodenvielfalt und religiöse Sinnevidenz ermöglicht. Theologie wird im Pro und Contra "Postmoderne" unvermeidlich bedeutungslos, wenn die Fähigkeit verlorengeht, zugleich formale Analysen (etwa religiöser Prozesse, auch "negative" Theologie genannt) und materiale Synthesis (die Hypothese ethischer und dogmatischer Positionen) zu wagen, auseinanderzuhalten und beides metatheoretisch (in philosophischer oder praktischer Theologie) wieder aufeinanderzubeziehen. Dies Interesse einer "positiven" Wissenschaft ist das Gegenteil einer positionellen Theologie, welche Flucht und Unfähigkeit indiziert: sie weicht der praktischen Positionierung in unwägbare Situationen ideologisch aus - oder immunisiert sich vor Rückfragen aus dem interdisziplinären Diskurs. Gegen solche Attitüden unbefragbarer Provinzmethodik wehrt sich das vorliegende Buch mit gutem Recht, ohne den wissenschaftstheoretischen Anspruch immer einzulösen.

Wer diesen Anspruch vor Augen hat, sollte "Postmoderne" besser nicht als Epoche, sondern als wissenschaftstheoretisches Paradigma abrufen: Selbst für Lyotard lag ihr "einziger Wert" darin, "eine Mahnung zu sein": Sie diene "als Signal, daß etwas an der Moderne seinem Ende zuneigt".3 Die Moderne wollte auf dem Altar des Fortschritts bestimmten Utopien und Idealen die Vielfalt von Optionen menschlicher Erfahrung bzw. Geschichte opfern. Wer in solcher Attitüde nun das stete Verändern im Namen der "Postmoderne" einfordert, kommt in den Verruf derer, die er bekämpft. Man verwechselte das notwendig stete Verändern eigener kognitiver Hypothesen mit notwendig charakteristischen Merkmalen von Religion, welche sich uralten Erfahrungen des Ritus und Regeln der "Versonnenheit" als Konstitutionsbedingungen verdanken (Ch. S. Peirce).4 Diese zu plündern oder auch nur zu überblenden, führt in pseudoprotestantische Ghettos, die man doch bekämpfen will. Solcher "Postmoderne" steht ein Christentum gegenüber, deren beste Wissenschaftstradition sich schon lange einer anderen selbstkritischen "Postmoderne" verpflichtet weiß. Auf beides mit anregenden Denkanstößen mehr oder weniger bewußt aufmerksam zu machen, ist das Verdienst dieses Buches.

Fussnoten:

1 Amitai Etzioni: Die faire Gesellschaft, dt. Frankfurt/M. 1996, 169

2 Vgl. R. Volp, Liturgik Bd. 2, Gütersloh 1994, 687-823

3 Answering the Question What is Postmodernism? in: I. Hassan/S. Hassan, ed.: Innovation/Renovation, Madison 1983, 329-341

4 Vgl. z. B. Ch. S. Peirce: Ein vernachlässigtes Argument für die Realität Gottes, in: Ders., Religionsphilosophische Schriften, hrsg. von H. Deuser, Hamburg 1995, 329 ff.