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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

355-356

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hübner, Ingolf, Merle, Kristin, Merle, Steffen, Moos, Thorsten, Keller, Sonja, u. Christopher Zarnow [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Religion im Sozialraum. Sozialwissenschaftliche und theologische Perspektiven.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2023. 276 S. m. 2 Abb., 1 Tab. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783170426382.

Rezensent:

Matthias Neugebauer

Das Buch ist ein klassischer Tagungsband. Im Hintergrund stehen zwei Tagungen aus dem Jahr 2021. Deren Anknüpfungspunkt war der ambivalente Befund, dass die Diskussion über und die Orientierung an Sozialräume(n) einerseits in diakonischen, kirchlichen und theologischen Diskursen Konjunktur hat. Dieser Konjunktur steht andererseits gegenüber, dass die der Sozialraumorientierung »zugeschriebene handlungsorientierende Valenz erst ansatzweise in Kooperationen zwischen diakonischen und kirchlichen Trägern und in kirchenleitenden Prozessen beobachtbar ist« (7). Vor einem »trans- und interdisziplinären Reflexionshorizont« (ebd.) soll beides aufeinander bezogen werden, d. h. im »Fokus stehen das Engagement institutionalisierter Religion in lebensweltlich oder territorial bestimmbaren Sozialräumen« (ebd.).

Der Band enthält insgesamt 15 Beiträge. Hinzu kommen eine Einleitung sowie ein Geleitwort von Annette Kurschus und Ulrich Lilie. Die Beiträge sind fünf Themenfeldern zugeordnet.

Im 1. Teil (»Theoretische Einordnungen«) stellt zunächst Ingrid Breckner »einige theoretische Wurzeln der Sozialraumforschung zur Diskussion, skizziert [...] zentrale Entwicklungslinien empirischer Sozialraumforschung und reflektiert [...] ihre gegenwärtige und zukünftige Relevanz« (15). Dann gibt Thorsten Moos einen kurzen Überblick über die »Theologie- und Kirchengeschichte der So-zialraumorientierung«, der die dreifache These entfaltet, dass kirchliche und diakonische Akteure eine »Vielzahl von [diesbezüglichen] Ressourcen« (25) aufweisen, die »stark pflegebedürftig sind« (ebd.), und schließlich, dass sich »Religion immer auch spröde hinsichtlich ihrer sozialräumlichen Einbindung« (ebd.) verhält. Ingolf Hübner geht der Frage nach, warum eine »gemeinwesen- oder sozialraumorientierte Arbeit oft projekthaft und begrenzt bleibt« (42–43). Seine beiden Hauptantworten sind: zum einen (im Anschluss an Wolfgang Huber) die »Milieugefangenschaft der Kirche« (57) und die Ausrichtung vor allem auf »individuelle Unterstützung und Hilfe« (ebd.). Trotzdem bleibt für ihn die »Gemeinwesenorientierung […] produktives Ideal« (58). Im letzten Beitrag des ersten Teils stellt Michael May vor dem Hintergrund von Kritiken am Konzept des Sozialraums diesen Begriff schärfer. Er spricht von »Sozial-raumorganisation«, die zum Ziel hat: »umfassende Teilhabe und Teilnahme an Gesellschaft in all ihren Facetten« (73).

Der 2. Teil (»Religiöse Raumstrategien«) enthält einen Beitrag von Marian Burchardt zu »Religion im urbanen Gefüge«. Sie untersucht, »wie religiöse Vielfalt auf städtischer Ebene reguliert wird« (76) und entfaltet »das Konzept der urbanen Gefüge religiöser Diversität« (88). Anschließend wendet sich Mehmet T. Kalender in seinem Beitrag »Platz für Begegnungen schaffen« den »interreligiösen Nischen« (93) zu und macht diesen Begriff für die Sozialraumorientierung fruchtbar.

Im 3. Teil (»Kooperation zwischen Diakonie und Kirche«) erkundet zunächst Daniel Hörsch den Sozialraum als »Container-Begriff« und sieht den »Sozialraum als zentrale Bezugsgrösse künftigen kirchlichen und diakonischen Handelns« (118). Ganz ähnlich titelt auch Frank Dieckbreders Beitrag »Sozialraum als diakonische Bezugsgrösse«, der im »noch nicht vollständig vom Autor entwickelten Begriff der Bindungsgerechtigkeit« mündet und ernst nimmt, »dass Menschen Bindung unterschiedlich erfahren« (138). Steffen Merle (im Autorenverzeichnis gibt es auch eine Kristin Merle [ohne Beitrag?]) will in seinem vielschichtigen Beitrag »Sozialraumorientierung als stragetische[n] Impuls für Kirche und Diakonie« (141) stark machen. Das meint zum einen, »dass die Logik der Sozialraumorientierung […] ein Erprobungsraum auch für die Selbstaussetzung der Institutionenlogik ist« (158). Mittels eines relational-semiotischen Modells etabliert er eine »Entdeckungshermeneutik« (166) der »religiösen Dimensionen des Lebens« (167).

Den 4. Teil (»Kirchenentwicklerische Programmatik«) beginnt Birgit Klostermeier, indem sie vier »Handlungsnarrative der parochialen Gemeinde« (176) (Anders-Sein, Für-andere-Sein, Frei-Sein und Zusammen-Sein) hinterfragt und dazu aufruft, »sich neu zu erzählen und dabei alte Erzählungen hinter sich zu lassen« (188), was bedeutet, »sich im Kontakt mit anderen neu zu finden« (ebd.). Sonja Keller richtet ihr Augenmerk auf eine »praktisch-theologische Rekonstruktion der Leistungen des Sozialraumparadigmas« (192) und arbeitet heraus, »dass der Sozialraumbezug eine starke Steuerungsfunktion aufweist« und dazu einlädt »kirchliche Strukturen neu zu denken« (202), was sie in fünf Perspektiven ausbuchstabiert. »Black Box Kirche« ist der Titel von Heinz-Joachim Lohmanns Überlegungen, die Kirche-Sein im ländlichen Raum (Brandenburgs) thematisieren. Im Großraum »Land« ist die Kirche (noch) »Trägerin der Zivilreligion« (217) aber auch »gesellschaftliche Akteurin« (219). Lohmann warnt die Kirche davor, sich »in ihren inneren Raum« (222) zurückzuziehen und ermutigt dazu, den ländlichen Raum als »Experimentierfeld« (221) zu nutzen.

Der 5. Teil (»Empirische Analysen«) startet mit Hilke Rebenstorfs empirischer Untersuchung der Arbeit von Kirchgemeinden im Sozialraum. Sie erkennt fünf Funktionen (Kompensation, Integra- tion, Intervention, Moderation und Sozialisation) und kommt zum Fazit, »dass sich die Kirche als Teil der Gesellschaft und […] des Sozialraums« verstehen muss »und nicht als deren Gegenüber« (236). Juliane Kanitz, Thorsten Moos und Christopher Zarnow stellen ein Forschungsprojekt vor, das untersucht, wie sich religiöse Akteure »bei der Planung, Entstehung und Belebung neuer Stadtquartiere« (239) einbringen. Rollenprofile religiöser Akteure werden danach differenziert, »ob sie eher einer marktförmigen, einer staatsanalog-institutionellen oder einer zivilgesellschaftlichen Logik folgen«, und so entsteht »eine kleine Phänomenologie raumbezogener religiös-urbaner« (244) Rollen: Stadtunternehmer, Beauftragter und zivilgesellschaftlicher Intermediär. Im letzten Beitrag von Alexander Dietz und Daniel Wegner geht es um DRIN (Dabei sein, Räume entdecken, Initiativ werden und Nachbarschaft gestalten). Das war ein Projekt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, das zwischen 2016 und 2019 durchgeführt wurde. Von Anfang an war eine Evaluation des Projekts geplant. Diese wird ausführlich vorgestellt. Das Fazit ist äußerst positiv. Das DRIN-Projekt wird als ein »Ausdruck lebendiger und öffentlicher Kirche« gewürdigt, und die Autoren halten fest: »[D]ie einzelnen Projekte haben sich erfolgreich sozialräumlich orientiert.« (273)

Wie für einen Tagungsband typisch, enthält auch dieses Buch ganz unterschiedliche Beiträge im Blick auf Herangehensweise, Methodik und Reflexionsniveau. Aber der wohl größte Wert des Bandes besteht darin, dass die Thematik Religion und Sozialraum einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Letztlich geht es jedoch weniger allgemein um Religion im Sozialraum, sondern fast immer um Kirche im Sozialraum. Wer sich für diesen Zu- sammenhang interessiert, wird hier – je nach Interesse und Hintergrund – ganz sicher auf etwas Wertvolles und Anregendes stoßen. Die Einteilung der Beiträge in die fünf Abschnitte wirkt nicht immer glücklich, die innere Systematik bleibt unklar. In Bezug darauf hätte man sich gewünscht, dass die Herausgeber die größeren Linien, die sich aus den Beiträgen ergeben, in einer weit ausführlicheren Einleitung systematisch aufbereitet hätten.