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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

347-348

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Browning, Peter D., u. Marco Hofheinz [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Protestantische Ethik in den USA des 20. Jahrhunderts. Ein kommentierter Reader.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2023. 315 S. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783170416529.

Rezensent:

Dominik Gautier

Der von Peter D. Browning und Marco Hofheinz herausgegebene deutschsprachige Reader ist eine Errungenschaft für das transatlantische theologisch-ethische Gespräch. Denn obwohl von den USA wegweisende theologisch-ethische Entwürfe ausgehen, werden sie im deutschsprachigen Raum doch eher wenig rezipiert. Der Reader macht nun zentrale Quellentexte US-amerikanischer Ethik des 20. Jh.s zugänglich – angemessen gekürzt und sorgfältig ins Deutsche übersetzt.

Der Band geht auf die transatlantische Forschungs- und Lehrkooperation zwischen Browning (Drury University, Springfield/Missouri) und Hofheinz (Leibniz-Universität Hannover) zurück. Die Übersetzungen und Kommentare wurden durch das systematisch-theologische Team in Hannover – Raphael Döhn, Kai-Ole Eberhardt, Marco Hofheinz, Jan-Philip Tegtmeier – sowie die ehemalige Studienrätin für Evangelische Religion und Englisch, Ingrid Kuhn-Wendland, erarbeitet. Hierbei haben die Mitwirkenden teilweise auf bereits vorliegende Übersetzungen zurückgegriffen, die vor dem Hintergrund gegenwärtigen Sprachgebrauchs modifiziert wurden. Der Band zeichnet sich durch eine stringente, angemessen gendersensible und rassismuskritische Sprache aus.

Gegliedert ist der Reader in vier Sektionen. Texte der Gründungsfiguren protestantischer Ethik des 20. Jh.s eröffnen den Band. Mit Walter Rauschenbusch lernen die Lesenden den einflussreichsten Exponenten des Social Gospel kennen, der maßgeblich dazu beigetragen hat, dass Glaubende sich im Horizont des Reiches Gottes für die Transformation sozialer Strukturen einsetzen. Mit Reinhold Niebuhr und dessen Christlichem Realismus begegnet der einflussreichste Kritiker dieser Bewegung. Mit seiner machtkritischen Interpretation reformatorischer Sündenlehre verkomplizierte er einerseits diese Gerechtigkeitsethik, trug andererseits aber auch zu ihrer Vertiefung bei. Mit einem Text seines Bruders, H. Richard Niebuhr, findet sich ein analytischer Ansatz in dieser Reihe, der hilft, die christologischen Grundannahmen ethischer Ansätze diskutierbar zu machen.

Die hierauf folgende Sektion ist der »nächsten Generation« protestantischer Ethik gewidmet und enthält einen Text von Paul L. Lehman, der unter anderem von Dietrich Bonhoeffer beeinflusst war und mit seinem Ansatz die in Christus gegründete Gemeinschaft (koinonia) zum Ausgangspunkt der ethischen Reflexion sozialer Verhältnisse gemacht hat. Mit James M. Gustafsons theozentrischer Ethik erhalten die Lesenden Einblicke in einen Entwurf, der – beeinflusst von der Ethik Calvins – mit dem Verweis auf Gottes Souveränität ethischen Anthropozentrismus irritiert. Die Sektion schließt mit Max L. Stackhouses Ansatz, der in der Aufnahme des Social Gospel, des Niebuhrschen Realismus und reformierter Bundestheologie für eine Öffentliche Theologie plädiert, die zu einer dynamisch-demokratischen Kultur beitragen könne.

In der Sektion »Stimmen der Befreiung« findet sich zum einen ein Text der feministisch-theologischen Ethikerin Beverly W. Harrison, die das produktive Gefühl des Zorns für die christliche Lie- besethik rehabilitiert. Zum anderen findet sich in dieser Sektion ein christologisch fundierter Text von James H. Cone zur Gewaltfrage. Hierin weißt er die – an die Schwarze Befreiungsbewegung gestellte – Forderung nach Gewaltlosigkeit als weiße Ablenkungsstrategie zurück, da sie von wirkmächtigen Strukturen weißer Vorherrschaft ablenke. Und die Kritik dieser Strukturen müsse zentrale Aufgabe der Ethik sein.

Der Band schließt mit »Stimmen des Post-Christentums« (engl. »Post-Christendom«), worunter Autoren wie John Howard Yoder und Stanley Hauerwas das Phänomen der Entwicklung des Pro-testantismus von der Mehr- zur Minderheit verstehen. Mit Yoders Ansatz begegnet eine »messianische Nachfolgeethik«, die zum Beispiel in der radikalen Befolgung der Gewaltlosigkeit Jesu keine unverantwortliche Weltflucht sieht, sondern gerade das entscheidende messianische Zeugnis für die Welt erkennt. Auf den Spuren Yoders entwickelt auch Hauerwas seine Ethik, die sich tugend-ethisch ganz von der story Gottes her versteht, welche die Kirche – vor allem durch die Praxis von Taufe und Abendmahl – verkörpern und gerade hierin ihre sozialethische Kraft erkennen solle.

Der Reader wird durch eine vom Herausgeber Peter D. Browning verfasste hilfreiche Einleitung eröffnet. In Form einer zugespitz- ten Geschichte protestantischer Ethik in den USA des 20. Jh.s werden die im Reader vertretenen Personen in ihren Kontexten vorgestellt, sodass die Lektüre der übersetzten Originale leichter fällt. Zudem sind den Originaltexten jeweils dreiseitige Einführungen vorangestellt: Durch sie erfahren die Lesenden jeweils Grundlegendes zu Person und Werk, Eigenheiten des theologischen Ansat-zes sowie Hinweise zum für den Reader ausgewählten Textausschnitt. Darüber hinaus finden sich Hinweise zu einschlägiger Primär- und Sekundärliteratur. Der Band schließt mit einem ebenfalls von Browning verfassten Ausblick auf gegenwärtige Entwicklungen protestantischer Ethik in den USA, die sich mit dem Schrumpfen des Mainline-Protestantismus, der zunehmenden Spezialisierung des eigenen Feldes, Interreligiosität und Globalisierung auseinandersetzt. Browning hebt die wachsende Diversität der protestantischen Ethik positiv hervor und verweist auf die Zukunftsträchtigkeit von Ethiken, die aus Schwarzer, Latinx, asiatisch-amerikanischer und queerer Perspektive entworfen werden.

Anschließend an diesen Ausblick möchte ich für mögliche Folgeprojekte die Berücksichtigung womanistischer Ethik sowie ökologisch-theologischer Ethik anregen. Womanistische Theologie und Ethik, zu deren Vertreterinnen Delores S. Williams und Katie G. Cannon zählen, entwickelten sich in den 1980er Jahren als Ansatz, der die Erfahrungen Schwarzer Frauen zum Ausgangspunkt nimmt und – zum Beispiel in Auseinandersetzung mit der biblischen Hagar-Figur – die Intersektionen von rassistischer, sexistischer, klassistischer Diskriminierung problematisiert. Ökologische Theologie und Ethik, zu deren Vertreterinnen John B. Cobb und Sallie McFague zählen, entwickelten sich seit den 1960er Jahren und setzen sich mit der Problemanzeige auseinander, dass das Christentum zu einer ökologisch desaströsen Vorrangstellung des Menschen beigetragen habe. Seither versucht diese ethische Richtung, die Potentiale der christlichen Tradition – zum Beispiel die Schöpfungs- und Inkarnationslehre – für ökologisch sensible christliche Existenz zu bedenken.

Der Reader eignet sich für alle, die sich anhand von übersetzten Originaltexten einen vertieften Einblick in die US-amerikanische protestantische Ethik verschaffen wollen sowie (vollständig oder in Ausschnitten) als Grundlage für Seminare mit fortgeschrittenen Studierenden. Der Reader ist hierzu nicht nur wegen der Zugänglichkeit der Texte zu empfehlen, sondern auch weil er Texte versammelt, deren Relevanz für die gegenwärtige deutschsprachige Ethik längst nicht ausreichend gewürdigt und anerkannt ist.