Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2024

Spalte:

343-345

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stekeler-Weithofer, Pirmin

Titel/Untertitel:

Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts. Ein dialogischer Kommentar.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2021. 1134 S. = Philosophische Bibliothek, 740. Lw. EUR 98,00. ISBN 9783787338863.

Rezensent:

Michael Moxter

Die Grundlinien der Philosophie des Rechts sind nicht nur die einzige Buchpublikation Hegels in seiner Berliner Zeit, sondern auch ein eminenter Text, den gründlich studiert haben muss, wer in Fragen der Praktischen Philosophie urteilsfähig sein will. Das gilt für den Freiheitsbegriff und den Rechtsgedanken genauso wie für das Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit, für Hegels Kantkritik, die Paradoxien des Gewissens, die Institutionentheorie, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, aber auch für die Rolle der Religion (wie sie Hegel im § 270 bestimmt) und vieles andere mehr. Natürlich handelt es sich um einen äußerst umstrittenen Text, der als Stütze der Monarchie, als Preußische Staatsideologie, als Machwerk des Bellizismus oder als Brutstätte einer nordisch-germanischen Reichsidee, an der die Weltgeschichte ihre Vollendung finde, kritisiert wurde. Ein solches Buch verdient es, mikrologisch interpretiert und kommentiert zu werden – und zwar im Horizont seiner eigenen Zeit, im Kontext des Hegelschen Systementwurfs und sicher auch im Gegenüber zu aktuellen philosophischen Kontroversen.

Der Vf. sieht diesen Bedarf und möchte ihn durch »einen dialogischen Kommentar« decken. Nun könnte diese Kommentarform die Erwartung wecken, ein Hegelkritiker und ein strammer Hegelianer würden sich im Gespräch gemeinsam um die Interpretation der einschlägigen Texte bemühen. Doch so ist es weder hier gemeint noch in den entsprechenden Bänden des Vf.s zur Phänomenologie des Geistes oder zur Wissenschaft der Logik. Das leitende Verständnis des Dialogischen zeigt sich am Abdruck des gesam- ten Textes der Hegelschen Grundlinien, der abschnittsweise paraphrasiert und aktualisiert wird – und zwar in der Form, dass schon äußerlich auf eine klare Trennung von Text und Kommentar verzichtet wird, beide werden nur durch ein minimal abweichendes Druckbild und marginalisierte Seitenangaben voneinander abgehoben. Auch inhaltlich bietet dieser Band des Meiner-Verlages ein ineinanderfließendes Gewebe (einen textus im wörtlichen Sinne), ein »Hin und Her zwischen Text, kommentierenden Paraphrasen und Beispielen gerade auch aus der Gegenwart« (16).

Klar abgegrenzt ist des Vf.s Unternehmen dagegen von einer Forschungslandschaft, die laufend »Meta-Kommentare« produziere und mit ihren Kontroversen »in der Popularphilosophie zu einem unendlichen Gerede philosophischen Räsonnements« führe (43). Man mag da denken, an wen man will, aber auch bezweifeln, dass die üblichen Verdächtigen durch ihre zu große Anhänglichkeit an die wissenschaftliche Kommentar- und Forschungsliteratur auffällig wurden. Wie dem auch sei: Der Vf. bekennt, dass er »die Wichtigtuereien einer Kaffeehausphilosophie oder die Kolportagen des Feuilletons auf sich beruhen lassen« könnte, wenn sie nicht »in ihrem teils vielstimmigen, teils politisch korrekten Konformismus jede ernstzunehmende Sozial-, Rechts- und Staatsphilosophie infrage stellten« (73). Der Vf. ist also nicht nur engagiert, sondern mit erkennbarer Erregung am Werk. Ihm genügen weder die systematischen Rekonstruktionsangebote, die Hegels Rechtsphilosophie seitens seriöser Forschung bisher erhalten hat, noch kann er sich über die unbekümmerte tagesaktuelle Verachtung des Rechtsgedanken beruhigen. Dialogisch ist dieser Kommentar daher vor allem darin, dass er Hegels Ausführungen mit eigenen Worten reinszeniert, neben Sachargumenten auch dessen Polemik wiederholt – etwa gegen die »Heerführer« der Gegenwart, die sich nicht »entblöden«, ihre »Seichtigkeit« Philosophie zu nennen.

Was auf diese Weise entsteht, könnte man eine Coverversion der Hegelschen Rechtsphilosophie nennen. Sie rekonstruiert nicht nur deren Grundbegriffe und Gedanken, sondern stimmt auf ihre Leitmotivik ein, ahmt ihren Denkgestus nach. Dass das Verhältnis zwischen Text und Kommentar niemals ›dialogisch‹ sein kann, weiß jeder, der sich beruflich um Auslegung bemüht. Der Versuch, diese konstitutive Differenz zugunsten eines vermeintlichen Gesprächs der Denker einzuziehen, läuft auf Einverleibung eines philosophischen Klassikers hinaus, bei dessen Aktualisierung nicht nur die Horizonte, sondern auch die Ansprüche stellvertretender Sachgemäßheit und sachgemäßer Stellvertretung verschmelzen: »Hegel bestätigt unsere Lesart« (489).

Das führt zu Überblendung der Ausführungen des Vf.s mit der Bekundung der Werturteile des Kommentators (»Die romantische Vorstellung von einer Wissenschaft und Philosophie des Staates […] der sogenannten menschlichen Dinge, der ›humanities‹, macht es Schülern und Studierenden leicht: ›Den Seinen gibt Er’s schlafend‹ – oder wenigstens abends am Biertisch« [74]), zu Anachronismen (die leere Freiheit zeige sich bei Hegel »›als Fanatismus der indischen reinen Beschauung‹, also der Selbstentleerung in einer so genannten Transzendentalen Meditation« [153]) oder zu persönlichen Stoßseufzern, für die Hegels Text als bloßer Stichwortgeber fungiert (»über die ›nicht befriedigte Eitelkeit‹ von Theologen, die nicht mehr zu überzeugen vermögen, […] brauchen wir gar nicht weiter zu sprechen« [847]). Manches gilt dem Vf. als »reiner bullshit« (397), und Karl Poppers BuchDie Offene Gesellschaft und ihre Feinde wird bescheinigt, »zu sehr zeitbedingte Vorurteile gegen deutsche Philosophie und Wissenschaft« zu bedienen, »als dass man es in allem ernst nehmen dürfte. Schon in den 20er und 30er Jahren wurde ja allerlei Törichtes über Hegel verbreitet, etwa von John Dewey, Will Durant oder Bertrand Russell« (93. Anm.). Ob Sammelrezensionen dieser Art mehr Vorurteile ab- als aufbauen, darf wohl offenbleiben.

Zu den Stärken des Kommentars zählen die Orientierung am Freiheitsbegriff, ein Rekonstruktionsvorschlag zur Personalität, nach dem die »zeitallgemeine Person, die jeder von uns nach seinem Tod auf ewig gewesen sein wird« vom »Tun des personalen Subjekts in der Zeit« (14.275.293) zu unterscheiden sei, wenn auch allein durch dieses konstituiert. Sodann die konsequente Auslegung des Hegelschen Sittlichkeitsbegriffs (Ethos) als eines »System[s] realer Praxisformen« (1087), in dem sich Personalität und Institutionalität in einem Gemeinwesen vermitteln, die durchgängige Kritik eines Gegenstandsbegriffs, der einer sortalen oder diskreten Menge von Einzeldingen angeglichen bleibt (279), und die Entlastung des geschichtsphilosophischen Gedankens einer notwendigen Entwicklung von der naiven Vorstellung eines »es konnte nicht anders kommen« zugunsten einer zwar jederzeit kontingenten, aber gleichwohl vernünftigen Entwicklung, die eine gegebene Problemsituation bearbeitet und löst, indem sie deren eigene, aber widersprüchlichen Spannungen und Interessen refiguriert (1094). Es ergibt sich so eine nachmetaphysische Lesart von Hegels »Weltgeist« wie im Übrigen auch eine ihr entsprechende Uminterpretation der Vorstellung einer ewigen Geistseele. Auch hält der Vf. an einer platonischen Intuition fest, wenn er durchgängig zwischen der Endlichkeit aller realen Dinge bzw. Standpunkte und einem »Generisch-Allgemeinen« unterscheidet, dem das Prädikat des Unendlichen zukommt und das allein im Denken erfasst werden kann, genauer: in einem Hegelschen Begriff des Begriffs, der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit zu vermitteln versteht.