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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

339-341

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gerlach, Stefan

Titel/Untertitel:

Schellings Philosophie der Potenz 1798–1854.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XI, 300 S. = Collegium Metaphysicum, 30. Lw. EUR 99,00. ISBN 9783161619304.

Rezensent:

Michael Hackl

In seiner Studie zu »Schellings Philosophie der Potenz« untersucht Stefan Gerlach das methodische Grundgerüst der Schellingschen Philosophie. Seine Arbeit gliedert sich in vier Teile: 1. Teil: »Potenzen der Natur und des Geistes (1798–1800)«; 2. Teil: »Potenzen des Absoluten – Die Identitätsphilosophie (1801–1806)«; 3. Teil »Die Entwicklung einer eigentlichen Potenzenlehre (1809–1821)«; 4. Teil »Potenzen des Seins in der Spätphilosophie (1827–1854)«.

Bereits in der Einleitung verdeutlicht G., dass die Potenzenlehre Schellings Denken seit 1798 begleitet und er darauf auch »nie wieder verzichten« wird (9). Mit dem Potenzbegriff versucht er »die Dimensionen der materiellen Welt in räumlicher und organischer Hinsicht ebenso zu erklären wie die Dimensionen des Geistigen von seinen ersten Selbstverhältnissen bis hinauf zu seinen höchsten kulturellen Leistungen in Kunst und Philosophie. Er soll auch zeigen, wie die unendliche Mannigfaltigkeit der geistigen und materiellen Welt aus dem Einheitspunkt der Identität heraus entwickelt werden kann« (2). Die Rekonstruktion der Potenzenlehre gestaltet sich als ein weites Feld, denn es gibt »nicht eine Hauptbedeutung von ›Potenzen‹ bei Schelling […], bei welcher lediglich zuzusehen wäre, auf welche Art der so festgelegte Begriff in den verschiedenen Systementwürfen seine unterschiedlichen Aufgaben tragen kann. Sondern dass Schelling mit diesem Begriff eine fast unüberschaubare Vielzahl von teils weit auseinanderliegenden Bedeutungen verbindet, zumeist ohne diese explizit zu nennen, so dass viele von ihnen nur über der (sic!) jeweiligen Erörterungskontext zu rekonstruieren sind« (3). Scheinbar wandelt sich mit jeder Neuausrichtung auch die Methodik.

Im Ersten Teil zeigt G., dass Schelling 1798 den Begriff der Potenz noch nicht als eigenständigen Gedanken verwendet, sondern diesen nur im Hinblick auf John Browns Überlegungen referiert (18–20). Schelling entlehnt den Potenzbegriff weder von Brown noch von Carl August Eschenmayer, von der Mathematik, von Friedrich Heinrich Jacobi oder von den Romantikern (vgl. 33–42), sondern arbeitet diesen in Rückgriff auf den »zeitgenössischen intellektuellen Diskurs der 1790er Jahre« aus (42). Erste Eigenständigkeit gewinnt der Begriff im Ersten Entwurf eines Systems der Philosophie, die Methode wird aber auch hier nicht deutlich her-ausgearbeitet, sondern lässt sich nur kontextuell erschließen (24 f.). Zu den Schlüsselbegriffen der frühen Naturphilosophie zählt G. den Begriff der Potenz jedenfalls nicht. Mit dem System des transzendentalen Idealismus wird der Potenzbegriff auf die Geistphilosophie übertragen (76). Diese Verknüpfung prägt sodann auch die späten Schriften Schellings (vgl. 79 f.).

Der Zweite Teil widmet sich den identitätsphilosophischen Schriften, G. zeigt, wie die Potenzen in der Darstellung meines Systems von 1801 als »Elemente der erscheinenden Welt des Geistes und der Natur« begriffen werden, allerdings bezeichnen sie hier »primär die Stellung des Einzelnen bzw. einzelner Seinsbereiche in Bezug auf das vorausgesetzte Ganze« (106 f.). Der Potenzbegriff erscheint für den gesamten Systemzusammenhang relevant, wobei Schelling die dreigliedrige Potenzstruktur im Würzburger System abermals »strenger und konsequenter […] als universelles Entfaltungsmuster des Absoluten denkt« (134, vgl. 181). Dies ist aber kein stringenter Entwicklungsgang, denn in Philosophie und Religion wird der Potenzbegriff nicht im methodischen Sinne verwendet. In den Jahren 1801 bis 1806 werden die Potenzen als »relative Übergewichtsverhältnisse« verstanden (146, vgl. 133).

Der Dritte Teil setzt mit der »thematische[n] Verschiebung« der Freiheitsschrift ein (150), welche sich nach G., gegen Schellings eigene Deutung, nicht »nahtlos in das Gesamtgefügte der mit der Darstellung meines Systems von 1801 entworfenen Einheit von Natur- und Geistphilosophie« einfügt. Das sei der »ontologischen Grundverlagerung« geschuldet, »welche in der besonderen Art eines Dualismus gründet, die Schelling mit der ›Unterscheidung […] zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist‹ (AA I,17, 129/SW VII, 357) einführt«: dieses Verständnis weicht »deutlich von dem der Identitätsphilosophie ab[]« (151 f.). Obwohl die Stuttgarter Privatvorlesungen an die Freiheitsschrift anknüpfen, greifen jene im Unterschied zur Freiheitsschrift »auf das Muster« zurück, »das die Potenzenordnung der Künste in der Philosophie der Kunst oder allgemeinen Metaphysik der Natur im ›Würzburger System‹ geprägt hat« (181). Zu vertiefen wäre, inwiefern sich die Stuttgarter Privatvorlesungen von der ontologischen Grundunterscheidung der Freiheitsschrift abkoppeln, sodass sie wieder an die Potenzenlehre der Identitätsphilosophie anknüpfen können. Jedenfalls wird fortan die geschichtliche Entfaltung durch die Potenzenlehre beschrieben. Dieses Denkmuster führt Schelling in den Münchner Weltalter-Entwürfen weiter (198).

Die in Erlangen dargelegte Beschreibung der Verwirklichung des Absoluten mittels Seinkönnen, Seinmüssen und Seinsollen baut auf dem geschichtlichen Denken auf – Wille wird als Potenz verstanden (207). Der Vierte Teil verortet hier einen Übergang im Werk: Das System der Weltalter (vgl. 226 f.) und die Philosophie der Offenbarung schließen nämlich direkt an die Erlanger Überlegungen an (246 f.); auf eine umfassende Rekonstruktion der Schellingschen Mythologie wird übrigens verzichtet. Die Potenzen bein- halten »im Sinne logischer oder kategorialer Möglichkeiten den Möglichkeitsraum zukünftiger Welten, und sie sind im Sinn von Realmöglichkeiten zugleich deren Realisierungsbedingungen« (244). Bei der Rekonstruktion im Rahmen der Philosophie der Offenbarung stellt man sich die Frage, wie dieser Möglichkeitsraum mit der Naturphilosophie in Verbindung steht. Immerhin stellt sich hier, so G., der Potenzbegriff als »universelle metaphysische Theorie« (252) dar, was freilich in der Darstellung der reinrationalen Philosophie wieder anders gedeutet wird (bes. 275–277). Nach G. liefert die Potenzenlehre darin die »reinen Prinzipien des Denkens« (272) – die Darstellung der reinrationalen Philosophie bildet ab, »wie das reine Denken zumindest die Möglichkeit des Wirklichen aus sich erzeugen kann« (273).

In seiner klaren Analyse schlüsselt G. die Potenzenlehre in Schellings Schriften auf und legt dadurch die Brüchigkeit seiner Methode frei. Die jeweiligen Abschnitte des Buches sind so strukturiert, dass die einzelnen Schriften für sich beleuchtet werden, wodurch die Kapitel unabhängig voneinander gelesen werden können. Diese Vorgehensweise bringt es freilich mit sich, dass z. B. die späten Münchner und Berliner Schriften nicht auf ihre Beziehung zur (frühen) Naturphilosophie diskutiert werden, ebenso wenig erlaubt es dieser Zugang, einen direkten Vergleich zwischen verschiedenen Fassungen von Schellings Arbeiten anzustellen, z. B. der Weltalter-Manuskripte oder der Philosophie der Offenbarung (die Untersuchung beschränkt sich im Grunde auf die von Karl Friedrich August herausgegebenen Sämmtlichen Werke). Dabei stellt die dargelegte Brüchigkeit der Schellingschen Methodik den Rezensenten vor einige Fragen: Hat Schelling seine Methode stets verbessert und schreitet so zur finalen Methode fort? Wenn ja, sind dann die frühen Schriften obsolet, weil mit jeder Schrift ein neues, für sich stehendes und weiterentwickeltes philosophisches System entfaltet wird? Oder ist die Potenzenlehre nichts anderes als ein Platzhalter, den Schelling nutzt, um ihn je nach Bedarf methodisch anzupassen? An diesen Fragen zeigt sich, dass G.s breit angelegte Rekonstruktion aus Sicht des Rezensenten einerseits dazu beiträgt, die Potenzenlehre in Schellings verschiedenen Schriften zu erschließen, andererseits eröffnet sie aber auch einen kritisch fragenden Blick auf den systematischen Zusammenhang von Schellings Œuvre.