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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

331-335

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Reden, Voten und Berichterstattung in der Stände-Versammlung des Großherzogtums Baden 1909–1915. Hg. v. H. Haury. B

Verlag:

erlin u. a.: De Gruyter 2022. XX, 296 S. = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 23. Geb. EUR 220,00. ISBN 9783110762310.

Rezensent:

Christian Danz

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Troeltsch, Ernst: Nachgelassene frühe Texte. Hg. v. F. W. Graf. Berlin u. a.: De Gruyter 2022. XXII, 490 S. m. 10 farb. Abb. = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 24. Geb. EUR 249,00. ISBN 9783110738766.


Zwei weitere neue Bänder der zügig voranschreitenden Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Ernst Troeltsch sind im Folgenden anzuzeigen. Der Band 23 bietet Troeltschs Reden, Voten und Berichterstattung in der Stände-Versammlung des Großherzogtums Baden, deren Erster Kammer der Heidelberger Theologe von 1909 bis zu seiner Berufung nach Berlin im Jahre 1915 als Vertreter seiner Universität angehörte. Herausgegeben ist der sorgsam edierte Band von Harald Haury, und er bietet mit den Protokollen von Troeltschs Stellungnahmen in der Ersten Kammer der Stände-Versammlung einen Einblick in ein Themenfeld, welches auf den ersten Blick abseits von theologischen und religionsphilosophischen Fragestellungen unter den Bedingungen der Moderne liegt. Die in dem Band edierten Protokolle zeigen ihn »in einem Textgenre […], das seine Art zu denken in einer ganz eigenen, unterschiedlichste Themen oft prägnant packenden Weise wiederspiegelt« (23/4). Darin liegt der Reiz des vorliegenden Bandes. Er präsentiert eine Erfahrungsschule im politischen Meinungsbildungsprozess im deutschen Kaiserreich, auf die Troeltsch in späteren Jahren zurückgreifen konnte (vgl. 23/13).

Insgesamt enthält der Band die Protokolle von 22 Voten und Stellungnahmen des Heidelberger Theologen aus dem Zeitraum von 1909 bis 1915. Vorangestellt ist der Edition der Protokolle neben den für die KGA üblichen Informationen zu Aufbau und Editorischen Grundsätzen (23/XVIII–XVII) sowie dem Siglenverzeichnis (23/XIX) eine Einleitung (23/1–32) des Herausgebers. Sie fasst prägnant den historischen Kontext von Troeltschs Tätigkeit in der Ersten Kammer der Stände-Versammlung des Großherzogtums Baden, der Verfassung des Großherzogtums sowie der politischen Verhältnisse in Baden zusammen, welche im Hintergrund der Stellungnahmen des Theologen stehen. Beschlossen wird der Band mit Abgeordnetenverzeichnissen (23/221–236), Literaturverzeichnissen (23/237–253), Personen- (23/255–258) und Sachregister (23/259–294).

Troeltsch gehörte der Ersten Kammer der Stände-Versammlung vom 44. Landtag, der am 23. November 1909 zusammentrat (23/20), bis zum 46. Landtag an, der am 1. Juli 1914 endete (23/24). »Der 1915 noch in Troeltschs Mandatszeit einberufene außerordentliche Landtag schließlich, der fünfte seit Gewährung der Verfassung im Jahre 1818, wurde am 4. Februar um 9.30 Uhr feierlich eröffnet.« (Ebd.) Die am selben Tag stattfindende öffentliche Sitzung war die letzte, an der Troeltsch teilnahm, denn im Sommersemester des Jahres legte er aufgrund seines Wechsels nach Berlin sein Mandat nieder. Seine Mitarbeit in der Ersten Kammer beschränkte sich jedoch nicht auf die öffentlichen Sitzungen. Hinzu kamen Vorberatungen in Sachkommissionen, »deren Ergebnisse im Plenum von einem Berichterstatter vorgetragen wurden« (23/25). Zudem war Troeltsch als Abgeordneter in der Stände-Versammlung in die Arbeit der badischen Nationalliberalen eingebunden, deren Engerer Ausschuss drei bis fünfmal im Jahr tagte (23/17).

Thematisch nahm Troeltsch, wie die edierten Protokolle dokumentieren, zu diversen Themen Stellung, die in der Ersten Kammer diskutiert wurden. Das erste überlieferte Protokoll mit einem Votum von ihm stammt von den Verhandlungen der Ersten Kammer vom 44. Landtag 1909/10, deren sechste öffentliche Sitzung am 26. Februar 1910 stattfand (23/33–46). Troeltsch äußert sich zu den Beratungen über das Budget des Ministeriums der Justiz, des Kultus und des Unterrichts vor allem mit Blick auf die Universität Heidelberg. Neben diversen baulichen Missständen an der Universität aufgrund von Finanzknappheit (»Nur muß zu rechter Zeit in den Beutel – ob den eigenen oder den anderer, ist völlig einerlei – gegriffen werden.« [23/41]) kommt er auch auf Nachbesetzungen von theologischen Lehrstühlen an der Theologischen Fakultät der Universität zu sprechen (23/35–37.43–46). Die Ablehnung der von der Fakultät vorgeschlagenen Kandidaten durch das Ministerium im Einvernehmen mit der Kirchenleitung kommentiert Troeltsch wie folgt: »Aber ganz können wir den Ausdruck einer gewissen herben Schmerzempfindung nicht unterdrücken. Es ist eben doch der Fall, daß gerade die Berühmtheit und gerade glänzende Leistung ein Hindernis gewesen sind.« (23/37) Budgetfragen des Großherzogtums sind auch der Gegenstand von weiteren Voten Troeltschs. So äußerte er sich am 23. Februar 1912 in der vierten öffentlichen Sitzung der Ersten Kammer des 45. Landtags zu der schwierigen Lage der Institute der Heidelberger Universität (23/145–159). Diese seien »zum großen Teil veraltet, abgenutzt und der heutigen Frequenz überdies räumlich nicht mehr genügend.« (23/147) Das bisherige »Flicksystem« (23/148) müsse einer grundlegenden Erneuerung weichen, die von einem für das »Ganze, insbesondere für die Gebäudeentwicklung« her gedachten Plan ausgeht, »der die allmähliche Erneuerung der Universität ermöglicht« (ebd.). Auch in diesem Votum kommt Troeltsch ausführlich am Ende vor dem Hintergrund des Antimodernisteneids der römischen Kirche auf in der Zweiten Kammer der Stände-Versammlung erhobene Forderungen nach einer Abschaffung der Theologischen Fakultäten zu sprechen (23/150–159).

Neben Budget-Fragen thematisieren die Stellungnahmen von Troeltsch die unterschiedlichsten Themen wie die Reglung der Prostitution (23/51–60.61–78), Steuerreformen, Erneuerung des ba- dischen Schulwesens, Gehälter und Pensionen von Lehrerinnen und Lehrern, »Dissidentenparagraphen«, Reform der Stände- und Gemeindewahlordnung, aber auch solche wie zum Beispiel die Einführung einer Staatslotterie in Baden. Sein Votum in dieser Sache ist aufschlussreich und geradezu paradigmatisch für seine Redebeiträge in der Ersten Kammer. Sie verbinden grundsätzliche ethische, politische und ökonomische Erwägungen mit pragmatischen vor dem Hintergrund der geschichtlich gewordenen religionskulturellen Verhältnisse im Großherzogtum Baden. »Nur in dieser Rücksicht auf die uns umgebende Lage, wo ein kleiner Mittelstaat gegenüber einer großen Majorität ihn umgebender Staaten sich befindet, die ihrerseits jenes ethisch-moralisch-nationalökonomische Bedenken nicht anerkennen, und wo er seinerseits sich den Luxus der strengen Durchführung der alleinberechtigten und möglichen politischen, moralischen und ökonomischen Prinzipien nicht gestatten kann, nur aus diesem Grunde ziehe ich nicht die Konsequenz wie Exzellenz Lewald, gegen das Gesetz zu stimmen, sondern stimme für ein Gesetz, das ich an und für sich nach rein nationalökonomischen, ethisch-politischen Prinzipen nicht für berechtigt, sondern für rückständig und unerfreulich halte.« (23/144) Troeltschs letzter Redebeitrag datiert auf den 27. Juni 1914 und galt einer Abänderung des Polizeistrafgesetzbuches (23/219 f.).

Frühen nachgelassenen Texten von Troeltsch ist der von Friedrich Wilhelm Graf herausgegebene Band 24 der Kritischen Gesamtausgabe gewidmet. Er enthält neben Texten des jungen Troeltsch aus seiner Schulzeit vor allem seine Klausuren einschließlich der Predigten von dessen Aufnahme- und Anstellungsprüfung beim Königlich Protestantischen Konsistorium in Ansbach aus den Jahren 1888 und 1891. Die dem Band vorangestellte Einleitung (24/1–110) des Herausgebers informiert umfassend und detailliert über Troeltschs weitverzweigte Familie (24/1–35), das Humanistische Gymnasium bei St. Anna, welches Troeltsch von 1874 bis 1883 besuchte (24/35–67), seine Aufnahmeprüfung für die Bayerische Landeskirche (24/67–84) und seine theologische Anstellungsprüfung (24/85–97). Biogramme (24/383–388), umfangreiche Literaturverzeichnisse (24/389–418), Personen- (24/419–427), Sach- (24/429–481) und Ortsregister (24/483–485) beschließen den Band.

Da ein Nachlass Troeltschs nicht existiert (24/V), haben sich nur wenige Dokumente aus dessen Jugend- und Studienjahren erhalten. Die überlieferten Materialien bis zum Abschluss des Studiums bzw. der theologischen Anstellungsprüfung für die Bayerische Landeskirche 1891 macht der vorliegende Band zugänglich. Sie beleuchten Troeltschs Verhältnis zu seiner Familie (»Ernst Troeltsch war ein Familienmensch.« [24/1]), seine Schul- sowie Studienzeit. Über seine enge Bindung an seine Familie sowie ihre diversen Zweige berichtet minutiös die historische Einleitung des Herausgebers. In den Fokus tritt vor allem sein Vater Ernst Troeltsch, der seit 1868 das Amt des Armenarztes in Augsburg innehatte, sich in diversen Vereinen der Stadt engagierte und ein geachteter Bürger in Augsburg war. Der junge Troeltsch hatte, wie das in dem Band abgedruckte Gedicht des Zehnjährigen (24/112) zeigt, ein enges Verhältnis zu seinem Vater. Wie dieser besuchte er das protestantische Gymnasium zu St. Anna in Augsburg, wo er durch gute schulische Leistungen glänzte. Seine wichtigsten Lehrer waren Friedrich Mezger (24/43–47), Friedrich Boeckh (24/48–60) sowie der Pfarrer Julius Hans (24/60–65).

Insgesamt enthält der Band 23 Texte des jungen Troeltsch, wobei jedem mit Ausnahme der Klausuren von 1888 und 1891 ein editorischer Bericht vorangestellt ist, der über ihre Entstehungshintergründe informiert. Eröffnet wird der Band mit vier Texten aus seiner Schulzeit, dem schon genannten Gedicht des Zehnjährigen, sodann einer kurzen Rede mit dem Titel Ein Gruß ans Gymnasium, die Troeltsch anlässlich des Festakts zum 300-jährigen Jubiläum des Kollegiums bei St. Anna am 4. Dezember 1882 gehalten hat (24/128f.), seiner Absolventenrede vom 6. August 1883 (24/132–135) sowie dem Gedicht Triumph der Liebe (24/138–142). Aus Troeltschs Göttinger Studienzeit stammt seine Preisarbeit zum Thema Hermann Lotzes Ansichten von dem Gewissen und ihre Bedeutung für die christliche Apologetik (24/155–194), die am 8. Juni 1887 von der Göttinger Universität ausgezeichnet wurde. Allerdings erhielt Troeltsch nur den halben Preis zuerkannt, da der Dekan der Theologischen Fakultät August Wiesinger nach Rücksprache mit den Kollegen sowie dem Philosophen Julius Baumann der Auffassung war, dass Troeltschs Arbeit, eine dem ausgeschriebenen Thema »wirklich entsprechende Lösung nicht bietet« (24/151). Strukturiert ist Troeltschs Arbeit in drei Teile. In ihnen versucht er zu zeigen, dass Lotzes Philosophie sowie sein Begriff des Gewissens alles andere als ein Beitrag zu einer Apologetik des Christentums sei, sondern ein Angriff auf dasselbe. »Also weit entfernt eine Apologie leisten zu können, müssen wir jetzt einen Angriff abschlagen, indem wir uns an die oben getroffene Bestimmung des Begriffs des Christentums erinnern, wonach bei aller rein praktischen Innerlichkeit desselben doch seine historische und wesentliche Gebundenheit an die Offenbarung Gottes in Christo in erster Linie steht.« (24/163)

Mitgeteilt wird in dem Band auch ein aus Troeltschs Studienzeit überlieferter Stammbucheintrag vom 24. Juni 1888 (24/196 f.) in das Stammbuch eines Kommilitonen, dessen Name sich nicht mehr eindeutig identifizieren lässt. Den meisten Raum in den edierten frühen nachgelassenen Texten nehmen die Klausuren Troeltschs für die Aufnahme- und Anstellungsprüfungen in der Bayerischen Landeskirche ein. Zunächst bietet der Band seine Klausuren, den katechetischen Entwurf sowie die Probepredigt zur Theologischen Aufnahmeprüfung. Die Klausur in Dogmatik ist dem Kirchenbegriff gewidmet (24/200–210), die in Dogmengeschichte der mittelalterlichen Scholastik (24/211–219), die alttestamentliche einer Erklärung von Jes 6,1–10 mit Bezug auf Mt 13,14 und Apg 28,26 (24/220–227), die ethische dem Gewissen (24/228–235), die neutestamentliche Joh 18,28–38 (24/236–244) und die kirchengeschichtliche den Lehrdifferenzen zwischen den westlichen und östlichen Kirchen (24/245–251). Troeltsch hielt seine Probepredigt über Gal 6,14–16 (24/252–262), und sein katechetischer Entwurf galt der fünften Bitte des Vaterunsers (24/263–265). Über das hohe Niveau der Prüfungen und deren komplexes Regelwerk und Procedere berichtet die Einleitung in den Band (24/67–84). Troeltsch absolvierte diese Prüfungen als Bester seines Jahrgangs.

Für die Silberhochzeit seiner Eltern am 17. Mai 1889 schrieb der junge Troeltsch eine Hochzeitschronik (24/268–299). In sie integrierte er diverse andere Reden (24/267). Den Abschluss des Bandes bilden die Klausuren, Katechese und Predigt Troeltschs zur Theologischen Anstellungsprüfung, die ebenso wie diejenigen zur Aufnahmeprüfung im Landesarchiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern aufbewahrt werden. In der Dogmatik lautete das Thema Die Begriffe Glaube, Rechtfertigung, Heiligung (24/302–316), im Neuen Testament war Acta 24,10–21 zu behandeln (24/317–327), in Kirchengeschichte das Papsttum zur Zeit Karls des Großen (24/328–337), im Alten Testament Psalm 137 (24/338–334), im Kirchenrecht war ein Extemporialaufsatz Über die Nachholung der Taufe (24/345–347) und in Ethik Über die Selbstverleugnung nach Mt 16,24 f. (24/348–355) zu schreiben. Vorzulegen zur Anstellungsprüfung war von den Kandidaten eine Predigtdisposition zu Mk 10,42–45 (24/356–359) sowie ein katechetischer Entwurf zum Thema Erziehung zum Gehorsam (24/360–363). Seine Predigt hielt Troeltsch über Eph 2,4–9 (364–378), und seine Katechese galt Mt 5,21 f. (24/379–382). Seine theologische Anstellungsprüfung absolvierte Troeltsch wiederum als Jahrgangsbester mit der Note »Vorzüglich«.

Im dem engen Rahmen einer Besprechung ist es freilich nicht möglich, die in dem Band edierten Texte des jungen Troeltsch im Einzelnen zu diskutieren oder Entwicklungslinien, etwa zwischen der Aufnahme- und der Anstellungsprüfung in Bayern, herauszuarbeiten. In jedem Fall stellt der Band wichtige Materialien für eine Rekonstruktion der werkgeschichtlichen Entwicklung von Troeltschs theologischem Denken in einer herausragenden Edition bereit, in deren Hintergründe und Kontexte von dem Her-ausgeber prägnant eingeführt wird. Sowohl die Lotze-Arbeit als auch die Klausuren dokumentieren das theologische Denken des jungen Troeltsch, und sie lassen ein sich entwickelndes Problembewusstsein erkennen sowie Themen, die von ihm in seinem weiteren Werk aufgenommen und weitergeführt wurden.