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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

329-331

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Sumalvico, Thea

Titel/Untertitel:

Umstrittene Taufe. Kontroversen im Kontext von Theologie, Philosophie und Politik (1750–1800).

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2022. 575 S. = Hallesche Forschungen, 64. Kart. EUR 74,00. ISBN 9783447119108.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Der Umfang von 575 (eng bedruckten!) Seiten zeigt an, dass diese kirchengeschichtliche Dissertation von Thea Sumalvico, die 2021 bei Friedemann Stengel in Halle abgeschlossen wurde, sehr weit ausgreift. Die 15 Kapitel führen von »Zedlers Universal-Lexicon«, den Philanthropen (J. B. Basedow) und der Lavater-Mendelssohn-Kontroverse über Autoren wie Wilhelm Abraham Teller, Johann David Michaelis und Wilhelm Dohm bis zur damaligen Exorzismusdebatte, zum Thema der Initiation und zur liturgischen Praxis, und schließlich zu Kants Religionsschrift von 1793 sowie zur Debatte um die Judenkonversion. So entsteht anhand des Praxisvollzuges Taufe ein äußerst detailgenaues Bild der späten Aufklärungstheologie (übrigens lehnt S. den Begriff der »Neologie« ab, 145). Die Mitte aller Auseinandersetzungen um die Taufe bildet die Frage, inwiefern diese als imputativ-wirksamer oder als signifikativ-deutender Akt verstanden wird. Dabei wird deutlich, wie sich im besagten Zeitraum auch im lutherischen Kontext das signifikative Verständnis immer mehr durchsetzt. Die für eine Dissertation ungeheure Materialfülle versuche ich im Folgenden in zehn Merkmalen der spätaufklärerischen Tauftheologie zusammenzufassen.

In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s vollzieht sich (1.) eine deutliche Abkehr von der klassischen Tauflehre, wie sie in Luthers Kleinem Katechismus festgehalten ist (»Sie wirkt Vergebung der Sünden, erlöst vom Tode und Teufel und gibt die ewige Seligkeit …«). An die Stelle der Zueignung der Gnade tritt die Aneignung des selbst realisierten Gnadenstandes. So werden von dem preußisch-lutherischen Propst Wilhelm Abraham Teller (1734–1804) die Ablehnung der Wirksamkeit des Teufels und die Selbstverantwortung des Menschen miteinander verbunden, »bei gleichzeitiger Marginalisierung der Rechtfertigung und […] Ablehnung der Taufe als Gnadenmittel« (169).

Daraus ergeben sich (2.) unmittelbare Konsequenzen für die Ansicht zur Notwendigkeit der Taufe. Der Tübinger Theologieprofessor Heinrich Wilhelm Clemm (1725–1775) hält dazu fest, dass die Seelen der ohne Taufe verstorbenen Kinder nicht verloren sind, denn es sei ja »bekannt, dass nicht der Mangel, sondern die Verachtung der Taufe verdammt.« (202) Entscheidend ist für Clemm nicht die Taufe selbst, sondern das individuelle Verhältnis zu ihr. Ganz ähnlich sieht es der Göttinger Theologe Johann David Michaelis (1746–1791): Wer die Taufe haben kann, dem sei sie zur Seligkeit nötig; wer sie aber »ohne seine Schuld entbehret«, werde von der Bibel nicht verdammt (316).

Man gewinnt in dieser Zeit ein autonomes, selbstverantwortliches Verhältnis zur Taufe. S. zeigt (3.) anhand der Debatte um den Taufexorzismus (321–348), wie Positionen und Praktiken, die man ablehnt, als »unvernünftig«, als »abergläubisch«, »katholisch« oder »jüdisch« gekennzeichnet werden. War der Exorzismus zuvor ein beizubehaltender lutherischer Abgrenzungsmarker gegen die Reformierten gewesen, so wird jetzt seine Abschaffung propagiert und diese Praxis gegen den Katholizismus profiliert (347).

Dazu gehört (4.) als philosophischer Hintergrund das neu bestimmte Verhältnis von Leib und Seele bzw. von materieller Welt und Seele. Die materielle Welt lässt sich danach ohne den Einfluss von Seelen erklären. Der Leibniz’schen Monadologie zufolge handeln die Körper, als ob es keine Seelen gäbe, und die Seelen, als ob es keine Körper gäbe; Gott greift nicht in die »Eigengesetzlichkeit körperlicher Bewegungen und seelischer Regungen« ein (19). Geister können danach nicht auf Körper wirken. Die Konsequenzen für das Verständnis der Wirksamkeit der Taufe liegen auf der Hand. In diesen Zusammenhang gehört auch die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, wie sie in der Philosophie Christian Wolffs (1679–1754) mit großer Breitenwirksamkeit vertreten wurde (22 f.).

Entsprechend wird (5.) die Erlösung vor allem als Orientierung an Christus als dem Vorbild eines erfüllten Lebens gedeutet. In den liturgischen Zeitschriftendebatten der Zeit (393–433) geht man davon aus, dass der Täufling durch die Taufe »ein glückseliger Mensch und Glied im Reich Christi« wird. In den Taufformularen ist immer wieder von der Unsterblichkeit – und nicht von der Auferstehung – die Rede. »An keinem Punkt ist es jedoch Jesu Sühnetod, der den Weg zur Seligkeit eröffnet, dies geschehe durch sein vorbildliches Leben und seine Lehre.« (408)

Die Taufe wird darum (6.) wesentlich als Verpflichtung des Täuflings verstanden, so dass Taufe und Konfirmation nahe aneinanderrücken. Die Taufe erweckt zu höherer Tugend und Frömmigkeit: »Der Christ legt also bey der Taufe das feyerliche Gelübde ab, an der Reinigung und Besserung seines Herzens und Wandels unverdrossen zu arbeiten«, heißt es im »Allgemeinen Magazin für Prediger« im Jahr 1791 (397). In der Konfirmation sollen die Kinder diese Verpflichtung selbst übernehmen. Sündenvergebung wird durch die Taufe nicht zugeeignet – sie muss vielmehr »durch Besserung und Pflichterfüllung erarbeitet werden« (399). S. lässt damit erneut plausibel werden, dass und inwiefern die Aufklärung die große Zeit der Konfirmation war.

Die Taufe wird (7.) vornehmlich als kirchlicher Mitgliedschaftsritus, als Initiation, aufgefasst. Sie verliert vieles von ihrem passiven Charakter und unterstreicht das aktive Verhalten des Täuflings – sie ist »kein passives Zueignungsgeschehen, sondern ein aktives Bekenntnis« (509). An der Taufe entscheidet sich nicht primär das eigene Gottesverhältnis (bzw. das eigene Heil), sondern die Zugehörigkeit zu einer überindividuellen Gruppe, der Kirche. Dieses Verständnis der Spätaufklärung hat Immanuel Kant in seiner Religionsschrift von 1793 aufgegriffen und verstärkend auf den Punkt gebracht (435–459). Mit der starken Betonung der Selbstverantwortung ist es für Kant ausgeschlossen, dass durch die Taufe die Gnade zugeeignet wird (458).

Zur Taufe als Mitgliedschaftsritus gehört (8.) auch die damals umfänglich diskutierte Frage der Konversion von Juden, also die Judentaufe. Dieses Thema taucht mehrfach am Rande auf, um dann ausführlich im 15. Kapitel behandelt zu werden (461–510: »Macht die Taufe Christen?«). Die Vfn. betont die Eigenständigkeit der jüdischen Haskala und widerspricht der Ansicht, es handle sich dabei nur um eine jüdische Spielart der allgemeinen Aufklärung (104). Im Exorzismuskapitel (321–348) wird geschildert, wie bei der Judentaufe aus der abrenuntiatio diaboli die Absage an das – als Aberglauben verstandene – Judentum wird: »Entsagest du allem Bösen; allem Aberglauben, allen jüdischen Irrthümern […]?« (346; Kurpfälzische Agende 1783). Das Judentum der Zeit sucht sich von dem Vorwurf der Gesetzesreligion zu befreien und den Eindruck zu vermeiden, die Juden bildeten einen Staat im Staate (489). Vonseiten der Mehrheitsgesellschaft gibt es allerdings die Ansicht, die Juden blieben immer Juden, sie seien »im Grunde untaufbar«. Unter diesen Voraussetzungen galt die Taufe eines Juden sogar als »potenziell staatsgefährdend«, weil so Heuchler in die christliche deutsche Gesellschaft eindringen würden (307).

Insgesamt geht es S. (9.) um eine differenzierte Beschreibung des Denkens und Handelns in der Aufklärungszeit, ohne daraus eine positive oder negative Teleologie herzuleiten. Sie möchte diese Zeit weder als eine Epoche des »Verfalls« – man denke an die berühmte Arbeit von Paul Graff über die »Auflösung« der liturgischen Formen in der Zeit der Aufklärung – noch als eine solche des »Fortschritts« bewertet wissen (3).

Treffend insistiert S. schließlich (10.) darauf, dass »das 18. Jahrhundert nicht ohne Religion zu denken ist« (6). Einem in der Forschung begegnenden Verständnis der Aufklärung, das deren Telos im Pantheismus oder im Atheismus sieht, ist nach S. »vehement zu widersprechen«. Religion ist integraler Bestandteil der damaligen geistigen Auseinandersetzungen.

Bei dieser Dissertation handelt es sich um eine reife Forschungsleistung. Die Arbeit bietet ein reiches Kaleidoskop zum Verständnis und zur Praxis der Taufe zwischen 1750 und 1800. Zwar ist der Umfang etwas aus dem Ruder gelaufen, aber die klare und detaillierte Gliederung (V–XIII) und die ausführliche Zusammenfassung der Ergebnisse (511–523) ermöglichen auch die gezielte Lektüre zu bestimmten Themen. Die großen Textmengen sind hervorragend lektoriert und korrigiert; es finden sich darin nur sehr wenige Verschreibungen.

Die Arbeit bietet allen, die sich mit der Theologie- und Liturgiegeschichte der Taufe oder allgemein mit der Aufklärungstheologie befassen wollen, viel Stoff zur Auseinandersetzung, großen Gedankenreichtum und klare Urteilsbildung. Man wird auf das Buch auch zum Nachschlagen immer wieder gern zurückgreifen.