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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

318-321

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Tingle, Elizabeth C.

Titel/Untertitel:

Sacred Journeys in the Counter-Reformation. Long-Distance Pilgrimage in Northwest Europe.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter (Medieval Institute Publications) 2020. XIII, 246 S. m. 12 Abb. = Research in Medieval and Early Modern Culture. Geb. EUR 86,95. ISBN 9783110685992.

Rezensent:

Martin Ohst

Der reformatorische Einspruch stürzte viele rituelle Lebensvollzüge mittelalterlicher Frömmigkeit in die Krise – durch scharfe Polemik, die, wo sie vielleicht auch nicht überzeugte, doch einschüchterte und verunsicherte, und durch handfeste Gegenmaßnahmen tumultuarischer oder auch obrigkeitlich-geordneter Art. Die Schockstarre löste sich jedoch, als die Papstkirche sich im Abwehrkampf wider die Reformation und im Gegenangriff intellektuell wie institutionell reorganisierte. Das Trienter Konzil versah das Nein zu den Impulsen der Reformation mit dem Siegel letztgültiger lehramtlicher Autorität und formierte die erneuerten Kräfte; es gab ihnen Leitlinien vor und wies ihnen Tätigkeitsfelder zu. Institutionen, Lehren und Rituale, die ins Feuer der reformatorischen Kritik geraten waren, wurden also nicht einfach trotzig beibehalten. Sie wurden vielmehr auf ihre Zweckmäßigkeit und Effizienz hin überprüft und nötigenfalls so modifiziert, dass sie auch neuen Anforderungsprofilen zu entsprechen vermochten.

Die Vfn. der hier anzuzeigenden außergewöhnlich reizvollen und lehrreichen Studie, Elizabeth C. Tingle – sie lehrt Mittelalterliche Geschichte an der De Montfort-University (Leicester, UK) –, zeigt dieses Verlaufsmuster an der Geschichte des Pilger- und Wallfahrtswesens auf. Schon humanistisch-systemimmanente Kirchenkritik hatte daran Anstoß genommen, dass durch Wallfahrten anderweitig benötigte Ressourcen verschwendet würden. Der systemsprengende reformatorische Protest in Wort und Tat brandmarkte die Wallfahrten ebenso wie die anderen Vollzugsformen papstkirchlicher Frömmigkeit, die Gnade gegen ihrerseits gnadengestützte Leistungen versprachen (Ablass, Opfermessen, Mönchsgelübde), als Symptome einer pervertierten Gottesanschauung und Frömmigkeit, welche durch kirchlich vorgeschriebene oder empfohlene religiöse Sonderwerke Genugtuung leisten oder Verdienste erwerben wolle. Die in der Doppelbewegung von Reform und Gegenreformation sich regenerierende Papstkirche gab die Wallfahrten ebenso wenig preis wie den Ablass, die Opfermessen und die Mönchsgelübde, sondern sie gestaltete sie neu. Das schon in vorreformatorischer Zeit wirksame Prinzip der »Nahen Gnade« (Berndt Hamm) wirkte auch hier mit gesteigerter Intensität: Insbesondere an den Bruchstellen zwischen den sich verfestigenden Konfessionskulturen entstanden neue Wallfahrtsorte. Sie wurden mit reichen Ablassgnaden ausgestattet und luden nahe an deren Alltagswelt zur Devotion und zur konfessorischen Demonstration ein, ohne die physische und ökonomische Leistungsfähigkeit der Pilger über Gebühr zu beanspruchen.

Die Vf.in berührt derartige Phänomene allerdings nur am Rande. Stattdessen begibt sie sich auf ein ferner liegendes, für das Interesse am Hervorgang der modernen Papstkirche aus der Ecclesia Catholica des Mittelalters jedoch sehr viel fruchtbareres Feld. Sie untersucht die Geschichte dreier Heiligtümer (engl.: shrines) an den nordwestlichen Küsten Europas, die schon seit dem Hohen Mittelalter Fernpilger in großer Zahl angezogen hatten und dies nun weiterhin taten – weil sie einerseits den Gefährdungen der Zeitläufte erfolgreich Widerstand leisteten, sich anderseits jedoch den neuen Erwartungen und Erfordernissen adaptieren ließen.

Das Grab des Zebedaiden Jakobus (Iacobus maior) in Santiago de Compostela, der Mont Saint Michel als Ort einer Epiphanie des Erzengels Michael und das Purgatorium Patricii (Patrick’s Purgatory) im Hohen Norden Irlands, wo nach volkstümlichem Glauben von der Erde aus das Fegefeuer zugänglich war, hatten neben ihrer geographischen Randlage eine weitere Gemeinsamkeit darin, dass ihre Ursprungslegenden in Zeiten und Sphären jenseits der geschichtlichen Erinnerung zurückreichten. Und so wäre das heute populärkulturell beliebte Pilgerziel an der spanischen Atlantikküste beinahe dem Furor gegenreformatorisch-humanistischer Entrümpelung zum Opfer gefallen: Caesar Baronius erwies seine bizarre Ätiologie als Fiktion, das Bild des Apostels im Römischen Brevier wurde auf seine spärlichen biblischen Keime reduziert, und es wurden staatliche wie kirchliche Anstrengungen unternommen, den Jakobus-Kult durch Surrogate auszutrocknen. Die volkstümliche Devotion war allerdings stärker, und sie erhielt sich ihren lokalen Bezugspunkt (27 f.). Ebenso überstand das Netzwerk der Pilgerwege zum Mont Saint Michel wie das dortige Kloster die Widrigkeiten der französischen Religionskriege, und die Gebäudekomplexe um die Schnittstelle zwischen Erde und Fegefeuer am Lough Dergh wurden nach mehreren Verwüstungen unverdrossen immer wieder neu aufgebaut.

In der Zeit der kämpferischen Reorganisation der Papstkirche waren die Pilgerfahrten zu diesen Zielen also zunächst einmal sperrige Relikte aus ferner Vergangenheit. Wollte (oder konnte) man sie nicht verschwinden lassen, so mussten sie neuen Bedürfnissen, Aufgaben und Zielsetzungen angepasst werden, andersherum formuliert: An den Reformen, welche an diesen archaischen Wallfahrten exekutiert wurden, lässt sich besonders deutlich die Spezifik gegenreformatorischer Frömmigkeitspädagogik ablesen.

Dieses Programm realisiert die Vfn. in fünf Kapiteln. Zunächst vergegenwärtigt sie in souveränem Überblick den Forschungsstand zum Thema Pilgern/Wallfahrt auf den Arbeitsgebieten der Frömmigkeits-, Kirchen- und Theologiegeschichte, aber auch der Kulturanthropologie. Sodann stellt sie die Hauptgegenstände der Untersuchung zuzüglich einiger Nebengebiete vor und beschreibt die Quellenlage: In bewunderungswürdiger Sucharbeit hat sie eine Riesenfülle an einschlägigem (gedruckten) Material aufgetan, das nicht nur die normative Perspektive kirchlicher Institutionen und ihrer Wortführer dokumentiert, sondern ebenfalls zumindest punktuell Einblicke in die Motive, Erwartungen und Erfahrungen von Menschen gestattet, die sich auf Pilgerfahrt begaben – sie spiegeln die normativen Erwartungen in charakteristischen Brechungen wider. Die folgenden vier Kapitel sind als Sequenz dem idealtypischen Verlauf einer Pilgerfahrt nachgebildet: Motivation und Aufbruch (33–75), die eigentliche Reise (76–113), der Aufenthalt am Ziel (114–162), das Leben nach der Rückkehr (163–213). Der Aufbau der Kapitel ist immer gleich: So weit möglich, werden zunächst Zeugnisse der vorreformatorischen Periode präsentiert und interpretiert, dann folgen die Ausführungen über den eigentlichen Untersuchungszeitraum, der sich vom späten 16. bis ins späte 18. Jh. erstreckt. Endpunkte sind immer dort erreicht, wo aufgeklärte Kritik nicht etwa die reformatorischen, wohl aber die humanistischen Einwände aufgegriffen und zugespitzt hat. Die Ausführungen lassen sich schlecht im Einzelnen wiedergeben, denn der Text gleicht einem kunstvoll zusammengesetzten Mosaik aus einer Unmenge von kleinen Steinchen; ich deute deshalb nur grob Linien an.

Relativ gut dokumentiert sind die beiden Wallfahrtsorte in Nordspanien und Frankreich; spärlich ist das Material zum Purgatorium Patricii. Besonders bunt gemischt war die Schar derer, die zum Mont Saint Michel pilgerten – im heutigen Nordfrankreich war der Weg dorthin auch ein beliebter Mannbarkeitsritus. Vorherrschend waren in vorreformatorischer Zeit allgemein Buß-, Bitt- und – vor allem – Dankwallfahrten: klassische gute, weil verdienstliche bzw. satisfaktorische Werke. Wer sich, gar noch nach einem Gelübde, auf den Weg machte, nahm zeitweilig die Entbehrungen, Strapazen und Gefahren der »asketischen Heimatlosigkeit« (Hans Frh. v. Campenhausen) auf sich und bezeugte die religionsgeschichtlich ubiquitäre Erwartung, dass der Gabe die Gegengabe folgen werde. Daran änderte sich auch nach der Reformation grundsätzlich nichts. Allerdings wurde das, was der Pilger ›gab‹, nun anders akzentuiert: Zugunsten seiner innerlichen Disposition trat die äußerlich-physische Anstrengung zurück. Das Gebet und die Meditation auf dem Weg, am Ziel sowie nach der Heimkehr wurden ins Zentrum gestellt. Es fand also durchaus eine Verinnerlichung und Individualisierung statt. Die ging jedoch einher mit einer ebenso deutlichen Verkirchlichung. Diese wird schon rein äußerlich auf dem Gebiet deutlich, das man in der Konfessionalisierungsforschung als »Sozialdisziplinierung« bezeichnet: Pilger wurden förmlich ausgesegnet, wenn sie sich auf den Weg machten, und sie wurden von ihren Heimatpfarrern mit schriftlichen Zertifikaten versehen, die die Funktion von Pässen hatten. Insbesondere in Spanien, dem damaligen Musterland moderner Staatlichkeit, waren solche Maßnahmen vonnöten, denn hier schlug Pilgern wie anderem fahrenden Volk aller Art besonders starkes Misstrauen entgegen. Die Zertifikate öffneten ihren Inhabern die Türen von Pilgerherbergen – karitativen Einrichtungen, die seit der Mitte des 17. Jh.s nach und nach zu allgemeinen Spitälern wurden. Die Bewirtung und Beherbergung waren streng bemessen; es sollte der Bettelei und dem Müßiggang kein Vorschub geleistet werden. Das eigentliche Reisen wurde von den Menschen des Spätmittelalters und der Frühneuzeit, anders als von Heutigen, die mal für ein paar Wochen weg sind, als Reihe von Gefährdungen und Strapazen empfunden.

Vor dem späten 18. Jh. mied man ja die Meeresküste und das Gebirge, wenn man irgend konnte. Positive Haltepunkte auf dem Weg waren Wallfahrtsorte geringeren Ranges, die auf dem Wege ›mitgenommen‹ wurden. Höhepunkt der Reise war die Ankunft am Wallfahrtsort, also die Begegnung mit dem dort materiell und lokal präsenten Heiligen – man denke an die multiplen religiösen Orgasmen, die Ignatius von Loyola 1523 im Heiligen Land erlebt hat. Neu war nun, dass die Partizipation am Heilsgehalt des ganzen Unternehmens eng an kirchlich-liturgische Vollzüge geknüpft wurde: Am Zielort selbst, aber auch auf den Wegstationen dorthin waren schwindel- erregende Quanten von Ablass erhältlich für Pilger, die gebeichtet und kommuniziert hatten. Beichte, Messehören und Kommunion wurden auch zu essentiellen Betätigungen am Zielort, wo nun ebenfalls die Betreuung der Pilger durch Geistliche massiv intensiviert wurde: Die Reise wurde zur »sacramental journey« (110). Seit alters war es üblich, am Zielort bestimmte Erinnerungsgegenstände zu erwerben und mit nach Hause zu nehmen (Heiligenbilder/Amulette, Jakobsmuscheln): Ihnen wurde nun durch Benediktionen ein geistlicher Mehrwert verliehen.

Menschen, die von Pilgerfahrten zurückgekehrt waren, perpetuierten ihre Verbindung zum Heiligen bzw. zum Heiligtum schon seit dem Hochmittelalter in Bruderschaften, denen auch Frauen angehören konnten (»confrères and confrairesses (sic)«, 171). Die Jahresfeste dieser Vereine waren ursprünglich vielfach mit pittoresken Prozessionen verbunden, die in deftige Volksbelustigungen übergingen – diese wurden durch kirchlich-obrigkeitliche Verbote seit dem frühen 17. Jh. energisch zurückgedrängt. Die Bruderschaften wurden umgeformt zu Gruppen von Menschen, die sich durch besondere Frömmigkeitsaktivitäten, aber auch durch karitative Anstrengungen hervortaten. Symptomatisch für diese Spiritualisierung war, dass eine Genossenschaft von Jakobs-Pilgern ihr zinnernes Essgeschirr veräußerte und für den Erlös liturgische Textilien anschaffte (181). So wurde insgesamt der religiöse Nutzwert der ganzen Reise neu austariert. Hatte er ursprünglich in der selbsterbrachten Anstrengung gelegen, so wurde die Eigenleistung des Pilgers nun zwar mitnichten vergleichgültigt, aber sie wurde durch die Gnade vermittelnden Sakramente und Sakramentalien mit gesteigerter Valenz versehen: In alledem zeigt sich ein Programm der Subjektivierung und Intensivierung individueller Frömmigkeit, das die Bindung an die kirchlichen Institutionen nicht etwa lockert, sondern vielmehr stärkt und festigt. Spätestens an dieser Stelle drängen sich vergleichende Seitenblicke auf die andere Seite des Grabens zwischen den Konfessionen auf. Insbesondere wäre hier die Hochkonjunktur der Erbauungsliteratur im Protestantismus zu bedenken, die ja auch Individualisierung und Internalisierung signalisiert – allerdings Individualisierung und Internalisierung ganz anderer Art.

So zeigt sich die außergewöhnliche Qualität dieses Buches nicht nur an den Informationen, die es bietet, sondern auch an den weiterführenden Fragen, zu denen es anregt.