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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

310-312

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Works, Carla Swafford

Titel/Untertitel:

The Least of These. Paul and the Marginalized. Foreword by T. D. Still.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2020. 205 S. Kart. US$ 24,00. ISBN 9780802874467.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

Associate Professor Carla Swafford Works lehrt am Wesley Theological Seminary in Washington D. C. Ihr Paulusbuch ist im Zusammenhang der Auseinandersetzung um die theologische Grundsatzfrage »Jesus und/oder/gegen Paulus« geschrieben, wie Todd Still in seinem Vorwort darlegt. Works selbst konkretisiert diesen Zugang in ihrer autobiographisch gefärbten Eingangs-Danksagung. Ihre Studenten – vor allem Studentinnen – seien zu einem großen Teil »deeply wounded by interpretations of Pauline texts« (xiii), und sie habe es als ihre akademische Aufgabe verstanden, Paulus angesichts dieses negativen studentischen Vorverständnisses neu zu interpretieren: »This book grew out of that classroom.« (xiii) Ein negatives Vorverständnis der paulinischen Theologie und Ethik ist ebenso in Hörsälen zwischen Deutschland, Rom und Jerusalem verbreitet, wie die Rezensentin selbst erlebt hat. Umso gespannter ist man auf die Perspektive, die Works entwirft. Denn es ist selten, dass die Perspektive der Lehre eine exegetische Monographie bestimmt. W. schreibt klar, eindringlich, nahe an den Texten und an wichtiger exegetischer Literatur. Das Buch hat einen konstruktiven sound und wird seine Leserinnen und Leser innerhalb und außerhalb der Vereinigten Staaten hoffentlich schon gefunden haben.

W. entwickelt ihre Paulusinterpretation von einer grundlegenden »congruity between Jesus’s teaching and Paul’s mission regarding Jesus’s concern for the ›last of these‹« (5) her. Dabei geht es Works nicht um die Einforderung einer traditions- oder sozial- geschichtlichen Kontinuität, die ja nicht gegeben ist, sondern um die sachliche Übereinstimmung zwischen Jesus und Paulus in Bezug auf »Jesus’s concern for the poor, the marginalized, and the powerless« (6). Damit hat sie bereits eine von der Jesustradition dominierte Sachagenda formuliert, die sie zunächst in drei Kapiteln über »Paul and Poverty«, »Paul and Slavery« und »Women and the Pauline Mission« – drei der wichtigen »Reizthemen« zu Paulus – darstellt. Kapitel 4 gilt den Galatern als – aus römischer Sicht – randständigen Barbaren, Kapitel 5 der Kindermetaphorik, die Paulus auf die Gemeinden appliziert, Kapitel 6 stellt Paulus selbst als »den letzten der Apostel« dar (1Kor 15,9). In Kapitel 7 schließlich kommt die Verkündigung des Paulus als ganze, sein euaggelion, unter der Überschrift »Good News for the Least of These« in den Blick.

Die einzelnen Kapitel vermitteln an das studentische Lesepublikum solide Sachkenntnis zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 1. Jh.s sowie zu den paulinischen Texten, stets mit Hinweisen auf die Referenzbücher. Kapitel 1 weist besonders auf den Aufruf zu gegenseitiger Unterstützung innerhalb der Gemeinden sowie auf die Kollekte für die Armen in Jerusalem hin. Works bezieht sich vor allem auf die Analyse der Armut bei Bruce Longenecker (Remember the Poor: Paul, Poverty, and the Greco-Roman World, Grand Rapids 2010). In Kapitel 2 muss sich W. mit dem besonders im USA-Kontext gravierenden Vorwurf auseinandersetzen, weder Jesus noch Paulus hätten sich grundsätzlich gegen die Sklaverei ausgesprochen: »The giants of the faith do not rise up against this institution.« (34) W. stellt die Sklaverei im römischen Reich in engem Anschluss an J. Albert Harrills differenziert argumentierendes Standardwerk (Slaves in the New Testament: Literary, Social, an Moral Dimensions, Minneapolis 2006) dar. Sie kommt zu dem eindeutigen Ergebnis: »Paul did not directly fight slavery. The institution itself was not in question in Paul’s days« (48), wie vor allem 1Kor 7,17–21 zeigt. Andererseits gilt aber auch, dass Paulus seine Regel: »Jeder bleibe in seinem Stand« nicht normativ oder präskrip-tiv versteht: »The gospel disrupts the social order.« (Ebd.) Das demonstriert W. besonders am Philemonbrief. In Kapitel 3 geht W. von Anfragen von Studentinnen aus, die nach der Bedeutung von 1Kor 14,34 f. für ihre eigene Vorbereitung auf den Beruf der Pfarrerin fragen – ein Thema, das Theologiestudentinnen in Deutschland seit meiner Studienzeit (1963–1968) beschäftigt hat und heftigste Kontroversen auslöste. Works führt eine längere Diskussion über die dunkle Passage in 1Kor 11,2–16 und schließt sich der nicht unumstrittenen sozialgeschichtlichen Interpretation von Bruce Winter (After Paul Left Corinth: The Influence of Secular Ethics and Social Change, Grand Rapids 2001) an. In Kapitel 4 bezieht sich W. besonders auf die Studie von Brigitte Kahl: Galatians Re-Imagined: Reading with the Eyes of The Vanquished, Minneapolis 2010, die die römischen Stereotypen beleuchtet, die die Galater als Krieger, Barbaren und Landlose zeichneten. Demgegenüber nimmt nach Kahl und Works Paulus die Galater an, wie sie sind, und sagt ihnen die Verheißung Abrahams zu. Die damit verbundene »Land«- Zusage nimmt W. in Auseinandersetzung mit W. D. Davies (The Gospel and the Land: Early Christianity and Jewish Territorial Doctrine, Berkeley 1974) durchaus ernst. Paulus formt die Zusage aber nach W. um: »The promise of land finds its fulfillment in the hope of new creation.« (97) Die ausführliche Darstellung der exegetischen Thematik des Landes bei W. gewinnt in der aktuellen Situation zusätzliche Bedeutung.

Kapitel 5 gilt der Bezeichnung der Adressaten der Paulusbriefe als »Kinder« (1Kor 3,1 u. ö.). W. weist nach, dass es bei dieser Metapher nicht primär um »kindisches Verhalten« der Adressaten geht. Mit Aristoteles arbeitet sie folgenden Kern der Metapher heraus: »This infancy metaphor invites the reciepients to see themselves in a whole new perspective – the perspective of the vulnerable.« (111) Zur Bestätigung ihrer These gibt sie eine wertvolle Einführung in antike Quellentexte zum Thema »Kind« (111–119). Referenzliteratur ist u. a. das Standardwerk von C. Osiek und D. L. Balch, Families in the New Testament World. Households and House Churches, Louisville 71991. Kapitel 6 hat Paulus selbst zum Gegenstand: »Paul as the Last of These?« (128–152) Hier werden Paulustexte zum Motiv des Christenverfolgers, des »Sklaven aller« (D. B. Martin, Slavery as Salvation: The Metaphor of Slavery in Pauline Christianity, New Haven 1990) und des Gefangenen ausgewertet (vgl. die Motive S. 129). W. betont: »Though this book has highlightened Paul’s concern for the »least«, the apostle’s concern for the »least« must also be considered alongside his willingness to become the least.« (129). In Kapitel 7 (»Good News for the Least of These«, 153) fasst W. ihre Interpretation des paulinischen Evangeliums anhand von Texten aus Röm, Gal, 1Kor und Phil zusammen (Referenztext: B. Roberts Gaventa, When in Romans: An Invitation to Linger with the Gos-pel according to Paul, Grand Rapids 2016).

Insgesamt unternimmt W. den durchaus sympathischen Versuch einer aktuellen apologetischen Paulusinterpretation, indem sie einerseits Paulus in zentralen Themen neben Jesus stellt – der die ethischen Maßstäbe setzt – und andererseits Jesus selbst zugleich einer aktuellen Akzeptanz dadurch näherbringt, dass sie seine Ethik als Ausdruck des gegenwärtig favorisierten Labels der »marginalisierten Gruppen« versteht. Das Label der »Marginalisierten« und »Vulnerablen«, das nicht nur seinen amerikanischen Ursprung verlassen hat und in der bundesdeutschen öffentlichen und politischen Sprache angekommen ist, sondern auch zu einer neuen hermeneutischen Kategorie ausgebaut wird und in der Gefahr der Überdehnung steht (Tatsiong Benny Liew and Fernando F. Segovia, eds., Reading Biblical Texts Together: Pursuing Minoritized Biblical Criticism, 2022 SBL Press), gewinnt bei W. durchaus an Aussagekraft zurück und kann neue Wege zu Paulus erschließen. Die Rezensentin wünscht sich daneben für deutsche wie amerikanische Theologiestudentinnen und -studenten Einführungen in Paulus, die das intellektuelle sowie das spezifisch theologische Potential seiner Briefe neu erklären und würdigen.