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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

306-308

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Klinkmann, Daniel

Titel/Untertitel:

Die rituelle Welt des Lukas. Eine narrative Ritualanalyse des dritten Evangeliums.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2022. 300 S. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 236. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783170424623.

Rezensent:

Nils Neumann

Die Erforschung frühchristlicher Rituale erlebt gegenwärtig eine gewisse Blüte, und das ist auch ganz erfreulich, da die erscheinenden Studien dazu beitragen, das frühe Christentum als gelebte Religion wahrzunehmen und insbes. die körperlichen Dimensio-nen zu würdigen, die dazu gehören. Dieses Forschungsfeld bereichert auch Daniel Klinkmann mit seiner Arbeit über »Die rituelle Welt des Lukas«, die als Dissertation in Bochum entstanden ist, in einem Milieu also, das schon seit längerer Zeit immer wieder Studien zu diesem Zweig der Forschung beisteuert.

Der Vf. nähert sich den Texten des Lukasevangeliums insbesondere mittels einer narratologischen Methodik an. Auf das einleitende erste Kapitel (1–5) folgt das Kapitel 2 »Ritualtheorien« (6–67), das die theoretische Basis für die später folgenden exegetischen Analysen zu lukanischen Texten liefert. Hier gibt der Verfasser zunächst einen Überblick über wichtige Beiträge aus der Geschichte der Ritualforschung, die sich am Werk bedeutender Personen orientiert, die das Phänomen von Ritualen im 19. und 20. Jh. mit unterschiedlichen disziplinären Zugängen bearbeitet haben. Unter den Gewährsleuten, die hier zu Wort kommen, erfahren Victor Turners Betonung der Gemeinschaft von Grenzgängern (19), Mary Douglas’ Forschung zur Körperlichkeit von Ritualen (23), Albert Bergesens Differenzierung zwischen verschiedenen Typen von Riten (33) und Gerd Theißens soziologischer Blick auf verkörperte Grenzüberschreitung (38) besondere Beachtung. In einem letzten Gliederungspunkt des forschungsgeschichtlichen Teils, der insofern aus der Reihe tanzt, da er nicht eine Person der Forschungsgeschichte, sondern ein Thema fokussiert, befasst sich der Vf. mit »Jesus als Charismatiker«. Mit dem Übergang vom 20. zum 21. Jh. setzt der Überblick eine Zäsur. Hier kommen nun neue ritualtheoretische Fragestellungen auf, die Vollzug, Wirkung und Entwicklung von Ritualen als stark dynami- sches Geschehen reflektieren. Dazu gehören Agency, Performanz und Ritualdesign. Solchen Dynamiken will der Vf. durch seine exegetische Arbeit für den spezifisch lukanischen Kontext auf die Spur kommen (67).

Das Herzstück der Studie bildet das 3. Kapitel (68–237), das Textabschnitte des Lukasevangeliums einer genaueren Untersuchung unterzieht, die differenzierte Einblicke in den rituellen Kosmos erlauben, in dem die lukanische Gemeinschaft verortet ist. Als Grundlage dazu fungieren die Textabschnitte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41–52), von der Taufe Jesu (3,21–22), von der »Antrittspredigt« in Nazareth (4,16–30), von der »Salbung« durch die Sünderin (7,36–50), vom Mahl im Haus des Pharisäers (14,1–24), vom letzten Mahl (22,7–20) und von den Emmausjüngern (24,13–36).

Eine besondere Stärke des Verfassers besteht darin, wichtige Segmente der einschlägigen Literatur knapp und luzide darzustellen. Dieser Vorzug kommt deutlich im ritualtheoretischen Kapitel zum Tragen, wirkt sich aber auch im exegetischen Kernkapitel deutlich aus. So leistet das Buch nicht nur einen Beitrag zu einem genaueren Verständnis des Lukasevangeliums, sondern bietet sich auch als Referenzwerk an, das dabei hilft, sich einen schnellen aber gründlichen Einblick in wichtige ritualtheoretische Positionen und Perspektiven sowie in für das Thema wichtige Texte des Lu-kasevangeliums zu verschaffen.

Gleichzeitig bietet die Studie aber natürlich auch innovative Einsichten. Besonders interessant ist diesbezüglich immer die »narrative Ritualanalyse«, der ja der Hauptfokus der Untersuchung gilt und der in jedem Teil von Kapitel 3 ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Die folgenden Ausführungen können diese wertvollen Erkenntnisse nicht umfassend referieren, sondern begnügen sich mit der Würdigung besonderer Highlights. Das Herabkommen des Geistes bei der Taufe Jesu nimmt der Vf. zum Anlass, um mit einem Seitenblick auf Texte der Apostelgeschichte den Zusammenhang zwischen Taufe und Geistempfang breiter zu diskutieren. Es zeigt sich, dass sich keine feste Abfolge, kein »Automatismus« (105) identifizieren lässt, durch den Taufe und Geist miteinander verknüpft sind. Vielmehr verhält sich der Geist nach lukanischer Auffassung unabhängig von rituellen Vorgängen. Gleichwohl vollzieht sich durch die Kombination von Taufe und Geistempfang eine Beauftragung für den Dienst. Bei der Analyse der »Salbung« Jesu im Haus des Pharisäers Simon schenkt der Vf. den Ritualen der Gastgeberschaft besonders viel Aufmerksamkeit, um damit den Kontrast zu akzentuieren, nach dem die Frau Jesus gastgeberische Zuwendung entgegenbringt, während der Pharisäer diese Chance gerade verpasst (156–157). Deutlich wird hier insbesondere auch die Körperlichkeit der Rituale der Ehrerbietung (159). Beim letzten Mahl zielt die Verwendung von Brot und Wein als Medien der Erinnerung darauf ab, auch diejenigen mit in das Ritual hineinzunehmen, die beim Abschiedsmahl Jesu selbst nicht dabei gewesen sind (205). Hier kommt der Umstand besonders klar in den Blick, dass nicht nur der lukanische Jesus ein Ritual initiiert, sondern auch der Evangelist durch das Vehikel der Narration die rituellen Vollzüge innerhalb seiner Gemeinschaft leitet (206).

Angesichts der erfreulichen Sensibilität, die der Vf. der Körperlichkeit ritueller Vorgänge im Frühchristentum entgegenbringt, verwundert der Umgang mit körperlicher Versehrtheit in der Analyse des Symposions in Lk 14. In den gleichnishaften Anweisungen, die der lukanische Jesus dort gibt (v.a. 14,12–14), sind nicht die Freunde und Verwandten des Gastgebers die idealen Gäste, sondern arme, versehrte, gelähmte und blinde Menschen, da diese sich aus ökonomischen Gründen nicht mit einer Gegeneinladung revanchieren können. Zu Recht betont der Vf. in der Analyse den Umstand, dass Jesus hier in der Position dessen steht, der die Einladung ausspricht und damit soziale Barrieren durchbricht (182–184). Daneben hätte es sich aber m. E. auch gelohnt, stärker zu reflektieren, was die idealen Gäste als solche qualifiziert, um diese Menschen nicht nur über ihre Defizite zu definieren.

Im Fazit (238–280) geht der Vf. die verschiedenen Aspekte noch einmal durch, die durch die exegetische Bearbeitung der lukanischen Texte besonders in den Fokus geraten sind, und organisiert das Material nun nach den verschiedenen rituellen Kontexten wie Taufe, Sabbat und Mahl. Jesus fungiert innerhalb der lukanischen Erzählung in jedem der genannten Kontexte als Ritualdesigner, indem er innerhalb der erzählten Welt Rituale gestaltet. Der Evangelist Lukas wiederum nimmt aber, dadurch dass er von Jesus als Ritualdesigner erzählt, auch eine gestalterische Rolle ein: Lukas leitet seine Leserschaft dazu an, die frühchristlichen Rituale für ihre Gegenwart zu adaptieren, d. h. nicht stereotyp zu reproduzieren, was der erzählte Jesus macht, sondern die Praktiken auf die je aktuelle Situation anzupassen. In diesem Sinn wirkt der Evangelist dem Vf. zufolge als Ritualmacher.

Im Anschluss an einen kurzen Ausblick (281–289) runden Literaturverzeichnis (290–306) und ein knappes Stellenregister (307–313) den Band ab. Insgesamt bietet das Buch nicht nur eine gute Einführung in den gegenwärtigen Stand insbes. neutestamentlicher Ritualforschung, sondern eröffnet auch einen soliden Blick in das rituelle Repertoire der lukanischen Gemeinschaft, an den künftige Arbeiten sehr gut anknüpfen können werden. Zumindest für das Lukasevangelium führt kein Weg an der Einsicht vorbei, dass diese Schrift nicht in erster Linie bestimmte Rituale beschreiben und dogmatisch festsetzen will. Vielmehr initiiert es durch seine Beschreibungen ein dynamisches Geschehen, welches die Rituale der Gemeinschaft fortgesetzt evaluiert, neuen Herausforderungen anpasst und prägt (vgl. 288).