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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

304-306

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Cadwallader, Alan H.

Titel/Untertitel:

Colossae, Colossians, Philemon. The Interface.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023. 814 S., m. 175 farb. Abb., 2 Karten u. 8 Tab. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus/Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 127. Geb. EUR 200,00. ISBN 9783525500026.

Rezensent:

Peter Müller

Im hier zu besprechenden Buch von Alan H. Cadwallader geht es um die Verknüpfung von Erkenntnissen über die uns erhaltene materiale Welt der Antike, insbesondere im westlichen Kleinasien, und der neutestamentlichen Exegese, hier besonders des Kol und Phlm (13). Als »Interface« dient diese Verknüpfung dazu, die unmittelbare Rezeption der Briefe besser zu verstehen, »probabilities of understanding« herauszuarbeiten und Fehldeutungen zu vermeiden (123).

Der Band ist in zwölf ähnlich aufgebaute, thematisch geordnete Kapitel unterteilt. Zunächst werden jeweils Überreste (Münzen, Inschriften, Namenslisten etc.) vorgestellt und erläutert, danach wird Bezug genommen auf entsprechende Stellen aus Kol und Phlm. Die Themen hat C., der durch viele Vorarbeiten als Experte für das antike Kolossä ausgewiesen ist, teilweise bereits behandelt, hier sind sie nun in einem beeindruckenden Band zusammengefasst, erweitert und aufeinander bezogen. Ein Nachwort, ein Literaturverzeichnis und hilfreiche Indizes runden die Arbeit ab.

Lange galt als ausgemacht, dass man zu Kolossä und dessen Umfeld kaum etwas wisse. Dass die Stadt durch ein Erdbeben im Jahr 60/61 fast vollständig zerstört und danach nur in geringem Maß wieder bewohnt gewesen sei, diente als Argument für die zeitliche Einordnung und den Zweck des Schreibens. Münzprägungen aus dem 2. Jh. und weitere »snatches of artifactual, architectural, visual and funerary evidence« (69) deuten aber darauf hin, dass Kolossä in der zweiten Hälfte des 1. Jh.s und danach eine wirtschaftlich und kulturell dynamische Stadt gewesen sein muss (Kapitel 1).

Der vermutlich hethitische Name Kolossä (99) (Kapitel 2) wies Ähnlichkeit mit dem griechischen kolossos und damit zum Koloss von Rhodos auf (115). Dass die Stadt mit einem südlich angrenzenden Monolith über einen eigenen »Koloss« verfügte (101), unterstreiche die sprachliche Verbindung. Zwischen dem Ende der Münzprägungen unter den Attaliden (133–129 v. Chr.) und der Wiedereröffnung der Münze unter Hadrian »the Colossian political leadership had begun to cultivate the association of its city name with the massive colossus of Rhodes.« Sie wollten sich selbst darstellen »as marked by that wonder of the ancient world« (115). Dies habe Konsequenzen für das Verständnis der Briefadresse: τοῖς ἐν Κολοσσαῖς ἁγίοις καὶ πιστοῖς ἀδελφοῖς ἐν Χριστῷ zeige im Gegenüber von ἐν Κολοσσαῖς und ἐν Χριστῷ, dass »the primary civic identity« der Adressaten »is not defined by Colossae but by Christ« (126 f.).

In Kapitel 3 zeigt C. anhand städtischer Gründungsmythen und Feste die Verbindung von Städten zu ihrem Umland und bezieht dies auf die Abfolge von Metaphern aus Landwirtschaft, Architektur und Autorität in Kol 2,6 f. (180), wo er einen Hinweis auf eine jährliche Festprozession zu Ehren der Stadtgründung erkennt, die aber auf Christus bezogen werde (182). Angesichts häufiger Kombinationen von Metaphern aus verschiedenen Bildspendebereichen ist dies aber wohl eine Überinterpretation.

Ein Hadrian-Brief nach Laodicea, Hierapolis und Tripolis um einen Streit um Fischrechte dient dem Nachweis in Kapitel 4, dass die Beziehungen zwischen einzelnen Städten nicht spannungsfrei gewesen seien (224). Die Grüße in Kol 4,15 f. seien nicht als Hinweis auf den Beginn einer Kanonbildung zu verstehen. Grüße an eine benachbarte Ekklesia seien Ausdruck formaler Beziehungen zwischen Städten, aber auch Beleg für das Bemühen, die kleine christliche Gemeinde angesichts vorhandener Spannungen zwischen benachbarten Städten nicht in eine Getto-Existenz zu bringen.

Ausgangspunkt von Kapitel 5 ist eine Gemme mit der Aufschrift ΤΥΧΗ ΠΡΩΤΟΓ ΚΟΛΟΣΣΑΙ (231 ff.). ΠΡΩΤΟΓ(ΕΝΕΙΑ) lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bezeichnung Christi als prototokos in Kol 1,15–20. Dieser Begriff werde meist von alttestamentlich-jüdischen Kontexten her erklärt. Ikonographie und Inschrift der Gemme einerseits, eine der Tyche geweihte Ehreninschrift aus Kolossä andererseits (248 ff.) böten aber einen Kontext für den Hymnus an, der unmittelbar auf das Lykostal verweise. Der (bzw. die) Erstgeborene der Schöpfung sei als eine Größe geglaubt worden, die destruktive Kräfte (z. B. bei einem Erdbeben) in Schach halten könne. Ein Tempel für Tyche sei für Kolossä anzunehmen (255), und der Kolosserhymnus müsse als reale Alternative dazu gelesen werden, zumal Tyche und andere Götter wiederholt die Adressaten gesungener poetischer Texte seien. Auf jeden Fall ergebe sich dadurch ein weiteres Element zur Beschreibung der »religiösen Landschaft« in Kolossä (264).

Der Kolosserhymus (Kapitel 6) diene insgesamt dem Zweck »to reinforce political and philosophical control« (311). Als Minorität in der römischen Gesellschaft hätten die Christen in Kolossä keine andere Wahl gehabt als sich der Sprache und Strukturen der Mehrheitsgesellschaft zu bedienen. Materialer Bezugspunkt ist hier u.a. das Epitaph eines gewissen Diodotus aus Kolossä (281 ff.) und dessen vermutete Beziehung zum Handbuch des Theon von Smyrna (292). In Kol 4,6 habe der Verfasser Menschen mit dem Bildungshintergrund des Diodotus im Blick gehabt. Subversive Elemente, die verschiedentlich im Hymnus erkannt wurden, stünden deshalb jedenfalls nicht im Vordergrund (316).

Die Mahnung, nicht zu kosten und nicht zu berühren (Kol 2,21), verweise auf ein pulsierendes religiöses Leben im Lykostal (Kapitel 7). Zwar seien hier kaum direkte materiale Belege vorhanden, aber Beispiele »from across the eastern Mediterranian and Egypt« könnten unser Verständnis der Situation in Kolossä verbreitern (360). Eine Fluchtafel aus der Umgebung von Kolossä (363 ff.) zeige einen weiteren Bestandteil des religiösen Panoramas der Stadt (Kapitel 8) und weise Beziehungen zur Sprache des Kol auf (383). Auch wenn sich der Verfasser dieser Sprache nicht genau bediene, ergebe sich doch die Chance »to hear potential resonances between the letter and the Colossian context« (385). Onomastische Untersuchungen (Kapitel 9) zu den Namen, die in Kolossä und seiner Umgebung (wie auch in Kol und Phlm) dokumentiert sind, zeigen die Herkunftsvielfalt der dortigen Bevölkerung ebenso an wie den herausgehobenen Status der griechischsprachigen Bewohner. Angesichts dieser Vielfalt habe der Glaube an Christus, der »alles in allem ist«, die Möglichkeit geboten »to embrace the cosmopo-litan-and-Greek social composition of Colossae« (443).

Die Wettkampf-Metaphorik in Kol 1,29; 2,1.18; 3,15; 4,12 wird von C. in Kapitel 10 vor allem vom Geschick des Gladiators her gedeutet (495). Dessen Eid, das sacramentum, wird in Beziehung zum Christushymnus (1,20.22) gesetzt: »Death was fundamental to the Christ myth and to gladiator identity, but not to athletic glorifi- cation.« (499.505) Deshalb solle die Agon-Metaphorik »through a gladiatorial lense« betrachtet werden (506). Angesichts der konkre-ten Aussagen in Kol halte ich das jedoch für wenig überzeugend.

C. legt in Kapitel 11 u. a. Unterschiede zwischen dem römischen und dem griechischen Sklavenrecht dar (566) und postuliert ein eigenes »›manumitting‹ religious center« für Kolossä (569), das unter griechischem Recht gestanden habe: »If Onesimus was to be manumitted, in formal Greek legal understanding he could not be of the same status as Philemon. Inequality would still mark the relationship in civic perspective.« (567, vgl. 570) Das stimmt in rechtlicher Hinsicht, berücksichtigt aber nicht hinreichend, dass Paulus in Phlm gerade nicht rechtlich argumentiert, sondern die Verbundenheit in Christus hervorhebt.

In Kapitel 12 geht es um den Nachweis, dass die kol Haustafel »completely in line« mit und Ausdruck der Romanitas sei. Die Rolle des paterfamilias spiegele das Stabilisierungsprogramm von Augustus nach dem Bürgerkrieg (634 f.). Die Übernahme der Haustafel sei deshalb als »accomodation to the surrounding society« zu verstehen (639) und die Hinweise auf Christus als »icing on the cake« (638). Eine implizite Kritik an bestehenden Herrschaftsverhältnissen sei nicht erkennbar, vielmehr gehe es um eine »prosperous co-existence in Colossian society to emerge« (640).

Der Band eröffnet eine Fülle von Einblicken in das Leben einer mittelgroßen antiken Stadt im westlichen Kleinasien. Manche Erkenntnisse (z. B. aus Kapitel 1 f.) sind bereits in jüngere Kommentare eingeflossen, die anderen sollten künftig beachtet werden. Die Plausibilität mancher Deutungsangebote muss sich bei einer genaueren Textanalyse im Zusammenhang beider Briefe allerdings erst ergeben (z. B. Kapitel 10–12). Auf jeden Fall deuten die verschiedenen Realia einen Resonanzraum an, der unsere Kenntnis der religiösen Landschaft in und um Kolossä erheblich erweitert (385). Wer sich mit Kol und Phlm beschäftigt, wird deshalb künftig um dieses Buch nicht herumkommen. Allerdings auch nicht um Kommentare. Denn die Schnittstelle zwischen Text und Realia (den beiden »gold standards«, 645) steht bei C. sehr deutlich unter der Führung der Realia. Das muss in einem solchen Buch wohl auch so sein, braucht aber immer den Abgleich mit den Texten der beiden Briefe in ihrem jeweiligen Zusammenhang.