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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

287-289

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Fredriksen, Paula

Titel/Untertitel:

Als Christen Juden waren.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2021. 198 S. = Judentum und Christentum, 27. Kart. EUR 22,00. ISBN 9783170389007.

Rezensent:

Esther Kobel

Mit dem eingängigen Titel »Als Christen Juden waren« liegt eine Übersetzung des englischsprachigen Werks von Paula Fredriksen When Christians Were Jews. The First Generation (New Haven: Yale University Press, 2018) vor.

Der Prolog gibt den Kontext vor, innerhalb dessen die erste Nachfolgegemeinschaft Jesu entstand und verstanden werden muss: Es war ein jüdischer Kontext. In der Gemeinschaft herrschte eine unmittelbare Naherwartung vor, die sich aber nicht erfüllte. Entsprechend formuliert F. die Leitfrage für ihre folgenden Ausführungen: »Wie konnte diese Bewegung sich als Gemeinschaft etablieren, wenn ihre Existenz auf der Überzeugung gründete, dass die Welt an der Schwelle zur Endzeit stand?« (23). Unter dieser übergeordneten Frage werden Themen wie Autorität, Strategie und Organisationsformen, Tätigkeiten der Jesus-Gemeinschaft, Verkündigung, Beziehung zu den Diasporasynagogen, Ziele der Mission, Aufnahme von »ex-heidnischen Heiden« – in den folgenden fünf Kapiteln: 1. Hinauf nach Jerusalem, 2. Gottes Heiliger Berg, 3. Vom Wunder zur Mission, 4. Von Jerusalem aus, 5. Das Ende der Zeiten – behandelt.

Im Fokus des ersten Kapitels und letztlich des gesamten Buchs steht das Zentrum der damaligen jüdischen Welt: der zweite jüdische Tempel im hellenisierten und unter römischer Herrschaft stehenden Jerusalem. Hier ortet F. den sozio-historischen Kontext und Ausgangspunkt der frühesten Christusnachfolger. Sie beschreibt lebendig die Aktivitäten und Stimmungen während der Pilgerfeste, wobei der Blick auf Jerusalem und den Tempel stets auch einen Blick auf Rom bedingt, insbesondere in den konfliktreichen Festzeiten. Hier zeichnet F. geschickt die Konstellationen zwischen römischer Besatzung, der lokalen Tempelobrigkeit und den historisch greifbaren Figuren Pilatus und Herodes nach und prüft die Glaubwürdigkeit der Schilderungen der Evangelien. Vom Ansatz her, die frühchristlichen Texte konsequent als Texte der jüdischen Geschichte zu verstehen und nach ihrer historischen Plausibilität zu fragen, kommt unter den Evangelien dem Johannesevangelium höhere Plausibilität zu, was die Frage nach der Anzahl und Dauer von Jesu Aufenthalten in Jerusalem anbelangt. (Evangelien werden grundsätzlich als ein »Genre jüdischer Schrift-Improvisation« S. 158 verstanden!) Ein wiederholtes Auftreten Jesu in Jerusalem liefert einen besseren Erklärungszusammenhang für Jesu Tod sowie den Aufenthalt der Gemeinschaft von Nachfolgenden in Jerusalem nach dessen Tod. Im Unterschied zu Johannes identifiziert F. hingegen bei den Synoptikern durch deren starke Konzentration auf Galiläa eine logische Lücke, insofern als »keine der innerjüdischen religiösen Auseinandersetzungen, diese gereizten Begegnungen Jesu mit den Schriftgelehrten und Pharisäern, die in diesen Evangelien dargestellt werden, seinen höchst politischen Tod erklären konnte« (34). Daher brauchte die synoptische Erzählung die Szene im Tempel, um den Plot der Geschichte weiterzutreiben. F. kommt zum Schluss, dass Pilatus Jesus nicht als gefährlich erachtete, gleichzeitig aber die Unruhen, die Letzterer auslöste, unterdrücken musste. Zur Plausibilisierung ihrer Thesen führt F. weitere Quellen aus zeitlicher Nähe zu den Evangelien an und identifiziert zahlreiche Anhaltspunkte für ihre These, dass für Jesus, aber auch Paulus und Lukas der Tempel positiv konnotiert und von eminent zentraler Bedeutung ist.

In der Folge schildert F., wie die Jesus-Nachfolgenden sich zu einer letztlich weltumspannenden Bewegung formierten. Hermeneutisch interessant ist dabei die ausdrückliche Infragestellung der heute als selbstverständlich hingenommenen Tatsache, dass das überhaupt passierte. Die nach Jesu Tod Zurückbleibenden sahen sich in der Situation, diesen Tod und die Auferstehungs- erscheinungen einordnen und deuten zu müssen. Dies geschah – einmal mehr – in einem jüdischen Denk- und Verstehenshorizont in Form von Schriftauslegung. Als die Auferstehungserscheinungen schließlich aufhörten, zeigte sich immer deutlicher, dass die Verheißungen an Israel noch nicht erfüllt waren und die umfassende Friedensherrschaft und damit die allgemeine Auferstehung der Toten nicht unmittelbar anbrechen würden. Diese Situation der Parusieverzögerung machte eine neue Interpretation nötig – die wiederum im jüdischen Denkhorizont anzusiedeln ist. Das Verständnis des Todes Jesu wandelte sich weg vom Anbruch der Erlösung und hin zu einem Verständnis der Auferstehung als Anzeige einer endgültigen Erlösung. Der auferweckte Christus würde ein zweites Mal kommen. Nachdem er ein erstes Mal gekommen und in Schwäche am Kreuz gestorben war, stand die triumphale Rückkehr des Messias, mit der das Reich Gottes anbrechen würde, noch aus. Diese Vorstellung und die Idee, dass die Jesus-Gemeinschaft ihre Verkündigung auch in Abwesenheit Jesu, aber in Erwartung seiner Rückkehr fortsetzen sollte, stellt das Movens für die Aktivitäten zur Ausbreitung der Christusbotschaft dar. Paulus bietet im Römerbrief seine Erklärung für die Verspätung des Gottesreichs: Dass die Mehrheit Israels das Evangelium abgelehnt hat, ist Gottes Plan, damit noch Zeit für die Mission unter den Völkern bliebe.

Zu Recht verzichtet F. auf die anachronistischen Termini »Christen« (mit Ausnahme des Titels!) und »Kirche«. Stattdessen verwendet sie von ihr selbst geprägte Ausdrücke, die allerdings erklärungsbedürftig bleiben: Was genau sind ex-heidnische Heiden und was ist der Mehrwert dieser umständlichen Bezeichnung? Abgesehen davon ist der Text durchwegs in sehr gut verständlicher Sprache verfasst und in seiner Leseführung geradezu vorbildlich. Stets werden Leitfragen für die jeweiligen Ausführungen ausformuliert.

Die Inhalte des Buchs basieren auf jahrzehntelanger wissenschaftlicher Arbeit. Forschungsliteratur anderer wird sehr sparsam und in Endnoten erwähnt, was das Lesen derselben umständlich macht. Sie ist im Literaturverzeichnis nur als Auswahl aufgeführt. Bedauerlich ist auch, dass Bibelstellen, auf die sich die Autorin bezieht, nur in Ausnahmefällen angegeben werden.

Der große Gewinn der Arbeit besteht in einer luziden Darstellung von Analysen der Quellen zur Entstehung des frühen Christentums, die konsequent in ihrem historischen, d. h. jüdischen, Kontext situiert und interpretiert werden. Dieser Zugang ermöglicht einen frischen und sehr erhellenden Blick auf so manche etablierte Forschungsmeinung hinsichtlich der Entstehung des Christentums. Das Buch eignet sich hervorragend für Studierende als Einführung in die Thematik ebenso wie für ein interessiertes außerakademisches Publikum.