Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2024

Spalte:

283-285

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Klein, Jürgen

Titel/Untertitel:

Christlich-Muslimische Beziehungen in Äthiopien. Interreligiöse Situation – Konflikträume – Verstehenszugänge.

Verlag:

Münster u. a.: LIT-Verlag 2021. 530 S. = Beiträge zur Missionswissenschaft/Interkulturellen Theologie, 51. Kart. EUR 44,90. ISBN 9783643148520.

Rezensent:

Jörg Haustein

Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag zu christlich-muslimischen Beziehungen in Afrika. Jürgen Klein war vierzehn Jahre lang als Missionar in Äthiopien tätig, wo er sich im Dienst der Mekane Yesus Kirche hauptsächlich mit dem Verhältnis zwischen Christentum und Islam befasste. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 2012 hat K. seine Erfahrungen und Daten in einer von Henning Wrogemann betreuten Dissertation an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel niedergelegt, die hier nun veröffentlicht vorliegt. Neben den im Anhang verzeichneten 29 formalen Interviews und der über 50-seitigen Bibliographie gründet sich die Studie somit auf unzählige Gespräche, Seminare und Begegnungen, die K. eine nur selten erreichte Materialtiefe ermöglichen und das Werk zu einem wichtigen Nachschlagwerk machen.

Wie der Verfasser in der Einleitung des Buches richtig darlegt, fehlt es an Studien, die die Geschichte und Gegenwart christlich-muslimischer Beziehungen in Äthiopien in der notwendigen Komplexität darstellen. Die historische Tiefe, regionale Divergenz und politische Brisanz des Verhältnisses von Christentum und Islam im Land lassen sich nur schwer bündeln und haben die Diskussion bisweilen in eine falsche Gegenüberstellung von interreligiöser Harmonie versus Konflikt geführt. K.s Arbeit zielt daher darauf, die Harmonie- und Konfliktdimensionen der christlich-muslimischen Begegnungen in Äthiopien in einem multiperspektivischen Ansatz ausführlich zu erschließen. Dazu gehört unter anderem auch, die internen Divergenzen in Islam und Christentum ernst zu nehmen und in ihrer Pluralität in die Analyse einfließen zu lassen. Das sich daraus ergebende komplexe Feld versucht der Verfasser in drei »Räumen« (geschichtlich, institutionell, literarisch-thematisch) zu bündeln, die ihrerseits durch neun »Verstehenszugänge« (u. a. Geschichte, Recht, Institutionen, Literatur, soziale Interaktionen) einer Querschnittsanalyse unterzogen werden.

Der Hauptteil der über 500-seitigen Studie ist in drei große Kapitel unterteilt, die sich aus den genannten »Räumen« Geschichte, Institutionen, und Literatur ergeben. Diese Struktur ermöglicht eine saubere Gliederung des Materials, aber hat sehr lange Kapitel zur Folge. Das erste Hauptkapitel (II) liefert einen vollständigen und gut gebündelten Überblick über die Geschichte christlich-muslimischer Beziehungen in Äthiopien von der Antike bis zum Ende des 20. Jh.s. Die hier vorgenommene historische Periodisierung christlich-muslimischer Beziehungen ist in ihrer Geradlinigkeit womöglich etwas irreführend, zumal sich die geographische und politische Gestalt Äthiopiens zwischen und innerhalb dieser Phasen ständig wandelte. Sie ist jedoch konsistent mit üblichen Geschichtstraditionen in Äthiopien selbst, was allerdings eine wichtige Frage an dieses Kapitel stellt: in welcher Weise partizipieren bestimmte Geschichtskonstruktionen an den gegenwärtigen christlich-muslimischen Beziehungen? Für die Frühzeit um die erste hiǧrah wird dieser Frage in einem Vergleich historischer Rezeptionen nachgegangen, allerdings fehlen ähnliche Analysen zu späteren Perioden, die jedoch nicht weniger umstritten sind. Gerade für die Zeit des modernen Äthiopiens seit Tewodros II bis hin zur EPRDF-Regierung liegen sehr unterschiedliche Erzählungen vor, die für gegenwärtige Spannungen in der Religionspolitik des Landes von maßgeblicher Bedeutung sind.

Im nächsten Kapitel (III) wird der gegenwärtige institutionelle Raum christlich-muslimischer Beziehungen in Äthiopien in statistischer, rechtlicher und organisatorischer Hinsicht aufgespannt. Hinsichtlich der Religionsstatistik warnt K. völlig zu Recht vor Generalisierung und verweist auf die starke Divergenz ethnischer, politischer, und historischer Faktoren. Der Exkurs zum Religionsrecht stellt den Gesetzesrahmen angemessen dar und verweist zugleich auf wichtige Konflikträume, die rechtlicher Klärung bedürfen. Womöglich wäre noch stärker darauf hinzuweisen, dass zwischen aufgestelltem und angewandtem Recht in Äthiopien oft erhebliche Diskrepanzen bestehen. Der wichtigste und längste Teil dieses Kapitels ist ein detaillierter Durchgang durch orthodoxe, evangelische, katholische und muslimische Initiativen in interreligiöser Verständigung, nebst einem Überblick über staatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen in diesem Feld. Die langjährige Erfahrung und Beteiligung des Verfassers in diesem institutionellen Raum zeigt sich hier einmal mehr, und ich kenne keine Abhandlung, die in derartiger Vollständigkeit und Detailtiefe die verschiedenen Organisationen und Initiativen vorstellt. Die Spannung zwischen Mission und Dialog ist hier von besonderem Interesse, und zudem ist positiv zu unterstreichen, dass K. wiederum vor einfachen Kategorien warnt (z. B. Sufi vs. Salafi) und die Entpolitisierung des intra- und interreligiösen Dialogs anmahnt. Der letzte Punkt kommt allerdings etwas zu spät und verhalten zur Sprache und hätte gut zum Zentrum einer kritischen Analyse verschiedener Dialog- und Organisationsformen ausgebaut werden können, insbesondere in der Diskussion des Inter-Religious Council of Ethiopia und des kontraproduktiven Anti-Radikalismuskampfes der EPRDF-Regierung.

Der umfangreichste Teil der Studie ist das letzte Hauptkapitel (IV), das sich mit dem »literarisch-thematischen« Raum christlich-muslimischer Beziehungen befasst. Es handelt sich hierbei im Kern um eine umfangreiche hermeneutische Analyse der seit 1991 veröffentlichten amharischen Literatur zum Thema. Die thematische Gliederung mit ihren sehr unterschiedlich langen Unterkapiteln ist zwar eher verwirrend und lässt K.s durchaus prägnante Einzelbeobachtungen nicht genug zur Geltung kommen. Aber die detaillierte Vorstellung der verschiedenen Quellen und der somit aufgezeichnete breite theologische Diskurs zu christlich-muslimischen Beziehungen in Äthiopien zeugen einmal mehr von dem unübertroffenen Wissen des Verfassers und sind eine Fundgrube für weitere Arbeiten.

In der Zusammenfassung versucht der Verfasser, die wichtigsten Erkenntnisse seiner Studie hinsichtlich der postulierten neun »Verstehenszusammenhänge« und drei »Räume« zu bündeln. Hierbei zeigen sich allerdings eher die Grenzen dieser analytischen Hermeneutik. Die zweidimensionale und feingliedrige Struktur ist nicht immer leicht zu verstehen und führt zu künstlichen Trennungen und Redundanzen, welche die entscheidenden Thesen der Arbeit eher verdecken. Auch der sich daraus ergebende kurze Ausblick überzeugt in seiner Generalität nicht so ganz. Eine stärker von Thesen geleitete Zusammenfassung wäre meines Erachtens besser gewesen, etwa in der Herausarbeitung der wichtigsten Spannungsfelder, die sich gerade in den Konflikten der letzten Jahre deutlich gezeigt haben.

Diese kritischen Anmerkungen zur Analysestruktur der Studie schmälern jedoch in keiner Weise die Bedeutung des hier vorgebrachten Materials. Das Buch ist ein wichtiger und hochwillkommener Beitrag zum Thema, und ich hoffe sehr, dass K. eine englische Überarbeitung des Werks auf den Weg bringen wird, welche die eher technische Sprache und Struktur einer Dissertation (zahlreiche Akronyme, durchnummerierte Paragraphen usw.) hinter sich lässt und seine Erfahrungen, Erkenntnisse und Thesen einer breiteren Fachöffentlichkeit in Äthiopien und der übrigen Welt vermittelt.