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Ausgabe:

April/2024

Spalte:

247-264

Kategorie:

Aufsätze
Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Roland Deines

Titel/Untertitel:

Die Singularität der neutestamentlichen Evangelien*

Einstieg: Zur aktuellen Diskussion über



die Gattung der Evangelien



Was sind die vier kanonischen Evangelien? Etwas Besonderes im Vergleich zu den vielen anderen frühchristlichen Texten, die sich Evangelien nennen oder von der Forschung so benannt worden sind? Oder etwas Besonderes im Vergleich mit der antiken Biographieschreibung, die gerade in der Entstehungszeit der Evangelien einen neuen Aufschwung nahm?1 Ist eine, beide oder keine dieser Fragen zu bejahen? Offensichtlich sind auch nach 1900 Jahren intensiver Beschäftigung mit den vier Evangelien nicht alle Fragen beantwortet, auch wenn im Verlauf der Forschungsgeschichte dieser Eindruck immer wieder entstand. Das war z. B. vor rund 100 Jahren der Fall, als die Begründer der Formgeschichte die Evangelien zum Sonderfall der antiken Literaturgeschichte bestimmten. Damit beendeten sie die in der »ersten Frage« (First Quest) dominierende Auffassung der historischen Jesusforschung, derzufolge es sich bei den Evangelien um mehr oder weniger historische »Lehrerzählungen« bzw. »Lehrbücher« handele. Diese, so Holtzmann, stellten in »ihrer Eigenschaft als Geschichtsquellen das Material für unser Wissen um das Leben und die Lehre Jesu« zur Verfügung, aus dem die Leben-Jesu-Forschung ihre Jesusbiographien rekonstruierte.2 Auch wenn sich R. Bultmann, K. L. Schmidt und M. Dibelius in ihren Ansätzen in vielem unterschieden, so kamen doch alle auf verschiedenen Wegen zu dem Ergebnis, dass die von Markus begründete literarische Gattung »Evangelium« ohne echte Analogie in der griechischen Literaturgeschichte sei. Das fand Eingang in die gängigen Methodenbücher der neutestamentlichen Exegese und wurde damit quasi zum Grundlagenwissen.3

Mit dem Postulat der Gattungssingularität der Evangelien waren zwei Grundüberzeugungen verbunden: erstens, dass die Evangelien eine sekundäre Rahmengattung für die »Einzelstücke der Tradition«4 darstellen, die »als erweiterte Kultuslegenden« dem christlichen Kerygma zur »Ergänzung und Veranschaulichung« dienen sollten. Und zweitens, dass hinter den Evangelien kein Interesse an den geschichtlichen Gegebenheiten des Lebens von Jesus stand, da sie dem »Christus des Glaubens und des Kultes« und nicht dem historischen Jesus dienen wollten.5 Das fehlende historische Interesse, verbunden mit den formgeschichtlichen Annahmen über Wucherungen und Legendenbildung in der Tradition, galt als einer der wichtigsten Gründe für die Geringschätzung der historischen Belastbarkeit der synoptischen Tradition bzw. der Evangelien insgesamt. Dagegen erhoben sich durch Ernst Käsemann schon im Schülerkreis von Rudolf Bultmann erhebliche Einwände, mit denen die sog. »zweite Frage« begann, die nach dem historischen Jesus. Das Hauptgewicht lag jedoch auf der Echtheitsüberprüfung der »Einzelstücke der Tradition« und weniger auf der Evangelienschrift als Gattung. Dabei mangelte es nicht an Versuchen einer literarischen Einordnung, wobei erste Vertreter für ein Verständnis der Evangelien als Biographien schon früh in Konkurrenz zu den formgeschichtlichen Thesen traten.6 Besonders im englischsprachigen Bereich kam es im Rahmen der »Third Quest« zu einer Neubewertung des historischen Werts der Jesusüberlieferung und damit auch der Evangelien als einer historischen Gattung.7 Maßgeblich dafür waren die Arbeiten von Richard Burridge, der seit dem Erscheinen seiner Dissertation von 1992 die Debatte nicht nur bestimmt, sondern auch akribisch dokumentiert.8 In einem aktuellen Konferenzband beschreibt Burridge die Reaktion auf seine These in drei Schritten:

»First, the restatement of traditional views in the early years of the millenium by some scholars (e. g. Luz, Yarbro Collins, Bovon, Ashton); second, increasing acceptance by other major scholars further into the first decade of the new century (e. g. Stanton, Witherington, Keener, Carter, Bauckham, Parsons, Lincoln, etc.); thirdly, this was followed by the younger generation of recent PhD and junior scholars who had always assumed the biographical consensus, and therefore assume it as a base line to develop new lines of research.« 9

Die Dominanz der Biographie-These ist so groß, dass Aletti denen, die »still refuse to admit«, dass die Evangelien bioi sind, vorwirft dies nur »out [of] ignorance of the numerous studies made in recent decades« zu tun.10 Das ist allerdings eine grobe Verzeichnung und wird etwa den Arbeiten von Eve-Marie Becker in keiner Weise gerecht. Sie argumentiert aufgrund literaturgeschichtlicher Analysen dafür, die Evangelien als »Gattung sui generis« zu begreifen und im Markusevangelium »den historischen Beginn christlicher Geschichtsdarstellung« zu sehen.11 Zudem werden auch bei Autoren, die von der Biographiethese ausgehen, damit ganz unterschiedliche Akzentuierungen und Absichten verbunden sind. Während die einen darin eine Möglichkeit sehen, der Jesusgeschichte und -überlieferung mit größerem historischen Vertrauen zu begegnen (s. Anm. 7), sehen andere in der bios-These eine apologetische Strategie, die ursprünglich mythographische Jesusüberlieferung plausibler zu machen. Dafür sei sie sekundär mit einem biographischen Rahmen versehen worden, weil das für zeitgenössische Leser den Anschein erweckte, dass das Berichtete wahr sei.12 Noch einmal anders ist die Akzentsetzung bei denen, die auf den engen Zusammenhang von Biographie und Ethik bzw. Tugendlehre abheben und stärker an einer Jesus-als-ethisches-Vorbild-Christologie (Jesusanity) interessiert sind als an einer Jesus-als-Erlöser-Christologie (Christianity).13 Das ist schon bei Burridge erkennbar, der seine Studien zur Biographie in eine neutestamentliche Ethik münden lässt, in der das biographische Genre eine wichtige Grundlage bildet.14 Helen Bond sieht im Markusevangelium den Versuch, die soteriologische Einseitigkeit des (vor)paulinischen Evangeliums, wie sie besonders prägnant 1Kor 15,1–5 bezeugt, im Sinne einer radikalen Nachfolge-Ethik zu korrigieren:

»The argument of this book is that Mark’s bios is a very specific recep-tion of earlier Jesus tradition […] extend[ing] Christian proclamation (»the gospel«) from an early narrow focus on the death and resurrection of Jesus, so that it now included the way of life of its founding figure. Situating Jesus at the heart of a biography is not an inevitable development but a bold step in outlining a radical form of Jesus discipleship patterned on the life – and death – of Jesus.«15

Die Beispiele der Inanspruchnahme der Bios-These für ganz verschiedene interpretatorische Folgerungen lassen sich fast beliebig erweitern.16 So verwundert es nicht, dass Felix John in seiner Habilitationsschrift trotz ihres Titels »Jesus-Vita« am Ende seiner materialreichen und nuancierten Darstellung der Forschungsgeschichte zu dem Schluss kommt, für seine eigene Arbeit aufgrund der »skizzierte[n] Forschungslage« »klassifikatorische Fragen nach Gattungszugehörigkeiten nicht weiter« zu verfolgen, da die Beschäftigung mit ihnen »zu einem fruchtlosen Streit positioneller Differenzen« führe. 17

Aber auch noch von anderer Seite gerät die Genre-Diskussion unter Druck. In dem in Anm. 8 erwähnten Sammelband, in dem Burridge noch einmal die erfolgreiche Rezeption seiner These referiert, werden von anderen Beiträgen die Grundpfeiler seiner Argumentation in bester postmoderner Dekonstruierfreude bereits wieder untergraben. Werner H. Kelber, einer der frühen Protagonisten der literaturwissenschaftlichen Exegese, kritisiert unter dem bezeichnenden Titel »On ›Mastering the Genre‹«, dass Burridge noch immer von einem Autor und einer Autorintention ausgeht: »[…] there is a […] far more conventional trajectory running through Burridge’s scholarship. He is repeatedly making a strong case for individual authorship of the gospels: they were written by a person, about a person, for other persons.«18

Dass Burridge von »the author’s intentions«, »the author’s original meaning« und »the original genre« spricht, mache ihn zum Vertreter eines »tight hermeneutical framework that appears designed to deliver the single sense as a manifestation of textual finality«. »Genre« wird damit zur »controlling power over the life of the gospel narrative«, d. h. es ist im Grunde ein kolonialer Akt, der durch die Gattungsbestimmung erfolgt.19 Dem »Verlust des Autors« (und damit der Vorstellung einer auktorialen Intention) durch eine rezeptionsästhetische Hermeneutik folgt als konsequenter nächster Schritt der »Verlust des (stabilen) Textes« zugunsten des Verständnisses einer »living tradition«,20 wozu auch die Verflüssigung etwaiger Genremarker oder Gattungsgrenzen gehört. Das Ziel bei Kelber ist es, wie er selbst deutlich markiert, wegzukommen von »meaning-as-content« hin zu »meaning-as-event« (66), d. h. die Bedeutung ereignet sich immer neu und abhängig von den Rezipienten und ihrem Umgang mit dem Text, der nicht durch Vorgaben wie Autor, Autorintention oder Genre beschränkt oder beeinflusst werden darf. Auch in der Debatte gegen eine Genre-Fixierung gibt es allerdings ganz unterschiedliche Positionen, wie der erwähnte Sammelband (s. Anm. 8) zeigt.

Im Folgenden sollen vier Punkte hervorgehoben werden, die für die Einordnung der Evangelien eine wichtige Rolle spielen und denen m. E. nicht die Beachtung zukommt, die ihnen gebührt. Hinweise auf diese Besonderheiten finden sich verstreut in manchen Beiträgen, ohne dass diese aus Raumgründen hier aufgeführt werden können. Ausgangspunkt ist dabei der Vier-Evangelien-Kanon. Dieser bildet sachlich eine Einheit, nicht nur untereinander, sondern auch im Kontext des gesamten Neuen Testaments.21 An ihnen orientierten sich die zahlreichen späteren Evangelien und Evangelienschriften, die wir ganz oder in Teilen kennen. Manche davon waren in den christlichen Gemeinden relativ weit verbreitet und offenbar so beliebt, dass die darin berichteten Geschichten in die christliche Kunst und Volksfrömmigkeit Eingang fanden. Das hebt allerdings nicht auf, dass sie, obschon (in Teilen) gut und nützlich zu lesen, der Heiligen Schrift dennoch nicht gleich zu achten sind, um Luthers berühmtes Diktum über die alttestamentlichen Apokryphen auch hier zur Geltung zu bringen. Angesichts der vielfältigen Bemühungen um die gegenwärtige »Inklusion« der nicht kanonisch gewordenen Schriften im Sinne einer »Gleichberechtigung« bzw. »Gleichwertschätzung« der gesamten frühchristlichen Literaturproduktion lohnt es sich, noch einmal über die Sachgemäßheit der in der frühen Kirche getroffenen Auswahl nachzudenken.22

I Keine Evangelien vor den Evangelien



Der erste Hinweis ist fast schon banal, jedoch lohn es sich manchmal, das scheinbar Selbstverständliche noch einmal ausdrücklich festzustellen: Vor den neutestamentlichen Evangelien gab es keine Bücher, die man als Evangelien bezeichnete. Es gab in der Zeit des 1. Jh.s ein wahrhaft reichhaltiges Literaturangebot und Bücher, die nahezu alle denkbaren literarischen Formen abdeckten, aber es gab keines, auf dessen Titel das Wort »Evangelium« stand.23

Es gab allerdings das Wort »Evangelium«, das, zumeist im Plural (Evangelia) und in sehr spezifischen Kontexten verwandt, »gute Nachrichten« anzeigte.24 In diesem Sinn kommt es im Neuen Testament insgesamt 76 Mal vor, und in keinem Fall ist damit schon ein Buchtitel oder ein bestimmtes literarisches Genre gemeint. Auffällig ist immerhin, dass die neutestamentlichen Autoren im Unterschied zur Umwelt den Singular bevorzugen.25 Denn die gute Botschaft, um die sich alles dreht, ist Jesus. Wenn es um das Evangelium als Botschaft geht, unterscheidet sich der Sprachgebrauch des Neuen Testaments signifikant von dem des Alten Testaments und der griechisch-römischen Umwelt. Dort wird das Wort bevorzugt im Plural und im Kontext von militärischen Unternehmungen (Siegesbotschaften), der Herrscher-Propaganda (Geburtstag, Genesung, Amtsantritt des Kaisers) oder für besondere im Alltag widerfahrenden »Glücksfälle« verwendet. Bezeichnet wurden damit fast ausnahmslos partielle bzw. wiederholbare Ereignisse. Neutestamentlich handelt es sich dagegen um den zusammenfassenden Begriff für eine religiöse Botschaft, die auf dem Leben und Sterben eines Einzelnen basiert und bleibende Bedeutung hat.

Dass der Ertrag eines ganzen Lebens Evangelium für andere ist, wird dagegen nirgends behauptet. Auch die Priene-Inschrift, die den »Geburtstag des Gottes« Augustus als »die erste von ihm ausgehende Freudenbotschaft für die Welt« ansah und von diesem »Erlöser« und seiner Herrschaft die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters erwartete, wird nicht die Quelle für ein schriftliches Evangelium, das den bleibenden Segen oder Ertrag dieses göttlichen Lebens feiert.26 Legt man Suetons Biographie von Augustus daneben, dann ist die Ernüchterung und vielleicht auch Enttäuschung deutlich zu sehen. Obwohl die göttliche Abkunft durch Omina und Träume bezeugt wurde, in seinem Leben und vor seinem Tod zahlreiche wundersame Zeichen vorkamen (Aug. 94–99) und ein ehemaliger Prätor unter Eid bezeugte, dass er ihn zum Himmel aufsteigen sah (Aug. 100), steht am Ende dieser Vita ein sehr profanes Testament, das vor allem finanzielle Aspekte regelte. An keiner Stelle wird erkennbar, dass Sueton in seiner eigenen Gegenwart von diesem Gott Augustus, der in Tempeln verehrt, dessen Standbilder darin aufgestellt wurden und dem Opfer und Gesänge dargebracht wurden, etwas Heilvolles erwartete.27 Aber selbst wenn es diese heilvollen Erwartungen gab, dann bezogen sie sich auf die Gegenwart und das Diesseits.28 Bei den militärischen, politischen und den privaten εὐαγγέλια geht es um Frieden, Wohlstand, Sicherheit, privates Glück: Was fehlt, ist der religiöse Heilsbezug für den Einzelnen, der im Neuen Testament Inhalt des Evangeliums ist. Hinweise auf »Bücher«, die im Kaiserkult liturgisch eine Rolle spielten, gibt es m. W. nicht. Sueton selbst lässt auch durch nichts erkennen, dass seine Viten in irgendeiner Weise den Kaiserkult begründen, befördern oder sonstwie beeinflussen wollten. Er spielt in den Viten generell keine große Rolle, und wenn Sueton darauf Bezug nimmt, dann geschieht dies häufig kritisch.

Tomas Hägg macht noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam, der zum biographischen Genre in Vergangenheit und Gegenwart gehört: »they only rarely achieve the status of classics, but are mostly replaced by new ones if need arises«. Als Beispiel verweist er auf die »successive Lives of Pythagoras […] and the various attempts to rewrite the Life of Alexander«29. Das sind zwei Gestalten, die eine lange Nachwirkung hatten und kultische Verehrung genossen, weshalb sie auch immer wieder mit Jesus und seiner nachösterlichen Verehrung verglichen werden. Demgegenüber sind die kanonischen Evangelien seit nahezu 2000 Jahren die entscheidenden Texte, wenn es um die Verehrung Jesu geht. Zwar kam es auch hier zu Neuschreibungen und Konkurrenztexten, jedoch blieb deren Wirksamkeit auf einzelne Gruppen und bestimmte Zeiträume beschränkt.

Darum gibt es kein schriftliches Evangelium von Augustus, der in seinem Anspruch und im Hinblick auf die ihm zuteil gewordene Verehrung als Erlöser und Retter wohl am ehesten mit Jesus zu vergleichen ist, aber es gibt das »Evangelium von Jesus Christus«, das in knappen Bekenntnisformulierungen die Entstehung des christlichen Glaubens von den allerersten Anfängen an fundiert. Die enge Zusammengehörigkeit zwischen Bekenntnis und Evangelium zeigt insbesondere die paulinische Einleitung zu 1Kor 15,3b–7:

1 Ich erinnere euch aber, liebe Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe (τὸ εὐαγγέλιον ὃ εὐηγγελισάμην ὑμῖν), welches ihr ja angenommen habt, in welchem ihr ja fest steht; 2 durch welches ihr ja gerettet werdet, wenn ihr es festhaltet in der Gestalt [d. h. als »Logos des Evangeliums«30], in der ich es euch verkündigt habe (εὐηγγελισάμην); es sei denn, dass ihr umsonst gläubig geworden wärt. 3 Denn als erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass der Messias gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; […]

Der Tod Jesu für die Sünden und seine Auferstehung als Garant der Auferstehung der Gläubigen ist das »Summarium« des Evangeliums.31 Das Evangelium ist also die Heilsbotschaft der Herrschaft Gottes, in der die Sünde und damit der Tod überwunden sind. Der Grund dafür ist Jesus. Darum ist »Evangelium« die Summe dessen, wer Jesus war, was er war, tat und lehrte.

Es war also nur folgerichtig, wenn Markus seinen Bericht über Jesus mit den Worten begann: »Dies ist der Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes« (1,1).32 Hier meint Evangelium noch nicht das Buch, sondern die umfassende Heilsbotschaft (vgl. besonders 1,15). Weil aber mit der Niederschrift dieses Satzes der Weg zur Schriftwerdung des »Evangeliums« bereits beschritten wurde, ist die daraus abgeleitete Bezeichnung des so entstandenen Textes als »Evangelium« ohne Weiteres nachvollziehbar. Die Aufnahme von Mk 14,9 in Mt 26,7 ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Matthäus seinen Text bereits in diesem Sinne als »Evangelium« verstand: Er übernimmt fast vollständig den markinischen Text, ergänzt jedoch zweimal τοῦτο in der Ankündigung einer weltweiten Verkündigung des Evangeliums: ὅπου ἐὰν κηρυχθῇ τὸ εὐαγγέλιον τοῦτο ἐν ὅλῳ τῷ κόσμῳ (vgl. auch Mt 24,14: καὶ κηρυχθήσεται τοῦτο τὸ εὐαγγέλιον τῆς βασιλείας ἐν ὅλῃ τῇ οἰκουμένῃ εἰς μαρτύριον πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν). Die Wendung πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν verweist auf die πάντα τὰ ἔθνη des Missionsbefehls voraus (28,19). Diese sollen über das belehrt werden, was Jesus geboten hat. Dass für diese Aufgabe das mit diesen Worten beendete schriftliche Evangelium nicht mitgemeint sein soll, ist schlechterdings unvorstellbar. Denn genau dafür ist dieses Buch doch geschrieben worden. Es ist darum nur konsequent, wenn einer der ersten Abschreiber dieses Textes, oder einer derjenigen, der für Ordnung im Bücherschrank einer Gemeinde zuständig war, diesem ursprünglich titellosen Text den Titel gab: »Evangelium nach (κατὰ) Markus«, und dann auch »Evangelium nach Matthäus« usw.33 Damit bekunden diese Tradenten: Es gibt nur das eine Evangelium, d. h. nur die eine Heilsbotschaft vom Messias Jesus, aber sie ist mehrfach schriftlich überliefert. Von diesen Schriften haben sich vier besonders bewährt und in den Gemeinden durchgesetzt. Wann genau der Bedeutungszuwachs zur Bezeichnung einer Schrift als »Evangelium« stattfand, muss offen bleiben. Er ist aber spätestens bei Justin um die Mitte des 2. Jh.s vollzogen (1 apol. 66).34 Die literarische Sonderstellung der kanonischen Evangelien wird dann von Origenes im 3. Jh. weniger behauptet als vielmehr selbstverständlich vorausgesetzt, wenn er sie als »das Erstlingsopfer aller Schriften« bezeichnet.35 Angesichts der florierenden biographischen Literatur ab dem 2. Jh. n. Chr. fällt auf, dass kein Versuch unternommen wurde, die Evangelien als βίοι oder vitae in die literarische Welt einzuführen.

Gegen das Verständnis der Evangelien als βίοι in den Augen der ersten Rezipienten spricht m. E., dass es keinen Beleg dafür gibt, dass sie im Altertum von irgendjemandem in dieser Weise bezeichnet wurden. Lukas nennt seine Darstellung eine διήγησις (Lk 1,1), in Apg 1,1 weist er darauf zurück als auf einen »ersten Bericht« oder auf ein »erstes Buch« (πρῶτος λόγος). Matthäus beginnt mit βίβλος γενέσεως (Mt 1,1), auch Papias spricht von den Evangelien als βίβλοι (zit. b. Eusebius, h. e. III 39,4); Justin verwendet den geläufigeren Begriff ἀπομνημονεύματα (1 apol. 66), »um seinen paganen, mit der jüdisch-christlichen Kultur nicht vertrauten Lesern deutlich zu machen, daß es sich bei den ›Evangelien‹ um Erinnerungen eines Augenzeugen an eine bedeutende Person« handelt.36 Die Verwendung bei Justin setzt jedoch bereits voraus, dass innerkirchlich die Buchbezeichung »Evangelium« üblich war. Kelsos lässt seinen jüdischen Gewährsmann von den »Aufzeichnungen der Jünger Jesu« (ὑπὸ τῶν μαθητῶν τοῦ Ἰησοῦ γραφεῖσιν) sprechen, die untereinander nicht übereinstimmen.37 Damit sind die Evangelien gemeint, von denen Kelsos nicht nur die vier kanonischen, sondern noch weitere zu kennen scheint. Dabei schimmert in seinem Sprachgebrauch noch durch, dass »das Evangelium« in verschiedenen Fassungen vorliegt (Cels. 2,27).38 Auch unter den inscriptiones und subscriptiones der Evangelien findet sich kein Versuch, die Gattungsbezeichnung εὐαγγέλιον durch βίοι oder ein anderes literarisches Genre zu ersetzen, dasselbe gilt für ihre Beschreibung in Hieronymus’ urchristlichem Autorenlexikon ,De viris illustribus, obwohl er in seinem Vorwort selbst auf Vorbilder und Vorgänger der antiken Bibliographieschreibung verweist. D. h. Hieronymus war sich der Gattung seines eigenen Textes als eines Katalogs von Biobibliographien bewusst. Dennoch deutet bei der Beschreibung der Evangelien nichts darauf hin, dass er auch sie als Biographien verstand.39

II Die Evangelien als gegenwärtiges Wort des lebendigen Herrn40



Die neutestamentlichen Evangelien sind einzigartig, weil es Bücher über einen sind, der gestorben ist, aber lebt und nun zur Rechten Gottes sitzt und diese Welt regiert. Als solcher redet er durch das Evangelium zu seiner Gemeinde: »Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verachtet, der verachtet mich.« (Lk 10,16) Die Evangelien sind die Vermittler dieser heilschaffenden Botschaft (unabhängig davon, welchen Titel sie tragen). Sie sind nicht für eine interessierte allgemeine Leserschaft geschrieben, sondern für Christen, die durch diese Texte ihrem Herrn begegnen und seine Stimme hören.41 Ihre Intention ist die Formatierung und Stärkung dieses Glaubens, und sie bilden »the literary expression of devotion to Jesus«.42 Das unterscheidet sie von den antiken bioi, die exempla bieten wollen und vielfach ethisch orientiert sind. Jesus ist aber nicht ein nachzuahmendes (oder abschreckendes) Vorbild oder exemplum, sondern der Kyrios, der auf der Seite Gottes steht. Die Evangelien sind darum von Anfang an eine »Kombination von Erzähltext und kerygmatischer Anrede«43 und darum wohl auch immer schon für eine gottesdienstliche Verwendung gedacht.44 Diese kerygmatische Besonderheit wurde bereits in der klassischen Formgeschichte betont und findet sich gegenwärtig sowohl bei Vertretern der bios- wie der historiographischen Tradition.45 Für Martin Hengel sind sie »nach antiken Maßstäben gemessen […] βίοι, freilich als ›Heilsgeschehen‹ von einzigartigem, fast möchte man sagen unvergleichlichem Charakter. Gewöhnliche Biographien enthalten keine Glaubensbotschaft, die über ewiges Leben und Gericht entscheidet. Das ist das völlig Neue an der ›Gattung‹ Evangelium.«46

Zu den Besonderheiten der Evangelien gehört ferner die heilsgeschichtliche Komponente, indem sie die Geschichte Jesu mit der Geschichte Israels verbinden, aber darüber hinaus bis ans Ende der Zeit verlängern. Mit der Jesusgeschichte als dem Anfang des »Evan- geliums« stellen sie den entscheidenden Wendepunkt in der einen Geschichte Gottes mit dieser Welt dar, die mit der Schöpfung begann und mit der Parusie Christi ihren zukünftigen Höhepunkt (der aber noch nicht der Endpunkt ist) finden wird. Sie tun dies in der Überzeugung, dass dieser Mensch Jesus auferstanden ist, dass er lebt, dass er zur Rechten Gottes sitzt und wiederkommen wird, um die Ernte dessen einzubringen, was er mit seinem Leben und Wirken ausgesät hat. Sie tun dies in der Überzeugung, dass er seine Jünger beauftragt hat, mit »diesem Evangelium« alle Nationen und Völker zu erreichen. Zur selben Zeit, in der die Evangelisten ihre Evangelien schrieben, ist diese Mission zu den Völkern im Gang. Und sie soll weitergehen, bis Jesus selbst wiederkommt. Die Evangelienschriften leisten dazu ihren Beitrag: denn wie sonst sollten die Menschen davon erfahren, wenn nicht durch das gepredigte und geschriebene Wort. Mündlichkeit und Schriftlichkeit stehen nicht gegeneinander, sie sind auch nicht in ein Nacheinander aufzulösen, so als ob es am Anfang nur eine mündliche Verkündigung des Evangeliums gegeben habe, die dann, als das Ende der Welt nicht so schnell kam wie erwartet, allmählich durch die schriftlichen Evangelien erst ergänzt und dann ersetzt wurde.47

Die Botschaft des Evangeliums (und damit das, was die schriftlichen Evangelien bezeugen) ist die Geschichte des Messias Gottes, in dem Gott die Verheißungen der Heiligen Schriften Israels erfüllt hat. Aber mit der Erfüllung ist die Geschichte nicht zu Ende, sondern sie nimmt einen neuen Anfang. »Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johannes; von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes verkündigt«, sagt Jesus nach Lk 16,16. »Gesetz und Propheten« sind schriftliche Träger und Vermittler der bisherigen Offenbarung Gottes und decken von Abraham bis zu Johannes dem Täufer einen Zeitraum von knapp 2,000 Jahren ab. Sollte man da nicht erwarten, dass die durch Jesus inaugurierte Zeit des Reiches Gottes, in der das Evangelium in der ganzen Welt verbreitet werden soll, auch eine lange Zeit ist? Das Festhalten der Evangeliumsbotschaft in Büchern drückt die Überzeugung aus, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende ist. Wer mit dem baldigen Ende der Welt rechnet, schreibt keine Bücher mehr. Vielleicht haben die Anhänger von Jesus anfangs geglaubt, dass das Ende aller Geschichte nahe ist; vielleicht auch nur, dass Jesus bald nach seiner Auferstehung wiederkommt und ein irdisches Friedensreich von Jerusalem aus errichtet; es kann auch sein, dass die Jünger anfangs einfach noch nicht alles verstanden haben und sich ihnen die volle Bedeutung von Jesu irdischem Wirken erst durch die Ereignisse der ersten beiden Jahrzehnte nach der Auferstehung erschlossen hat, so dass erst dann Evangelienschriften entstehen konnten, die in der Lage waren, den Ertrag und die Bedeutung von Jesu vergangenem und gegenwärtigem Wirken sachgemäß darzustellen.48

Sieht man die Evangelien in der Traditionslinie der biblischen Literatur, dann ist die Verschriftlichung nicht die Ausnahme, sondern das zu Erwartende. Sie partizipieren als literarische Zeugnisse am jüdischen Monotheismus und Schöpferglauben. Damit kann für ihre Verfasser die Überzeugung vorausgesetzt werden, dass Israels Gott dauerhaft, wenngleich zumeist verborgen, an entscheindenden Punkten doch offenbar und im Weltgeschehen erfahrbar wird. Dies vollzieht sich in der Geschichte und dem Geschick seines erwählten Volkes und durch besondere, von Gott beauftragte und bevollmächtigte Boten (Propheten, Weise, Schrift gelehrte), denen er sein »Wort« anvertraut. Tradiert wird dieses in konkreten Situationen ergangene Wort jedoch in schriftlicher Form, womit eine generations- und situationsübergreifende Wirksamkeit ermöglicht wird.49 Diese Entgrenzung bzw. Transzendierung von konkret zeitlichen, geographischen und persönlichen Offenbarungsereignissen geschieht durch das Medium der schriftlichen Fixierung zum Zweck einer rituell-performativen Partizipation (vgl. Dtn 26,5: »Mein Vater war ein wandernder Aramäer«), die idealerweise »allen« (dem ganzen Volk, aller Welt) offentsteht.50 Für den Entstehungs- und Rezeptionskontext der Evangelien ist also davon auszugehen, dass es im Judentum der damaligen Zeit eine schon jahrhundertelange Zusammengehörigkeit von religiöser Erfahrung und schriftlicher Offenbarungsliteratur gab, an die die frühen Christen anknüpfen konnten. Daraus ergibt sich der dritte Punkt.

III Die Evangelien als Heilige Schriften von Anfang an



Die neutestamentlichen Evangelien sind einzigartig, weil sie von Anfang an als Heilige Schriften geschrieben wurden. Ihre Verfasser wollten nicht nur über das Leben und Leiden des Messias Jesus berichten, sondern wollten damit zugleich die endgültige51 und für alle gültige Offenbarung Gottes in Jesus Christus festhalten und weitergeben – sowohl ihrem eigenen Verständnis nach als auch nach dem gesamtkanonischen Verständnis des Neuen Testaments. Die Evangelien sind Heilige Schrift, weil in Israels Geschichte mit seinem Gott die heilsgeschichtlich entscheidenden Offenbarungsereignisse ›immer schon‹ in Heiligen Schriften festgehalten wurden. Heilige Schriften erlauben es, dass ihre Leser und Hörer Gottes Reden für ihr eigenes Leben erfahren.

Dagegen hat sich seit der Aufklärung die Meinung durchgesetzt, dass die Evangelien, wie überhaupt die neutestamentlichen Schriften, keinen Eigenanspruch als Heilige Schriften erhoben. Was zur Zeit von Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) noch eine Außenseitermeinung war, ist inzwischen der Ausgangspunkt, wenn über Fragen des Kanons nachgedacht wird:

»Denn es erhellet, daß die Verfasser [d. Evangelien, RD] selbst keinen Anspruch an die göttliche Eingebung und canonische Autorität ihrer Schriften gemacht, noch in der Absicht geschrieben haben, daß eine Sammlung ihrer Schrifften daraus erwachsen sollte, welche ein gleiches Ansehen mit dem A. T. hätte, und demselben als der zweyte Theil hinzugefügt würde.«52

Dieses Zitat setzt voraus, dass es Klarheit darüber gibt, wie Heilige Schriften historisch entstehen, was aber nur sehr begrenzt der Fall ist. Erkennbar ist bei Reimarus und denen, die ihm folgen, jedoch fast immer, dass die Betonung auf der Inspiration liegt, von der unausgesprochen angenommen wird, dass die Verfasser sie in irgendeiner Weise gespürt haben und daraus den Anspruch ableiten konnten, dass sie Heilige Schrift schreiben. Das geht jedoch an der Sache völlig vorbei, weil es in der gesamten Bibel keinen einzigen Text gibt, der ein solches Erleben beschreibt. Es ist vor allem Philo, dessen detaillierte Beschreibungen von Inspirationsvorgängen in Bezug auf Mose und die Entstehung der Septuaginta in der christlichen Tradition wirksam wurden. Viel wichtiger sind dagegen die Schreibbefehle, die mit Mose und den Propheten verbunden sind.53 Darin wird ihnen aufgetragen, aufzuschreiben und damit für die Nachgeborenen festzuhalten, wie Gott seinem Volk geholfen hat und welche Weisungen, Gebote und Mahnungen er ihnen durch seine Boten vermittelte. Diese sollten aufgeschrieben werden, weil sich ihre Bedeutung nicht in der Gegenwart erschöpfte, sondern Gottes Zukunft für sein Volk eröffnete.

Gerhard von Rad hat diesen Sachverhalt eindrucksvoll auf die Formel gebracht, dass »das Alte Testament sich nicht anders lesen [lässt] als das Buch einer ständig wachsenden Erwartung«.54 Das älteste Substrat dieses immensen Erwartungskomplexes war die Landverheißung, die sich in der Landnahme erfüllte. Aber der Bericht darüber im Josuabuch bleibt nicht bei einem Rückblick stehen, sondern verweist auf die Zukunft mit Abfall und Gehorsam, d. h. die Landnahme ist nicht das Ende, sondern ein Durchgang zu einem »neuen Exodus«, wie er dann bei Jesaja und im Neuen Testament in Erscheinung tritt. Auch Rolf Rendtorff reflektiert den Zusammenhang zwischen geschichtlicher Erfahrung, die als Offenbarung angenommen wird, und ihrer reflektierenden Verarbeitung und schriftlichen Tradierung:

»Denn die geschichtlichen Ereignisse werden ja erst dadurch zur Offenbarung Gottes, daß sie von den betroffenen Menschen als solche erfahren werden, daß diese Erfahrung verarbeitet, reflektiert, formuliert und weitergegeben wird. Wir können redlicherweise nicht einfach sagen: Gott hat sich in der Herausführung aus Ägypten offenbart, sondern wir können nur sagen: Israel hat dieses Ereignis als die grundlegende Heilstat erfahren, in der sich Gott offenbart hat als der, der er ist. Für Israel steht dieses Ereignis in einem größeren Zusammenhang: Dieser Gott ist der Gott der Väter – Abrahams, Isaaks und Jakobs –, und er ist der Gott, der Israel das Land gegeben hat, in dem es als sein Volk leben soll und in dem es die Erfahrungen, die es mit diesem Gott gemacht hat, reflektiert, formuliert und an die folgenden Generationen weitergibt, die sie ihrerseits wieder neu als ihre Erfahrung mit diesem Gott reflektieren und formulieren müssen.«55

Das bedeutet, dass verschriftete Offenbarung als Kommunikationsform in Israel als Ergebnis eines Dreischritts geglaubt und immer wieder neu erlebt wurde: Aus Offenbarung wurde Schrift, die neue Gotteserfahrungen und -begegnungen freisetzte und dadurch als »Heilige Schriften« wertgeschätzt wurden. In Israel sind die Heilige Schrift keine Ritualbücher oder bloße Gesetzessammlungen, auch keine Archivalien oder ›neutrale‹ Geschichtsbücher oder Biographien, sondern Mittel der Gottesbegegnung und der Heilsvermittlung (media salutis). Sie sind darum heilsnotwendig. Wenn also die Menschen, die Jesus begegnet sind, in ihm und durch ihn Gottes offenbarende Gegenwart erlebt haben, dann ist die Reaktion darauf die Verschriftung dieser Erfahrung, um sie für andere zugänglich zu machen. Unter dieser Voraussetzung braucht es keine ›gefühlte‹ Inspiration der Evangelisten, um zu erklären, warum Menschen sich veranlasst sehen konnten, etwas zu schreiben, von dem sie hofften, dachten, wünschten oder annahmen, dass es eine Funktion erfüllen könnte, wie es die Heiligen Schriften taten, die sie bereits kannten. Inwieweit die Evangelien bzw. ihre Verfasser diesen Selbstanspruch besaßen, kann hier nicht im Detail entfaltet werden. Blendet man diesen Aspekt jedoch aus, dann geht möglicherweise ein entscheidendes Verstehensmoment für die Genese der Evangelien verloren. So betont Ulrich Luz zu Recht, dass es die Absicht des Matthäus war, »für seine Gemeinden ein ›Buch der Genesis Jesu Christi‹ (1,1), als ein neues Buch Genesis mit bibelähnlicher Autorität zu schreiben. In ihm erzählt er eine neue, für seine Gemeinde konstitutive Grundgeschichte, die von Jesus Christus, dem Davidssohn und Abrahamssohn handelt.«56

Für Theo Heckel widerspricht dagegen der Prolog des Lukasevangeliums einem solchen Verständnis seiner Vorgängerevangelien (zu denen Markus gehörte): »Im Gegensatz zu späteren Rückgriffen auf die schriftlichen Evangelien zeigt Lk nicht allzugroße Ehrfurcht gegenüber dem Wortbestand seiner Quellen. Ein Bewußtsein, an heiligen Texten zu arbeiten, scheint dem dritten Evangelisten abzugehen.«57 Allerdings muss man unterscheiden zwischen der Absicht, einen Text zu verfassen, der seiner Funktion nach als Heilige Schrift intendiert ist, und seiner Akzeptanz als eine ebensolche durch eine Gemeinschaft. Zum einen ist Schriftwerdung im antiken Judentum schon immer ein Prozess gewesen, der über eine oder zwei Generationen ging, wie etwa das Beispiel des Buches von Jesus Sirach zeigt. Der Prolog des Enkels kann als ein Plädoyer dafür gelesen werden, diese Schrift unter die »übrigen Schriften« aufzunehmen, womit ein Anliegen verstärkt wird, das implizit möglicherweise bereits der Text des Großvaters erhebt. Aber auch das Beispiel von Jes 8,16 f. zeigt, dass ein prophetischer Text warten muss (und kann), bis er als ein solcher angenommen wird.58 Zum anderen erweist Lukas durch die insgesamt doch sehr behutsame Bearbeitung und weitgehende Bewahrung dem markinischen Text gegenüber eine erstaunliche Referenz und könnte darum als eine Form der »rewritten Bible« verstanden werden.

Ein weiterer Punkt für die Behauptung, dass die Evangelisten ihre Bücher mit der Absicht verfassten, dass diese in den Gemeinden der Jesusgläubigen in derselben Weise gelesen und gebraucht würden wie die bisherigen Heiligen Schriften Israels, ist die einfache Tatsache, dass es bereits Heilige Schriften gab, die in dieser Weise in Gebrauch waren. Diese älteren Schriften entstanden nacheinander, sie nehmen aufeinander Bezug, sie begleiteten die Geschichte Israels, in ihnen hörte Israel Gottes Stimme und Weisung. Sie sind die verdichtete Erfahrung Israels mit Gott und das Kondensat von Gottes Offenbarungshandeln in und mit Israel. Offenbarung und sie bezeugende Schriften gehören darum in Israels Geschichte zusammen. Man könnte es auch so sagen: Dem Offenbarungshandeln auf göttlicher Seite entspricht die Bezeugung und das Festhalten desselben auf der menschlichen.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist Ps 40,8: »Da sprach ich: Sieh, ich bin gekommen, in der Schriftrolle steht geschrieben, was für mich gilt.« (NZÜ) Der Beter bringt statt Brand- und Schlachtopfer eine Schriftrolle, die er im Tempel niederlegt (und Teile von Ps 40 standen wohl auf dieser Rolle). Damit verbunden bzw. genau durch die Abfassung der Schriftrolle erfolgt die Verkündigung der guten Botschaft über Gottes Gerechtigkeit vor einer großen Gemeinde (vgl. V. 10: εὐηγγελισάμην δικαιοσύνην ἐν ἐκκλησίᾳ μεγάλῃ), d. h. die Verkündigung von Gottes großen Rettungstaten (euangelizō) und ihre Bezeugung in schriftlicher Form ist hier vorgebildet. Dass Ps 40 für die ersten Christen wichtig war, geht aus Hebr 10,5–9 hervor: hier werden Teile dieses Psalms Jesus als Selbstaussage zugeschrieben, so dass er als derjenige erscheint, über den in der Schriftrolle bezeugt wurde.

Wenn es aber einen Zusammenhang zwischen Gottes Handeln und dem Festhalten desselben in Texten gibt, die zu einer heiligen Schrift werden können – und das ist die Erfahrung Israels seit über 1000 Jahren –, dann ist es m.E. folgerichtig, dass auch Gottes Handeln in Jesus in Form von Texten festgehalten wurde, die ihrem Wesen und Anspruch nach Heilige Schrift sein wollten. D. h. dass die ersten Schreiber der Sammlungen von Jesusworten und -geschichten und dann auch die Verfasser der kanonisch gewordenen Evangelien nicht einfach eine Biographie von Jesus oder sonst ein literarisches Werk über ihn schreiben wollten, sondern einen Text, der den Gemeinden, die an Jesus glaubten, in ihrer Kenntnis und ihrem Verständnis von Jesus in gleicher Weise dienlich sein konnte, wie es die Schriften von Gesetz und Propheten für Israel waren und sind. Die Evangelisten hatten eine Zukunft im Blick, in der Menschen, die Jesus nicht kannten, von ihm hören sollten. Sie schrieben also, weil sie davon ausgingen, dass in der Zukunft Menschen ihre Bücher lesen und sich dem darin verkündigten Evangelium anvertrauen würden.

Es brauchte gewiss einige Zeit, bis sich in einem Prozess, der sich historisch nur begrenzt nachzeichnen lässt, die vier Evangelien, die wir heute im Kanon haben, durchgesetzt hatten – d. h., bis die Gemeinden verstanden, dass sie in diesen vier Evangelien alles hatten, was sie zum Glauben, Leben und Sterben brauchten. Aber das ist kein Argument gegen die Annahme, dass ihre Verfasser Heilige Schrift schreiben wollten.

Am Anfang des Neuen Testaments stehen darum mit vollem Recht die vier Evangelien als »Erstlingsopfer« (s. o. Anm. 35). Was sich für heutige Leser wie eine Selbstverständlichkeit darstellt, ist das Ergebnis eines komplizierten, faszinierenden und folgerichtigen Geschehens. Die einzigartige Heils-Botschaft von Jesus hat sich in den Evangelien ihr eigenes Medium geschaffen. Die besonderen Ereignisse und vor allem diese eine Person, die in allen vier Evangelien in je verschiedener Weise im Mittelpunkt steht, ließen sich offenbar nicht anders als in etwas völlig Neuem darstellen.

Es gibt in dem Buch des Diogenes Laertios (3. Jh. n. Chr.) über »Leben und Meinungen berühmter Philosophen«, das aus lauter biographischen Darstellungen besteht, eine kleine Besonderheit, die sich ebenfalls als Hinweis auf die Singularität der Evangelien und ihr Verständnis von Jesus werten lässt. Am Ende vieler dieser Einträge steht nämlich immer der Satz: »Es hat soundsoviel Männer dieses Namens gegeben« – und dann werden diese kurz aufgezählt und biographisch bzw. chronologisch eingeordnet, um Verwechslungen zu vermeiden. Selbst Platon, der nun sicher einer der bedeutendsten Philosophen war, muss am Ende von drei anderen Personen gleichen Namens abgegrenzt werden (III 109). Aber obwohl Jesus ein sehr verbreiteter Name im 1. Jh. war, kommt dennoch keiner der Evangelisten auf die Idee, darauf hinzuweisen, dass dieser Jesus von Nazarath, von dem ihre Schrift handelt, nicht zu verwechseln sei etwa mit dem Jesus, Sohn des Hananja, der zu Beginn des jüdischen Aufstandes gegen Rom die Vernichtung Jerusalems und des Tempels weissagte. Jesus ist unverwechselbar, davon waren zumindest die Evangelisten überzeugt.

Bei aller Betonung des Neuen ist es aber wichtig festzuhalten, dass die Evangelien zwar einerseits etwas Singuläres darstellen, sich aber selbst aufs Engste zurückbinden an die schon vorhandenen Heiligen Schriften Israels. Das Neue kommt nicht unvermittelt, unvorbereitet und gänzlich aus aller Zeit und Geschichte herausfallend, sondern es steht in der Kontinuität von Gottes Handeln mit Israel, wie es die Heiligen Schriften bezeugen. Das neue Wort Gottes, das er in Jesus gesprochen hat, ist ohne das vorausgegangene Wort Gottes an Israel nicht zu hören und bleibt daher mit ihm verbunden. Darum kann es auch kein Neues Testament ohne das Alte geben, sondern nur die eine Bibel, weil Gottes Handeln nicht mit Jesus neu anfängt oder überhaupt erst beginnt. Vielmehr ist die Jesus-Geschichte das Siegel Gottes auf »Gesetz und Propheten«, wie das Alte Testament im Neuen genannt wird.

IV Die Evangelien als Heilsvermittler



Ein letzter Punkt in aller Kürze: Die neutestamentlichen Evangelien sind einzigartig, weil das Verhalten zu der darin enthaltenen Botschaft für ihre Leser und Hörer entscheidend ist im Hinblick auf die »Qualität« ihres zeitlichen und ewigen Lebens. Sie sind Gottes Wort an alle Menschen, aber als Evangelien eine gute Botschaft. Wenn die Botschaft des auferstandenen Herrn, der wiederkommen wird »zu richten die Lebenden und die Toten«, im Evangelium gehört wird, dann gilt für die Evangelien insgesamt, was Matthäus Jesus am Ende der Bergpredigt sagen lässt (7,24–27): Bestand hat das Leben (vgl. 7,14) nur – und dass für Matthäus damit die aus dem irdischen ins ewige Leben hinausführende individuelle Existenz gemeint ist, unterliegt keinem Zweifel –, wenn es »auf diese Worte« (7,24) gebaut ist, die den Hörern des Evangeliums durch das geschriebene Evangelium (re-)präsentiert werden. In Joh 6, nach der »harten Rede«, die viele veranlasste, sich von Jesus abzuwenden, bekennt Petrus dennoch: »Du hast Worte ewigen Lebens, und wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt, dass du der Heilige Gottes bist.« (6,60) Fast am Ende des Johannesevangeliums finden sich dann die Worte, die nicht nur als Schluss des vierten Evangeliums gelten können, sondern innerhalb der kanonischen Ordnung auch als Abschluss des Vier-Evangelien-Kanons (20,30 f.):59 »Noch viele andere Zeichen hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind. Diese hier aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und dadurch, dass ihr glaubt, Leben habt in seinem Namen.«

Jesus gibt denen, die an ihn glauben, das ewige Leben. Dagegen verspricht der Grammatiker Apion von Alexandria, ein Zeitgenosse von Jesus, der auch Biographien verfasste, dass er denen »Unsterblichkeit gebe, über die er etwas geschrieben habe (immortalite donari … ad quos aliqua componebat)«.60 Das ist eine Aussage, die für die Verfasser der Evangelien im Grunde unvorstellbar ist. Sie bezeugen Jesus nicht nur als Urheber ewigen Lebens, sondern als Leben in Person.61 Ihre Texte dienen dieser Botschaft, aber sie erschaffen sie nicht. Leben zu haben in seinem Namen, darum geht es. Dazu sind die Evangelien als Wort Gottes geschrieben worden.

Abstract



The ongoing discussion about the genre of the canonical Gospels, which is presented in the first part, provides the context for a fourfold arguments in favour of the singularity of the Gospels: (1) they are the first books that were called Gospels and they were never ever called something else (e. g. bioi); (2) they re-present the life of one who died but is thought to be alive now, sitting at the right hand of God and speaking to his church through them; (3) they were written from the beginning as Holy Scriptures to be used in the gather-ings of the early Jesus communities; (4) they are means of salvation insofar as the response to their message decides about the quality of the temporal and eternal life of those who read or hear them.

Fussnoten:

* Die folgenden Überlegungen gehen auf meine Antrittsvorlesung an der Internationalen Hochschule Liebenzell (5. Juni 2018) zurück und wurden seither in verschiedenen Kontexten vorgetragen.
1) Die wichtigsten Beiträge zur antiken Biographie aus jüngerer Zeit sind S. Schorn, Studien zur hellenistischen Biographie und Historiographie, BzA 345, Berlin/Boston 2018; T. Hägg, The Art of Biography in Antiquity, Oxford 2012; M. Kivilo, Early Greek Poet’s Lives. The Shaping of the Tradition, Mnemosyne 322, Leiden/Boston 2010; B. McGing/J. Mossman (Eds.), The Limits of Ancient Biography, Swansea 2006; H. Sonnabend, Geschichte der antiken Biographie. Von Isokrates bis zur Historia Augusta, Stuttgart 2003; als wichtige Quellensammlung s. F. Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker continued, Part IV: Biography and Antiquar-ian Literature, hg. v. G. Schepens, Leiden 1998 ff. (bisher sind 6 Bde. erschienen). Es wird m. E. zu wenig beachtet, dass die Anzahl der erhaltenen hellenistischen Biographien aus der Zeit vor den Evangelien sehr begrenzt ist und die am häufigsten als Parallelen herangezogenen Beispiele bei Tacitus, Sueton, Plutarch, Lukian und Diogenes Laertios alle nach den Evangelien entstanden sind.
2) H. J. Holtzmann, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie, 2. neu bearb. Aufl., hg. v. A. Jülicher u. W. Bauer, Tübingen 1911, Bd. 1, 470. Die Frage nach der literarischen Gattung der Evangelien wurde überhaupt nicht gestellt; das gilt z. B. auch noch für Th. Zahn, Einleitung in das Neue Testament, 2 Bde., Leipzig 31906/07 (Ndr. in einem Bd. Wuppertal/Zürich 1994), Bd. 2, 163–186; F. Barth, Einleitung in das Neue Testament, Gütersloh 4+51921, 173–177.
3) Als Beispiel s. H. Conzelmann/A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, UTB 52, Tübingen 142004, 37–39. Da wird noch 2004 (die erste Auflage erschien 1975) festgestellt: »Direkte außerchristliche Analogien zur neutestamentlichen Literaturgattung ›Evangelium‹ gibt es nicht, wie der Vergleich mit verwandten literarischen Gattungen, insbesondere der Biographie und der historischen Monographie, zeigt.« (38) Immerhin wird bei den Lektürevorschlägen darauf hingewiesen, dass »umstritten« sei, ob die Evangelien literarisch als Biographien anzusehen seien (39). Vgl. auch W. G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 211983, 12 f. In den Literaturnachträgen S. 552 taucht mit G. N. Stanton, Jesus of Nazareth in New Testament Preaching, MSSNTS 27, Cambridge 1974, einer der Beiträge auf, die den Weg zu den Evangelien als biographieähnlich stark vorangetrieben haben (117–136: »The Gospels and Ancient Biographical Writing«). Stanton grenzte sich dezidiert von Bultmann und Kümmel ab (117 f.), deren Darstellung er als »a quite surprisingly inaccurate assessment of ancient biographical writing« bewertet (118). Sein eigenes Ergebnis bleibt noch sehr vorsichtig: Liest man die Evangelien in ihrem antiken Kontext, dann werden aus ihnen zwar immer noch keine »biographies of Jesus, but their presentations of the life of Jesus are seen to be less distinctive than is usually believed« (125).
4) R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 91979, 4, vgl. 366: Mk stellte »Einzelgeschichten« zusammen, »die aber nicht für einen größeren literarischen Zusammenhang konzipiert waren«.
5) A. a. O., 396.
6) Vgl. D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst, TANZ 22, Tübingen 1997, 5–80.
7) Vgl. besonders M. R. Licona, Why are There Differences in the Gospels? What We Can Learn from Ancient Biography, New York 2016; C. S. Keener, Christobiography. Memory, History, and the Reliability of the Gospels, Grand Rapids 2019.
8) R. A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography, SNTSMS 70, Cambridge 1992; inzwischen ist die 3. Aufl. erschienen (Twenty-Fifth Anniversary Edition) mit einem ausführlichen Bericht über die Reaktionen, die diese Arbeit ausgelöst hat: Gospels and Biography, 2000–2018: A Critical Review and Implications for Future Research, in: ders., What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman Biography, Waco, TX 32018, I.1–I.112. Dieser Beitrag ist zusammengefasst in: The Gospels and Ancient Biography: 25 Years On, 1993–2018, in: Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospels: Continuing the Debate on Gospel Genre(s), hg. von R. M. Calhoun, D. P. Moessner u. T. Nicklas, WUNT 451, Tübingen 2020, 9–56; vgl. außerdem ders., Matthew and Gospel Genre: A Critical Review of the Last Twenty-Five Years, 1993–2018, in: The Gospel of Matthew in its Historical and Theological Context. Papers from the International Conference in Moscow, September 24 to 28, 2018, hg. v. M. Seleznev, W. R. G. Loader u. K.-W. Niebuhr, WUNT 459, Tübingen 2021, 47–73.
9) The Gospels and Ancient Biography: 25 Years On (s. Anm. 8), 33. Unter den neueren Arbeiten, die Burridge als Ausgangspunkt nehmen s. oben Anm. 7 u. J. M. Smith, Why Bios? On the Relationship Between Gospel Genre and Implied Audience, LNTS 518, London 2015; C. S. Keener/E. T. Wright (Hg.), Biographies and Jesus. What Does it Mean for the Gospels to be Biographies?, Lexington 2016; J. N. Aletti, The Birth of the Gospels as Biographies. With Analyses of Two Challenging Pericopae, AnBib Studia 10, Rom 2017; A. W. Pitts, History, Biography, and the Genre of Luke-Acts: An Exploration of Literary Divergence in Greek Narrative Discourse, BIS 177, Leiden/Boston 2019; H. K. Bond, The First Biography of Jesus. Genre and Meaning in Mark’s Gospel, Grand Rapids 2020; F. John, Eine Jesus-Vita aus flavischer Zeit: Das Markusevangelium im narratologischen Vergleich mit den Biographien Plutarchs, WUNT 480, Tübingen 2022. Weitere Literatur bei E. E. Shively, A Critique of Richard Burridge’s Genre Theory. From a One-Dimensional to a Multi-Dimensional Approach to Gospel Genre, in: Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospels (s. Anm. 8), 97–112 (98 Anm. 15).
10) Aletti, Birth (s. Anm. 9), 4.
119) E.-M. Becker, Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 194, Tübingen 2006, 52; dies., Der früheste Evangelist. Studien zum Markusevangelium, WUNT 380, Tübingen 2017. In beiden Büchern finden sich ausführliche Forschungsgeschichten, die sich kritisch mit der Biographie-These auseinandersetzen.
12) M. David Litwa, How the Gospels Became History. Jesus and Mediterranean Myths, New Haven/London 2019. Für ihn haben die Evangelisten ihre Erzählungen »in historiographical form« präsentiert »to maximize their plausibility or – what amount to the same thing – to make them function as true discourse« (12 f.).
13) Zur im englischen Sprachraum üblichen Unterscheidung zwischen »Jesusanity« und »Christianity« s. D. L. Bock u. D. B. Wallace. Dethroning Jesus: Exposing Popular Culture’s Quest to Unseat the Biblical Christ, Nashville 2008.
14) R. A. Burridge, Imitating Jesus: An Inclusive Approach to New Testament Ethics, Grand Rapids 2007, 23–31. Allerdings löst sich damit die Biographie nicht in Ethik auf. Burridge ist durchaus in der Lage, auch die soteriologisch-christologischen Aussagen zu würdigen, wenn auch darauf nicht sein Interesse liegt.
15) Bond, First Biography (s. Anm. 9), 253.
16) Z. B. als Argumentationshilfe für die Farrer-Goulder-Hypothese, s. J. Archer, Ancient Bioi and Luke’s Modifications of Matthew’s Longer Discourses, NTS 68 (2022), 76–88.
17) John, Jesus-Vita (s. Anm. 9), 44. Zur Forschungsgeschichte s. 1–44.55–62.
18) W. H. Kelber, On »Mastering the Genre«, in: Modern and Ancient Literary Criticism (s. Anm. 8), 57–76 (60). Es gibt allerdings zu denken, wenn etwas schon falsch sein soll, nur weil es »conventional« ist.
19) Damit wendet sich Kelber gegen die Position, die Graham Stanton im Vorwort zur 2. Auflage von Burridges, What are the Gospels?, so ausdrückt: »the interpretation of any writing rests on a decision about its literary genre«, G. Stanton, Foreword, in: Burridge, What are the Gospels? (s. Anm. 8), viii–ix (ix).
20) E. K. Broadhead, The Gospel of Matthew on the Landscape of Antiquity, WUNT 378, Tübingen 2017. Broadhead sieht in der Suche nach einem historischen Autor für das erste Evangelium eine Form der Machtausübung über den Text durch die Auslegenden. Indem sie einen Autor nach ihren Vorstellungen schaffen, können sie diesem ihre eigenen Intentionen zuschreiben und gewinnen mit Hilfe dieser historischen Fiktion Kontrolle über die Tradition. Dasselbe geschieht, wenn man die Tradition, verstanden als »œuvre mouvante – as work in process« (48 f.), textlich zu fixieren versucht. Denn damit wird etwas beendet, das zu keinem Abschluss kommen soll. Wer immer das tat und tut (bis hin zu den Editoren der gegenwärtigen textkritischen Ausgaben), bemächtigt sich der Tradition und übt damit Herrschaft aus; vgl. dazu meine Rezension in ThLZ 146 (2021), 553–557.
21) Zur Geschichte seiner Entstehung s. Th. K. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium, WUNT 120, Tübingen 1999; M. Hengel, Die Evangelienüberschriften, SHAW.PH 1984/3, Heidelberg 1984 = ders., Jesus und die Evangelien. Kleine Schriften V, hg. v. C.-J. Thornton, WUNT 211, Tübingen 2007, 526–567; ders., Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus, WUNT 224, Tübingen 2008; Ch. Markschies, Haupteinleitung, in: ders./J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. I/1: Evangelien und Verwandtes, Tübingen 2012, 1–180 (4.38–47).
22) Vgl. dazu Scott D. Charlesworth, Early Christian Gospels: Their Production and Transmission (Papyrologica Florentina), Florenz 2016, der aufgrund von Manuskriptfunden ein Verhältnis von 35:8 im 2. und 3. Jh. zugunsten der kanonischen Evangelien berechnet hat. Auch zeige sich in der Qualität der Abschriften, dass die kanonischen Texte mit mehr Sorgfalt kopiert wurden als die nichtkanonischen; ihr Schriftbild lässt auf öffentliche Verlesung und nicht nur Privatlektüre schließen (vgl. zu diesem nur schwer zugänglichen Buch auch die Rezension von J. K. Elliott, in: NovT 60 [2018], 94–98); eine erkennbare Unterscheidung in der Behandlung von kanonischen Evangelien und nichtkanonischen Texten, die ihnen ähneln oder sie imitieren, bestätigt auch Charles E. Hill, A Four-Gospel Canon in the Second Century? Artifact and Artifiction, EC 4 (2013), 1–24; für Gegenstimmen zu dieser Position und weiterer Literatur s. S. Gathercole, The Gospel and the Gospels. Christian Proclamation and Early Jesus Books, Grand Rapids, MI 2022, 3–6; außerdem L. W. Hurtado, Destroyer of the Gods: Early Christian Distinctiveness in the Roman World, Waco, TX 2016, 120–126, der nicht nur die Analogielosigkeit der kanonischen Evangelien hervorhebt (122 f.), sondern auch auf die literarischen Innovationen der paulinischen Briefe und der Offenbarung hinweist.
23) Vgl. Ch. Markschies, B. Außerkanonische Evangelien: Einleitung, in: AcA I/1 (s. Anm. 21), 343–352 (344 f.).
24) Die wichtigsten Belege sind zusammengestellt in: G. Strecker/U. Schnelle (Hgg.), Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, Band II/1: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, Berlin/New York 1996, 7–10; U. Schnelle unter Mitarb. v. M. Labahn und M. Lang (Hg.), Bd. I/1.1: Texte zum Markusevangelium, Berlin/New York 2009, 4–9. Umfassend ist das Vorkommen des εὐαγγ*-Sprachgebrauchs in der jüdischen und nichtjüdischen Welt dargestellt bei J. Schniewind, Euangelion. Ursprung und erste Gestalt des Begriffs Evangelium, Darmstadt 1970 (= Nachdruck der beiden einzigen veröffentlichten Teile einer größeren Arbeit, die nicht vollendet wurde: BFCTh II/13, Gütersloh 1927 u. BFCTh II/25, Gütersloh 1931). Vgl. außerdem R. Deines, Evangelien, neutestamentliche, ELThG2, 1 (2017), 1840–1851.
25) Das Nomen εὐαγγέλιον ist in der jüdischen Literatur insgesamt selten: in der LXX kommt es überhaupt nur einmal (im Plural) in 2Sam 4,10 vor (für die »gute Nachricht« für David vom Tod Sauls), bei Philo fehlt es, und auch Josephus hat nur drei Belege (Bell 2.420; 4.618.656), von denen einzig der erste im Plural ist.
26) Text in Auswahl in: Neuer Wettstein (s. Anm. 24), II/1, 7–10; C. A. Evans, Mark’s Incipit and the Priene Calendar Inscription: From Jewish Gospel to Greco-Roman Gospel, JGRChJ 1 (2000), 67–81.
27) Vgl. P. Borgen, Emperor Worship and Persecution in Philo’sIn Flaccum and De Legatione ad Gaium and the Revelation of John, in H. Cancik/H. Lichtenberger/P. Schäfer (Hgg.), Geschichte – Tradition – Reflexion (FS M. Hengel), 3 Bde., Tübingen 1996, Bd. 3, 493–509 (498 f.507).
28) Das zeigen die Beispiele bei Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 6), 217–227, wo es um »das Konzept der Präsenz des maßgebenden Menschen im eigenen Leben« geht. Die Art und Weise, wie ein regierender Kaiser alssancte pater angerufen werden kann, zeigt der Beginn derArgonautica des römischen Dichters und Zeitgenossen Vespasians, Gaius Valerius Flaccus (gestorben um 90), der als Beistand für sein Werk zuerst Apollo und dann Vespasian anfleht, dass er ihm freundlich beistehe: »Und du (Vespasian), der du im Hinblick auf die Eröffnung des Meeres größeren Ruhm (als die Argonauten) hast, seit deine Segel der britannische Ozean antrieb, der vorher die aus Phrygien stammenden Iulier scheitern ließ: entreiße mich der Masse der Menschen und der von Wolken bedeckten Erde, ehrwürdiger Vater, und erzeige deine Gunst dem, der bewunderungswürdige Taten alter Helden besingt.« Zur Übersetzung und Erklärung s. E. Lefèvre, Das Prooemium der Argonautica des Valerius Flaccus. Ein Beitrag zur Typik epischer Prooemien der römischen Kaiserzeit, AAWLM 6/1971, Stuttgart 1971, 9; zur Einordung u. weiterer Literatur U. Eigler, C. V. Flaccus Setinus Balbus, DNP 12/1 (2002), 1115 f.
29) Hägg, Biography (s. Anm. 1), 2 f.
30) So W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1Kor 15,1–16,24), EKK VII/4, Düsseldorf/Neukirchen-Vluyn 2001, 30.
31) Schrage, Korinther (s. Anm. 30), 28. Für weitere bekenntnisartige Formulierungen, die ausdrücklich das »Evangelium« nennen, s. Eph 1,13; 2Tim 1,10; 2,8.
32) Gemeint ist damit »die Grundlegung des Evangeliums« durch Jesus, aber das ist nur der »Anfang«, weil auch die Zeit der Verkündigung des Evangeliums zwischen Auferstehung und Parusie, auf die das Markusevangelium vielfach vorausblickt, zum Evangelium gehört. Evangelium ist darum nicht nur »Erinnerung an das vergangene Jesusgeschehen«, sondern zugleich »eine Erinnerung an die Zukunft«, so Heckel, Evangelium (s. Anm. 21), 54 f. (das zweite Zitat bei Heckel ist von P. Pokorný übernommen); ähnlich Becker, Markus-Evangelium (s. Anm. 11), 102–111.298. Lukas nimmt diesen Gedanken auf, indem die Apostelgeschichte das zweite Kapitel nach dem Anfang mit Jesus auch noch schreibt.
33) Zu den Evangelienüberschriften s. Hengel, Evangelienüberschriften (s. Anm. 21); ders., Evangelien (s. Anm. 21), 87–95; Heckel, Evangelium (s. Anm. 21), 207–218; Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 21), 46 f.; A. D. Baum, Einleitung in das Neue Testament, Bd. 1: Evangelien und Apostelgeschichte, Gießen 2017, 79–88; G. V. Allen, Titles in the New Testament Papyri, NTS 68 (2022), 156–171.
34) Aber schon »der Didachist kennt seine Vorlage [gemeint ist das MtEv] bereits unter dem Titel ›Evangelium‹«, so Heckel, Evangelium (s. Anm. 21), 276, mit Verweis auf Did 8,2; 11,3; 15,3 f.; dazu und weiteren Belegen, insbesondere aus 2Clem s. Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 21), 39–41; J. A. Kehlhoffer, »How Soon a Book« Revisited. ΕΥΑΓΓΕΛΙΟΝ as a Reference to »Gospel« Materials in the First Half of the Second Century, ZNW 95 (2004), 1–34 = ders., Conceptions of »Gospel« and Legitimacy in Early Christianity, WUNT 324, Tübingen 2014, 39–75; ders., »Gospel« as a Literary Title in Early Christianity and the Question of What Is (and Is Not) a »Gospel« in Canons of Scholarly Literature, in: J. Frey/J. Schröter (Hgg.), Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen, WUNT 254, Tübingen 2010, 399–422.
35) Johanneskommentar I 2 (12). Origenes beschreibt in einem langen Einleitungsteil seines Kommentars die inhaltliche und literarische Form des »Evangeliums« (I 2 [12]–I 15 [88]), die er auch als Gattung gegenüber den anderen Schriften des neutestamentlichen Kanons und im Verhältnis zum Alten Testament profiliert. Dabei reflektiert er auch, wie es von der Botschaft zum Buch gekommen ist. Zu Text und Übersetzung s. H. G. Thümmel, Origenes’ Johanneskommentar Buch I–V, STAC 63, Tübingen 2011, 28–51.
36) Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 21), 43.
37) Origenes, Cels. 2,13, u. dazu H. E. Lona, Die ›wahre Lehre‹ des Kelsos, KfA Ergänzungsbd. 1, Freiburg 2005, 130.
38) Nach Kelsos »formen einige von den Gläubigen das Evangelium nach der ersten Fassung dreifach, vierfach und vielfach um«. Nach Lona, Kelsos (s. Anm. 37), 140, ist damit »wahrscheinlich auf die drei synoptischen Evangelien, auf das Johannesevangelium und auf andere nicht kanonische Evangelien« angespielt.
39) Vgl. die zweisprachige Ausgabe: Hieronymus, De viris illustribus – Berühmte Männer. Mit umfassender Werkstudie, hg., übers. u. kommentiert von C. Barthold, Mühlheim 22013. Zur Gattung von Hieronymus’ Werk und seinen Vorgängern s. ebd. 93–104; Hägg, Biography (s. Anm. 1), 69.
40) Frickenschmidt, Evangelium (s. Anm. 6), 5: »Schon in frühkirchlicher Zeit wurde den Evangelien vor allem die Funktion zugewiesen, die Stimme Jesu zu Gehör zu bringen.« (Hhg.RD); Hengel, Evangelien (s. Anm. 21), 112–120.
41) Darum ist die häufig zu lesende Fragestellung, was jemand über das literarische Genre gedacht haben mag, der »zufällig« auf ein Evangelium gestoßen ist, für das Selbstverständnis der Evangelienschreiber nebensächlich, weil solche Zufallsleser bei der Abfassung keine Rolle gespielt haben. »The authors wrote for other Christian readers and clearly aimed to have their works deemed useful to fellow religionists.« Und weiter: »the Gospels were literary works in the service of serious religious purposes« (L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids, 2003, 273). Anders Becker, Evangelist (s. Anm. 11), 9, nach der das Markusevangelium den frühchristlichen »Buchmarkt« im Hinblick auf »erzählende Literatur« eröffnet, der ihres Erachtens »schnell wachsen, ja boomen« sollte.
42) Hurtado, Lord Jesus Christ (s. Anm. 42), 276.
43) Markschies, Außerkanonische Evangelien (s. Anm. 23), 350.
44) M. Hengel, Probleme des Markusevangeliums, in: P. Stuhlmacher (Hg.), Das Evangelium und die Evangelien, WUNT 28, Tübingen 1983, 221–265 = ders., Jesus und die Evangelien (s. Anm. 21), 430–477 (438f.476); L. Hartmann, Das Markusevangelium, »für die lectio sollemnis im Gottesdienst abgefaßt«?, in: Geschichte – Tradition – Reflexion (s. Anm. 27), 147–171. In diesem Aufsatz wendet sich Hartmann in stetig kritischer Ausseinandersetzung mit Burridge gegen die bioi-These. Stattdessen sieht er im Mk-Evangelium einen narrativen Text, »der für den gottesdienstlichen Gebrauch und für den daran anknüpfenden Unterricht abgefaßt worden war« (156).
45) Zum Stichwort »kerygmatische Biographie« s. Hengel, Evangelien (s. Anm. 21), 90, aufgenommen von Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 21), 32. Für die Evangelien als kerygmatische Geschichtsschreibung s. Becker, Evangelist (s. Anm. 11), 458 Register s. v. Kerygma. Für sie ist nicht nur die Biographie mit ihrem Fokus auf die Etablierung eines ethischen Exempels »eine Beschränkung« (Markusevangelium [s. Anm. 11], 43), sondern auch die antike Geschichtsschreibung ist letztlich »inkommensurabel« mit dem eschatologischen Fokus des Markus, weshalb dieser in Wirklichkeit »einen eigenen Typus« repräsentiert, der am besten als »Evangelium« bezeichnet wird (ebd. 410).
46) Hengel, Evangelien (s. Anm. 21), 158 Anm. 456. Ausführlich wird dieser kerygmatische Ansatz im Detail nun nachgewiesen durch Gathercole, Gospel (s. Anm. 22), der als die besonderen »›kerygmatic themes‹ […] Jesus’s messiahship, his saving death and resurrection and his fulfillment of scripture« (12) identifiziert. Eine Untersuchung ihrer Funktion für die kanonischen und nichtka-nonischen Evangelien kommt zu dem Ergebnis, dass die kanonischen Evangelien »are far closer to one another theologically than most of the noncanonical Gospels are to them«.
47) Zur gegenseitigen Beeinflussung mündlicher und schriftlicher Traditionsfixierung s. E.-M. Becker, Literarisierung und Kanonisierung im frühen Christentum. Einführende Überlegungen zur Entstehung und Bedeutung des neutestamentlichen Kanons, in: dies./S. Scholz (Hgg.), Kanon in Konstruktion und Dekonstruktion. Kanonisierungsprozesse religiöser Texte von der Antike bis zur Gegenwart: Ein Handbuch, Berlin/Boston, 2012, 389–397.
48) Zur Wiederaufnahme der Frage nach der Parusieverzögerung s. N. T. Wright, Hope Deferred? Against the Dogma of Delay, Early Christianity 9 (2018), 37–82.
49) Vgl. R. Deines, Revelatory Experiences as the Beginning of Scripture: Paul’s Letters and the Prophets in the Hebrew Bible, in: C. Werman (Hg.), From Author to Copyist: Essays on the Composition, Redaction, and Transmission of the Hebrew Bible in Honor of Zipi Talshir, Winona Lake 2015, 303–335.
50) S. dazu P. Stuhlmacher, Anamnese – Eine unterschätzte hermeneutische Kategorie, in: W. Härle/M. Heesch/R. Preul (Hgg.), Befreiende Wahrheit (FS E. Herms), MThSt 60, Marburg 2000, 23–38 = ders., Biblische Theologie und Evangelium: Gesammelte Aufsätze, WUNT 146, Tübingen 2002, 191–214 (193–197).
51) Zur Begründung des Endgültigen: Die Zukunftserwartungen in den Evangelien unterscheiden sich von denen der Propheten, indem die Zukunft den bringt, der schon da war und den sie schon kennen. Die eschatologischen Erwartungen sind an Jesus gebundene, d. h. der, der zukünftig der ganzen Welt sichtbar offenbar sein wird, ist derselbe, den die Evangelien bezeugen. Es werden zwischen der Epiphanie Jesu im Fleisch und seiner Parusie in Herrlichkeit keine neuen heilsgeschichtlich relevanten Offenbarungen mehr erwartet.
52) H. S. Reimarus, Apologie oder Schutzschrift fuer die vernuenftigen Verehrer Gottes, hg. v. Gerhard Alexander, 2 Bde, Frankfurt am Main, 1972, II, 523.
53) Der erste Schreibbefehl (nach der kanonischen Chronologie) ergeht an Mose, den Gott auffordert, den Sieg über die Amalekiter »zur Erinnerung in ein Buch zu schreiben« (Ex 17,14). Erinnerung und Schriftlichkeit gehören in der biblischen Literatur eng zusammen, aber das bedeutet nicht, dass die Erstverschriftungen bereits kanonisch sein müssen. Denn die in Ex 17,14 genannte Schrift ist nicht erhalten. Völlig ungeachtet der historischen Vorgänge zeigt dies, dass die biblische Endredaktion Quellen und literarische Entwicklungen zu integrieren vermag.
54) G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments, 2 Bde., München 1958/1960, Bd. 2, 329, und dazu B. Janowski, Vergegenwärtigung und Wiederholung. Anmerkungen zu G. von Rads Konzept der »Heilsgeschichte«, in: J. Frey/S. Krauter/H. Lichtenberger (Hgg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, WUNT 248, Tübingen 2009, 37–62.
55) R. Rendtorff, Offenbarung und Geschichte. Partikularismus und Universalismus im Offenbarungsverständnis Israels, in: J. J. Petuchowski/W. Stolz (Hgg.), Offenbarung im jüdischen und christlichen Glaubensverständnis, QD 92/Weltgespräch der Religionen 7, Freiburg 1981, 37–49 = ders., Kanon und Theologie, Neukirchen-Vluyn 1991, 113–122 (122).
56) U. Luz, Die Geburtsgeschichten Jesu und die Geschichte, in: P. von Gemünden/D. G. Horrell/M. Küchler (Hgg.), Jesus – Gestalt und Gestaltungen (FS G. Theißen), NTOA 100, Göttingen 2013, 169–191 (184). Zu meinem eigenen Versuch (mit weiterer Literatur) s. R. Deines, Did Matthew Know He was Writ-ing Scripture?, European Journal of Theology 22 (2013), 101–109 u. 23 (2014), 3–12.
57) Heckel, Evangelium (s. Anm. 11), 276.
58) Mit diesen Versen schließt die »Immanuelschrift«, die »hier die Form eines schriftlichen Dokumentes« erhält, »das seine Wahrheit noch unter Beweis stellen wird«, so W. A. M. Beuken, Jesaja 1–12, HThK.AT, Freiburg 2003, 215. Zu Umfang und Abgrenzung der »Immanuelschrift« s. 130.
59) Heckel, Evangelium (s. Anm. 21), 105–218; Baum, Einleitung (s. Anm. 33), 713–769.
60) J. Radicke, Imperial and Undated Authors = Felix Jacoby, Die Fragmente der griechischen Historiker continued, IVA: Biography, hg. v. G. Schepens, Fasz. 7, Leiden 1999, 23 (Nr. 22). Zu dem verbreiteten literarischen Topos, dass »poetry […] has the power to confer immortality on its objects“ s. ebd. 25 Anm. 12 mit weiteren Belegen.
61) Vgl. Mt 25,46: Das letzte Wort von »allen diesen Reden, die Jesus vollendet hatte« (Mt 26,1), ist »ewiges Leben«.
1) Vgl. dazu die Ausführungen in: Internationale Theologische Kommission, Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche (2.3.2018) (VApS 215), Bonn 2018.
2) Vgl. www.synod.va.
3) Satzung des Synodalen Wegs, Art. 11 (5): https://www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Dokumente_Reden_Beitraege/Satzung-des-Synodalen-Weges.pdf.
4) Die MHG-Studie ist nach den Standorten der beteiligten Forschungsinstitute benannt. Mitgewirkt haben Wissenschaftler des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim, des Instituts für Kriminologie der Universität Heidelberg sowie des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg und der Professur für Kriminologie, Jugendrecht und Strafvollzug an der Universität Gießen. Die gesamte Studie ist auf Deutsch hier zugänglich: www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf; eine englischsprachige Zusammenfassung der Ergebnisse hier: www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-eng-Endbericht-Zusammenfassung-14-08-2018.pdf.
5) Dieses Feld wird erst in jüngerer Zeit bearbeitet, vgl. dazu den autobiographischen Bericht von Doris Wagner [Reisinger], Nicht mehr Ich. Die wahre Geschichte einer jungen Ordensfrau, Wien 2014; Dies., Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche (Freiburg/Br.: Herder, 2019); Barbara Haslbeck/Regina Heyder/Ute Leimgruber/Dorothee Sandherr-Klemp (Hgg.), Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020; Hanna A. Schulz, Bei euch soll es nicht so sein. Missbrauch geistlicher Autorität (Ignatianische Impulse 94), Würzburg 2022; Stephanie Butenkemper, Toxische Gemeinschaften. Geistlichen und emotionalen Missbrauch erkennen, verhindern und heilen, Freiburg/Br. 2023.
6) Drei der vier Themen – Macht, Priester, Sexualität – waren bereits in der MHG-Studie benannt worden. Das vierte Thema – Frauen in der Kirche – hatte das ZdK eingebracht und seine Behandlung zur Bedingung eines gemeinsam verantworteten synodalen Prozesses gemacht.
7) Vgl. z. B. Birgit Aschmann (Hg.), Katholische Dunkelräume. Die Kirche und der sexuelle Missbrauch, Paderborn 2022; Thomas Bahne (Hg.), Verletzbarkeit des Humanen. Sexualisierte Gewalt an Minderjährigen im interdisziplinären Diskurs, Regensburg 2021; Thomas Großbölting, Die schuldigen Hirten. Geschichte des sexuellen Missbrauchs in der Kirche, Freiburg/Br. 2022; Doris Reisinger (Hg.), Gefährliche Theologien. Wenn theologische Ansätze Machtmissbrauch legitimieren, Regensburg 2021; Matthias Remenyi/Thomas Schärtl (Hgg.), Nicht ausweichen. Theologie angesichts der Missbrauchskrise, Regensburg 2019.
8) Vgl. Mirjam Gräwe/Hendrik Johannemann/Mara Klein (Hgg.), Katholisch und queer. Eine Einladung zum Hinsehen, Verstehen und Handeln, Paderborn 2021; Thomas Hanstein/Hiltrud Schönheit/Peter Schönheit (Hgg.), Heillose Macht. Von der Kultur der Angst im kirchlichen Dienst, Freiburg/Br. 2022.
9) Vgl. Philippa Rath (Hg.), »… weil Gott es so will«. Frauen erzählen von ihrer Berufung zur Diakonin und Priesterin, Freiburg/Br. 2021.
10) Alle nötigen Informationen zum Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland, zu den Beteiligten, zu Prozeduren und Abstimmungsergebnissen, sowie Dokumente, Begleittexte und Diskussionsbeiträge sind in deutscher Sprache sowie (teilweise) in englischer, italienischer und spanischer Übersetzung hier zu finden: https://www.synodalerweg.de.
11) Alle Texte sind samt Abstimmungsergebnissen hier einzusehen: https://www.synodalerweg.de/dokumente-reden-und-beitraege#c4376. Eine leicht zugängliche Übersicht auch hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Synodaler_Weg#Beschl%C3%BCsse.
12) Vgl. dazu das Themenheft der Herder Korrespondenz »Weltkirche im Aufbruch. Synodale Wege« (September 2022), das auch in englischer (www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Materialien/HerderThema-SW-ENG_UniversalChurchinMotion-SynodalPaths.pdf) und italienischer (www.synodalerweg.de/fileadmin/Synodalerweg/Materialien/HerderThema-SW-ITA_La-chiesa-universale-in-movimento-Cammini_sinodali.pdf) Sprache zugänglich ist.