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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

234-237

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dieckmann, Detlef, Dietzfelbinger, Daniel, Kühnbaum- Schmidt, Kristina, u. Christoph Meyns [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Führen und Leiten in der Kirche. Ein Handbuch für die Praxis. Mit einer Einleitung von Ralf Meister.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023. 426 S. m. 203 farb. Abb. u. 16 farb. Tafeln. Kart. EUR 40,00. ISBN 9783525630662.

Rezensent:

Matthias Sellmann/Björn Szymanowski

»Führung« in der Kirche ist konfessionsübergreifend in aller Munde – meist im Kontext von Ursachenanalysen der aktuellen Kirchenkrise. Denn diese, so die fast einhellige Diagnose, ist auch und besonders eine Krise kirchlicher Führung. Dabei ist mittlerweile völlig klar: Zur wirksamen Krisenbearbeitung braucht es nachhaltige Investitionen in die Führungskompetenz kirchlicher Verantwortungsträger. Mit dem Handbuch »Führen und Leiten in der Kirche« legen die Herausgeber Detlef Dieckmann, Daniel Dietzfelbinger, Christoph Meyns und die Herausgeberin Kristina Kühnbaum-Schmidt ein Werk in evangelischer Perspektive vor, das diesem Anspruch folgt.

Sofort zu Beginn wird der Anspruch an das Werk formuliert: Es ist gerade nicht beabsichtigt, »Richtlinien für das kirchliche Führungshandeln aufzuzeigen« (7); es ist kein »Lehrbuch, sondern ein ›Lernbuch‹ […] unvollständig und unabgeschlossen« (8). Man will »Haltungen, Methoden und Inhalte« (8) weitergeben – und dies insbesondere an Kirchenleitende der mittleren Ebene.

Bereits der Blick in das Inhaltsverzeichnis lässt mit insgesamt 28 kompakten Beiträgen eine Ahnung davon aufkommen, dass den Herausforderungen – auch und gerade kirchlichen Führungshandelns – monodimensional nicht adäquat zu begegnen ist. Dem entspricht ein beachtliches Themenportfolio, das, wie gesagt, ohne systematische Strukturierung angeboten wird, aber im Großen und Ganzen den folgenden Themenfeldern zugeordnet werden kann:

So trifft man im Führungs-»Lernbuch« erstens selbstverständlich auf Artikel führungstheoretischer Natur. Ohne diesen Anspruch selbst zu erheben, nimmt das Konzept des agilen Führens im ersten Artikel des Buches durch dessen exponierte Stellung faktisch die Rolle einer impliziten Leitheuristik ein. Agile Führung, die, so Daniel Dietzfelbinger, angesichts der sog. VUKA-Welt unumgänglich sei, beginne bei der Arbeit an der »eigenen Haltung« (18) und münde in die Befähigung von Mitarbeitenden, »so eigenständig wie möglich zu arbeiten« (20). Dieser Aspekt wird von Dietzfelbinger in einem späteren Beitrag (Artikel 8) durch eine werteorientierte Perspektive flankiert. Christoph Gerken, Eva Hillebold und Christopher Scholtz liefern einen organisationstheoretischen Zugang (Artikel 19). Sie bearbeiten die Frage nach der (Un-)Steuerbarkeit und (Un-)Verfügbarkeit von Organisationen. Ihre systemisch geprägten Ausführungen verbinden sie mit dem Gedanken der Unverfügbarkeit Gottes und votieren für eine »komplexitätsadäquate Leitung« (299) kirchlicher Organisationen. Tilmann Kingreen stellt neuere Entwicklungen in der Personalberatung vor und lotet überdies ihren Wert für kirchenentwicklerische Prozesse aus (Artikel 20).

Zweitens begegnen theologisch-hermeneutische Beiträge: Sabine Schmidtke etwa betrachtet das Amt aus lutherischer Perspektive unter besonderer Berücksichtigung des allgemeinen Priestertums (Artikel 2). Horst Gorski bietet eine Typologie der Kirchenleitung für die Einordnung in die Tradition evangelischer Leitungsmodelle (Artikel 11). Christoph Meyns blickt in kirchentheoretischer Absicht auf ökonomische und systemtheoretische Theorien als Wahrnehmungshilfen für das eigene Führungshandeln (Artikel 12). Die geistliche Dimension des Leitens steht in den Analysen von Detlef Dieckmann im Vordergrund (Artikel 14). Heinrich Bedford-Strohm führt schließlich in die Öffentliche Theologie ein (Artikel 18).

Zwei Autorengruppen widmen sich arbeitsrechtlichen Aspekten: Michael Ahme und Renate Schulze dem Dienstrecht (Artikel 5) und Kerstin Lammer der Spannung zwischen Seelsorge und Dienstvorgesetztenverhältnis (Artikel 23). Auf die steigende Relevanz von Öffentlichkeitsarbeit für die Führungspraxis machen in je einem Beitrag Henrike Müller, Günter Saalfrank und Oliver Vorwald aufmerksam (Artikel 15–17).

Ein großer Anteil von Artikeln behandelt Querschnittsthemen, die jeweils spezifische Herausforderungssituationen in den Blick nehmen. Neben Ausführungen über Dimensionen und Haltungen beruflicher Bilanzierung (Artikel 4 von Tilman Kingreen) finden sich Beiträge zum digitalen Wandel in Gesellschaft und Kirche (Artikel 6 von Christina Costanza), zum Umgang mit eigenen und fremden Grenzen (Artikel 10 von Anne Grohn und Heidrun Miehe-Heger) sowie sexualisierter Gewalt (Artikel 24 von Alke Arns und Helge Staff), zur Herausforderung des Leitens in zweiter Reihe (Artikel 25 von Regina Fritz) und zur Bewältigung von Stress im beruflichen (Führungs-)Alltag (Artikel 26 von Andreas Weigelt).

Die relative Mehrheit der Beiträge zielt schließlich auf das, was man als Handlungskompetenz bezeichnen kann. Diese richten sich entsprechend auf Wissensbereiche, die eng mit der Bewältigung von (recht weit zu fassenden) Führungsaufgaben verbunden sind. Lesern und Leserinnen wird darin vermittelt, wie sie im kirchenleitenden Amt begeisternd auftreten (Artikel 3 von Felix Ritter), mit Freiwilligen zusammenarbeiten (Artikel 7 von D. Dietzfelbinger), als Leitungsverantwortliche Gespräche führen (Artikel 9 von Stefan Reimers) und predigen (Artikel 22 von Alexander Deeg), mit Konflikten umgehen (Artikel 13 von Andreas Herrmann) oder Mitarbeitendengespräche zur professionellen Persönlichkeitsentwicklung nutzen können (Artikel 21 von Birgit Klostermeier). In den letzten beiden Artikeln des Bandes werden systemischer Organisationswandel als kommunikative Herausforderung (D. Dietzfelbinger) und Visitationen als Leitungshandeln betrachtet (Jan Peter Grevel).

Die Anlage des Handbuchs hat enorme Stärken, provoziert gerade in der Bedienung dieser Stärken aber auch zwei wichtige Nachfragen. Zunächst: Das positive Spezifikum des Handbuches ist sicher dessen außerordentlich hohe Praxisorientierung. Zwar ist sie in unterschiedlichen Graden realisiert – das Spektrum reicht von theoretischen Einführungen in theologische Großdiskurse bis hin zu Texten mit Schritt-für-Schritt-Anleitungscharakter. Fast durchgängig finden sich aber transfer- und anwendungsorientierte Handlungsempfehlungen (wie z. B. zehn ironisch gemeinte Tipps zur Erfolgsvermeidung) und Aufgaben zur Selbstreflexion. Das Handbuch ist also in der Tat nicht nur ein Lehrbuch. Im Gegenteil: Gepaart mit zahlreichen grafischen Visualisierungen und vielen Materialien zum Selbststudium lädt es niederschwellig und konsequent begleitet zur praktischen Erprobung des Gelesenen ein.

Allerdings erschwert der redaktionelle Verzicht auf formale Rubriken zur thematischen Ordnung der Stoffgebiete die Navigation durch das Buch. Dass die Artikel – wie bereits deutlich geworden sein dürfte – ganz verschiedene inhaltliche wie formelle Aspekte behandeln, verstärkt diesen Effekt. Dadurch entsteht mitunter der Eindruck einer eher losen Sammlung von Themen, die von den Herausgebern für kirchliche Führung als bedeutsam erkannt worden sind. Man fragt sich bei der Lektüre mitunter, ob nicht schon recht viel Führungskompetenz vorhanden sein muss, um den Anregungen in beabsichtigter Weise zu folgen. Und: ob es nicht gerade dem hektischen Alltag von Führenden widerspricht, nur situativ und »zwischendurch« mit Vielfalt angesprochen zu werden. Ob nicht gerade ein systematisch vorgetragener Ansatz mehr Selbst- und Sachreflexion bei Führungskräften hervorrufen würde?

Von dem Ansatz eines »Prinzips Vielfalt« (8) ist auch die Rekonstruktion des zugrunde gelegten Führungsverständnisses betroffen. Der Versuch einer einheitlichen Definition fehlt. Das Gesamt der Artikel lässt aber ein bestimmtes Profil erahnen: Führung in der Kirche wird vor allem personal gedacht. Im Zentrum stehen in ihrer Haltung und ihrem Charisma geschulte Persönlichkeiten, die andere im Rahmen des systemisch Möglichen durch direkte, personale Interaktionen mit seelsorglich-geistlichem Effet führen. Da ein personalisiertes Führungsverständnis in den Kirchen weit verbreitet ist, überrascht der Befund nicht. Allerdings gerät dadurch eine bedeutende führungswissenschaftliche Weiterentwicklung in den Hintergrund: die Ergänzung des personalen Zugangs um den organisationalen. Zwar wird durchweg registriert, dass Führungskräfte in Strukturen und (nicht-triviale) Systeme eingebettet sind. Dass Führung aber auch die Gestaltung der organisationa-len Kontexte umfassen muss, wird im Handbuch weder über die Themenzuschnitte (s. o.) abgebildet noch als wichtige führungsbezogene Handlungsqualität kommuniziert. Aus den Managementwissenschaften bekannte und in der Organisationspraxis bewährte Konzepte und Tools etwa zur strategischen Zieldefinition, Entscheidungsfindung oder Personalentwicklung sucht man vergebens. In einigen Beiträgen stoßen diese sogar auf reflexhafte Abwehrhaltungen; auch das bedauerlicherweise eine sehr bekannte Routine in Kirche und Theologie.

Positiv gewendet bedeutet das: Mit dem Handbuch »Führen und Leiten in der Kirche« ist ein praxisnahes und durch die berufliche Expertise zahlreicher Autoren und Autorinnen verbürgtes »Lernbuch« auf dem Markt, das hermeneutische Orientierungslinien, theoretisches Hintergrundwissen und methodisches Rüstzeug anbietet, um die eigene Führungspersönlichkeit in kirchlichen Kontexten zu trainieren – eine Gelegenheit, die auch in der katholischen Führungswelt kräftig genutzt werden sollte.