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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

228-230

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kleffmann, Tom

Titel/Untertitel:

Der Römerbrief des Paulus. Eine Interpretation in systematisch-theologischer Absicht.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2022. X, 331 S. Kart. EUR 89,00. ISBN 9783161619021.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

In Zeiten beständiger Abnahme von Bibelbewusstsein und Bibelbezug in der Systematischen Theologie – einem Phänomen, das weitreichende Auswirkungen auf theologische und sozialethische Diskurse bis hin zu Verlautbarungen der Kirchen hat (s. nur zuletzt die Stellungnahme des Rates der EKD zur »Regelung vom Schwangerschaftsabbruch« vom 11. Oktober 2023; vgl. die diesbezügliche kritische Replik von U. H. J. Körtner, »Getrennte Wege«, in: Zeitzeichen; Körtner spricht hier von einer »Theologieabstinenz« des Papiers, die sich u. a. auch in mangelndem Bibelbezug manifestiere) – ist der hier zu besprechende Band nicht hoch genug zu schätzen. Sein Verfasser Tom Kleffmann, Professor für Systematische Theologie an der Universität Kassel, versteht den Römerbrief als »die erste Theologie des Christentums« (V) und sucht – unter Verweis auf Karl Barths wirkmächtige Römerbriefauslegung vor gut 100 Jahren – einen Weg zu zeichnen, der »aus den philosophisch-theologischen Metasystemen zurück zu den grundlegenden Verständnisproblemen am Ursprung des Glaubens an Christus« (ebd.) führt.

Mit Hinweis darauf, wie sich die »reformatorische Theologie über weite Strecken als Wiederentdeckung und Neuinterpretation des Römerbriefes darstellte« (4), möchte K. »die Zusammenarbeit von Exegese und systematischer Theologie … beleben« (8). Seine Interpretation des Röm ist so angelegt, dass sie – unter Heranziehung des Galater- und Römerbriefs (17) – nach dem »Skopus einer Interpretation in systematischer Absicht« fragt (8). Damit ist gemeint: K. sucht – durchaus im Sinne Luthers –, den Zusammenhang darzulegen, der die Ganzheit des jeweiligen Selbst- und Welt- und Gottesverständnisses bestimmt, um ihn dann »in eine gegenwärtige Sprache zu übersetzen und so seine Relevanz für ein heutiges Selbst- und Welt- und Gottesverständnis zu realisieren« (8).

Das Buch beginnt mit einer »Einleitung« (1–32) in vier Kapiteln. In einem Theologischen Prolog (11–24), der sich an eine Aufgabenbeschreibung (3–9) anschließt, legt K. einige Verstehensvoraussetzungen dar, die die folgende Textinterpretation leiten sollen: Er sieht den Röm als »Mitte der paulinischen Theologie« an (11) und identifiziert die Frage, »wie der Mensch als Subjekt des Lebens im Gottesverhältnis zu denken ist«, als »Schlüsselfrage der paulinischen Theologie« (11). Als problematische Tendenzen in der jüngeren Paulusforschung benennt K . u. a. den Umstand, »dass als Kerngedanke des Paulus statt der Rechtfertigung des Sünders die Partizipation oder Teilhabe an Christus hervorgehoben wird« (13; vgl. auch 16). Mit der Rückstellung der Rechtfertigungstheologie jedoch werde nicht mehr klar, »wie das Ich in der Christusgemeinschaft oder auch in der Gemeinschaft des Geistes bestimmt« sei (17). Demgegenüber sucht K. herauszuarbeiten, wie die Identität des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt durch Christus im Rechtfertigungsgeschehen begründet ist. Rechtfertigung sei dabei »als Leben aus dem Tod« und »Gemeinschaft mit dem Auferstandenen« zu verstehen (15). Bei der christusbestimmten Identitätsbildung des Menschen ist der Tod des Menschen, »der unter dem Gesetz« ist, vorausgesetzt (18). Das Gesetz selbst kann nicht »lebendig machen« (18). Die paulinische Paränese richte sich entsprechend weder an den alten Menschen »unter dem Gesetz der Sünde« noch an den Menschen, der durch »Christus in mir« bestimmt ist, sondern an denjenigen, »der im Glauben zur Christusgemeinschaft« befreit, aber noch im Fleisch ist (23). Damit sind die Grundthemen, die den Röm in seinem lehrhaften (Röm 1–11) wie in seinem paränetischen Teil (Röm 12ff.) bestimmen, gesetzt.

Nach einer Kurzen historischen Einordnung des Röm, die im Wesentlichen den Darstellungen von J. Becker, M. Wolter und U. Schnelle folgt (25–27), bietet K. eine Skizze des Briefaufbaus (31 f.). In Auseinandersetzung mit den Kommentaren von U. Wilckens und M. Wolter (beide EKK) kommt K. letztlich zu einer eigenständigen Gliederung des Röm, die sich am ehesten in der Nähe zu E. Lohse (KEK) bewegt. Die Interpretation des Röm, die dann folgt, umfasst etwas weniger als 300 Seiten (33–316). Sie macht das Kernstück des Bandes aus. Verf. richtet seinen Textdurchgang in fünf unterschiedlich langen Kapiteln, die mit knappen, aber sachlich zutreffenden Überschriften versehen sind, an der zuvor skizzierten Grobgliederung des Röm aus: 1,1–17 (»Eingang«: 35–45), 1,18–8,39 (»Allgemeine Sünde und allgemeines Heil«: 47–187), 9,1–11,36 (»Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte«: 189–243), 12,1–15,13 (»Das tägliche Leben der Christen«: 245–301) und 15,14–16,27 (»Der Apostel und seine Leser«: 303–316). Es folgt anschließend keine weitere Auswertung oder Zusammenfassung – die Interpretation soll für sich sprechen. Die einzelnen Kapitel bleiben übersichtlich, denn sie bieten jeweils nicht mehr als eine weitere Textuntergliederungsebene, die mit einer Textübersetzung beginnt und dann in die Auslegung nach kleineren Verszusammenhängen mündet. Auch wenn die Interpretation vom griechischen Text ausgeht, ist sie primär nicht auf eine historisch-philologische Analyse oder Dekomposition des Textes hin angelegt, sondern zielt – und hier ganz im Sinne Barths – auf eine theologische Deutung bzw. Erklärung, die einerseits den »Skopus« der paulinischen Argumentation mittels theologischer Begriffs- und Konzeptbildung zu erheben sucht. Andererseits deutet sie – mitunter durch Verweise auf die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte des Röm (etwa bei Luther) – Brücken zum Textverstehen in der Gegenwart an (z. B. »religiöse Frage«, 44 f.; Kreationismus, 51).

Im Unterschied zu einem exegetischen Kommentar, der insbesondere die Probleme des Textes und seiner Auslegung identifiziert, bietet K. ein theologisches close reading an, das sich dem paulinischen Schreiben mit großen Erwartungen und Ansprüchen nähert. Wie schon einst der heftige Diskurs über Barths Römerbriefauslegung gezeigt hat, bergen beide Zugriffsformen auf einen Text wie den Röm – der exegetische wie der theologische – die Gefahr, entweder die wissenschaftlichen Problemlagen des exegetischen Diskurses oder den Deutungswillen des Interpreten gleichsam über den Text zu stellen. Indem K. die paulinischen Gedankengänge zuvorderst einzuholen und nachzuzeichnen sucht, minimiert er die Gefahr der Textvereinnahmung – anders als Barth – nach Kräften. Zur weiteren Kritik aus exegetisch-theologischer Sicht: K. ist insgesamt eine sachlich ausgewogene Interpretation des Röm gelungen, wie beispielhaft die kurze historische Einordnung im 3. Kapitel der Einleitung zeigt. Ob man der Feingliederung des Textes, auf der seine Interpretation beruht, im Einzelnen folgen mag, sei dahingestellt. Ähnliches gilt für die theologischen Grundannahmen, soweit sie sich auf die Einordnung des Röm im Werk des Paulus beziehen oder auch die Profilbeschreibung des Briefes betreffen: Ob ein Schreiben wie der Röm die Mitte der paulinischen Theologie ausmacht, wie der Vf. meint, oder ob deren Mitte weniger an einen Text als an die Aufgabe der Darlegung des Evangeliums mittels eines vielfachen Briefschreibens gebunden ist, ließe sich weiter diskutieren. Insgesamt kommt das Phänomen des theologischen Denkens in Briefform zu kurz: Dass Paulus eben keine theologischen Traktate verfasst, sondern situativ veranlasste Briefe schreibt, bestimmt auch die theologische Konzeption des Röm, der an vielen Stellen wiederum nicht nur den Gal, sondern auch – vielleicht nicht zufällig durch seine Abfassungsbedingungen veranlasst (28: Korinth wird erwähnt, aber nicht diesbezüglich ausgewertet) – 1Kor aufruft. Insgesamt aber gilt: K. hat eine – auch wissenschaftspolitisch gesehen – mutige Interpretation vorgelegt. So sie denn von beiden Seiten instruktiv wahrgenommen wird, könnte sie dem künftigen Zusammenspiel von (neutestamentlicher) Exegese und Systematischer Theologie neue Handlungsräume paradigmatisch eröffnen. (Ähnliches strebt die TOBITH-Reihe von bibelwissenschaftlicher Seite aus an.) Christlich-theologisches Denken und Urteilen bleibt auf die formativen Texte (G. Theißen u. a.) des frühen Christentums, besonders auf Paulus, verwiesen, wenn es distinkt Stellung zu Mensch, Welt und Gott beziehen will. Das vor allem wusste Luther.

Indem K. den Reformator regelmäßig zu Wort kommen lässt, tritt er nicht zuletzt auch dessen fortgeschrittener Diskreditierung innerhalb der neutestamentlichen Exegese (»Lutheran Paul«) entschieden entgegen. So aktualisiert der vorliegende Band in vielfacher Hinsicht ein Kernthema evangelischer Theologie.