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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

225-228

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Boysen, Knud Henrik

Titel/Untertitel:

Eschatologisches Denken. Ein theologischer Essay über Kategorien, Typen und Interaktionen profaner und christlicher Lebensdeutung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 140 S. = Theologie | Kultur | Hermeneutik, 34. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374070268.

Rezensent:

Ralf Frisch

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Boysen, Knud Henrik: Christus und sein Dreifaches Amt. Multiperspektivische Annäherungen an eine zentrale Figur christologischen Denkens. Berlin u. a.: De Gruyter 2019. XVI, 707 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 183. Geb. EUR 144,95. ISBN 9783110611120.


Knud Henrik Boysens »inhaltlich leicht überarbeitete und mit neuer Literatur aktualisierte Fassung« (VII) seiner Greifswalder Dissertation von 2017 stellt einen raffinierten Spagat zwischen einer vermeintlich vormodernen metaphysischen Ämterchristologie und ihrer vermeintlich modernen bewusstseinstheoretischen Transformation dar. Man könnte auch vom Versuch sprechen, zwischen der Skylla einer für autoritär gehaltenen reformatorischen Dogmatik und der Charybdis einer lebensnah und befreiend anmutenden liberalen Theologie hindurchzunavigieren. Dennoch stellt sich – um es vorwegzunehmen – bei der Lektüre von B.s massivem Buch die Frage in den Raum, ob der elegante Segeltörn am Ende nicht vielleicht doch dem verführerischen Gesang der Sirenen der Subjektivität erliegt und vom rettenden Christus abdreht. B.s Intention jedenfalls ist eine andere. Seine Studie will die These entfalten,

»dass die christologische Ämterlehre keine jener von der menschlichen Lebenswelt entkoppelten und abständigen dogmatischen Lehrformen ist, sondern dass sie vielmehr eine präzise christologische Beschreibung dieser Lebenswelt ermöglicht, indem sie als Lehrform die Korrelation von Christi Handeln und dem menschlichen Lebens- und Glaubensvollzug zur Sprache bringt. Es geht dabei nicht um die bloße ›Übersetzung‹ von dogmatischer Christologie in einen ihr entsprechenden ›christlichen‹ Lebensvollzug […], sondern darum, den jedem christlichen Lebensvollzug selbst unvorgreiflich vorausliegenden christologischen Ermöglichungsgrund allen Glaubens dogmatisch zu beschreiben.« (12)

Für B. drückt der Begriff des dreifachen Amtes Christi

»nichts anderes aus als Christi umfassende soteriologische ›Proexistenz‹, sein fundamentales ›für-uns-sein‹, welches seine Person und sein ganzes Wirken umgreift. Es ist geradezu Christi ›ureigenes‹, von Gottes Ewigkeit her kommendes ›Amt‹, sein ›Beruf‹ und sein Auftrag, für die Menschen und zu ihrem Heil zu wirken. Er allein ist der Mittler zwischen Gott und Mensch. So aber werden seine Person und sein Werk letztlich identisch. Christus verwirklicht in seinem Amt genau das, was er ist: Gottes Zuwendung zum Menschen in Person.« (647)

In der Lehre vom Mittleramt Christi kommt also die »grundsätzliche Einheit von Christologie und Soteriologie« (ebd.) zur Sprache. Außerdem überführt sie »die Multiperspektivität des einen Christusgeschehens […] in dogmatische Begrifflichkeit« (651). Sodann bildet die Dreiämterlehre »die Multiperspektivität der biblischen Zeugnisse über das eine Christusgeschehen ab« (654). Soweit, so biblisch, so reformatorisch, so barthianisch und so lutherisch.

Nachdem B. im ersten Hauptteil die »Lehre vom dreifachen Amt in theologiegeschichtlicher Perspektive« (77–236) vorgestellt hat, fällt Martin Luthers Theologie im zweiten Hauptteil über die »Lehre vom dreifachen Amt Christi in erfahrungs- und offenbarungstheologischer Perspektive« (251–530) im Gegensatz zu Barth interessanterweise die erfahrungstheologische Rolle zu, die B. am Beispiel des »konzentrierten Wurfs« (251) der »radikalen Theologie« (ebd.) von Luthers Freiheitsschrift illustriert. Das vor dem dritten Hauptteil über die »Lehre vom dreifachen Amt Christi in historisch-exegetischer Perspektive« (533–643) positionierte Lutherkapitel hat in B.s Studie eine Scharnierfunktion, weil es das theologische Material für die Möglichkeit liefert, die Ämterlehre am Ende im Sinne einer Synthese von Hegel, Schleiermacher, Luther, Calvin und Barth zu deuten. Die Pointe von B.s Deutung der Rede Luthers vom »fröhlichen Wechsel und Tausch« liegt nämlich in deren »fundamental partizipatorische[r| Dimension, nach der Christus in seinem Amt zugleich die ihm nachfolgenden Christen selbst zu Priestern, Königen und Propheten macht« (655). Denn Christus ist nicht ohne die Seinen (666). »Der Amtsvollzug Christi ist […] die performative Anteilgabe an seinem Amt, indem er Menschen als Zeugen für das in ihm Geschehene in seinen Dienst nimmt und sie darin selbst mit seinen Ämtern betraut« (655), ohne dass dabei – dezidiert antirömisch – auch nur im mindesten »ein geordnetes Amt der verfassten Kirche oder eine Form menschlicher hierarchischer Autorität« (655 f.) thematisch wäre. Es kommt vielmehr zu einer priesterlichen, königlichen und prophetischen Freiheit des von dieser Freiheit ergriffenen Glaubens (sic!, 656 f.) aller Glieder des Leibes Christi.

Im Zusammenhang dieser Apotheose christlicher Freiheit zitiert B. Falk Wagner und nennt die Ämterlehre »die christologische Struktur […] der Freiheit« (658). »Im Medium des Gebrauchs der geschenkten ›Freiheit der Kinder Gottes‹ gelangt die verborgene Freiheit selbst zur Darstellung.« (660) Ja, noch mehr: Der Geist Gottes wird kraft der göttlichen Gnade als der absolute Geist Christi auch zum Gemeingeist der Christen« (666). Die Gnade garantiert – mit Christoph Schwöbels Worten – die »Teilhabe« der Christen »am Leben des dreieinen Gottes« (666). »Alles in allem«, so B., »erweist sich die christologische Ämterlehre als eine sowohl dogmatisch trag- und wandlungsfähige als auch zugleich lebensweltlich anschlussfähige Lehrfigur, die in jüngster Zeit ihre Zentralstellung in der evangelischen Dogmatik zu Recht zurückerlangt hat« (667). Fazit: Die dogmatische Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi, die B. nicht als »Fiktion der christlichen Dogmatik« (643), sondern im Anschluss an Wolfgang Iser und Heinrich Assel als aus der Pluralität der biblischen Überlieferungen »gewonnene Textwirkungsfigur des ›Imaginären‹« (ebd.) bezeichnet, gerät unter der virtuosen Hand B.s zu einem aufschlussreichen soteriologischen Universalinstrument. Es öffnet Türen zur Theologie und zur theologischen Anthropologie. Ob der durch Christus befreite neue Mensch (656) bei all dem womöglich unversehens theologisch überschätzt wird, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Im Vergleich zu seiner Dissertation ist B.s kluger und lesenswerter eschatologischer Essay deutlich kompakter. B. widerlegt in seinem schönen Büchlein Ernst Troeltschs Diktum, das eschatologische Bureau sei heutzutage meist geschlossen, durch eine differenzierte Analyse der »Expansion« des eschatologischen Bureaus »in mannigfaltige Dependancen in die säkularisierten und profanisierten Denkformen der Gegenwart hinein« (10). Die Absicht von B.s konzisem Büchlein besteht darin, das »eschatologische Denken der Gegenwart im Hinblick auf seine Kategorien, seine Typen und seine theologischen Implikationen zu untersuchen« (ebd.).

B.s Wahrnehmung zufolge liegt den Rationalitäten der Ideologie, der Utopie und der Apokalypse (25–58) letztlich die Unfähigkeit oder vielmehr Unwilligkeit zugrunde, sich im »Zwielicht der Gegenwart« (17–24) zurechtzufinden. Daraus entspringen »alternativlose« und »totalitäre« (93) oder eben katastrophische Imaginationen von Gegenwart und Zukunft (93). B. differenziert instruktiv zwischen vier »Typen profaner Eschatologie« (59–94). »Der profan-apokalyptische Typ« imaginiert die »Zukunft als Katastrophe der Menschheit« (64–71). B. illustriert diesen Typus am Buch »Handeln statt Hoffen. Aufruf an die letzte Generation« der radikalen Klimaschutzaktivistin Carola Rackete. »Der teleologische Typ« imaginiert die »Zukunft als Evolution der Menschheit« (71–80). Zur Illustration der evolutionären Selbsttransformation des Homo sapiens zum »Homo Deus« greift B. auf Yuval Noah Hararis gleichnamiges Buch zurück, in dem »die progressiv-teleologische Utopie zur Möglichkeit der apokalyptischen Menschheitskatastrophe« (79) – und zwar zur Selbstabschaffung des Menschen zugunsten eines universellen Datenverarbeitungssystems, also einer gottgleichen künstlichen Intelligenz – verkommt. »Der revolutionäre Typ« sieht die »Katastrophe als zukünftige Evolution der Menschheit« (81–86). Hierunter fallen »Revolutionäre und Radikale jeder Couleur«, also chiliastische »Doomsday«-Sektierer ebenso wie islamistische Dschihadisten, Nationalsozialisten und Kommunisten (82), die sämtlich die Katastrophe des Bestehenden nicht nur in Kauf nehmen, sondern zu beschleunigen suchen, weil nur so die Revolution und der ganz andere Zustand zu bewerkstelligen sind. »Der reaktionäre Typ« schließlich imaginiert die »Evolution als zukünftige Katastrophe der Menschheit« (86–90). Beispielhaft dafür ist jede konservative, ihrerseits stets ideologiegefährdete Verteidigung und Bewahrung eines »bleibend Humanen« (87), das notfalls durch eine »katechontische Gewalt« (88) im Sinne Carl Schmitts vor der Katastrophe geschützt werden muss.

Auf der Zielgeraden von B.s Essay findet sich ein Kapitel zur »Eigenart christlicher Eschatologie« (95–120), deren »Interaktion mit profaner Eschatologie« ihre Grenze im »Glauben an das eschatologische und weltverändernde Ereignis der Auferstehung Christi« (95) findet. Immer dort, so B.s These, »wo das Christentum dahin kommen sollte, dieses Ereignis und den aus ihm erwachsenden Glauben nur noch als Ideologie und Utopie unter all den anderen zu begreifen, da hätte es sich damit selbst ganz und gar säkularisiert« (96) – und verfehlt. Für B. besteht die spezifische Eigenart christlicher Eschatologie darin, »dass die Zukunft eben nicht nur ›vor uns‹ liegt, nicht nur im Raum menschlicher Gestaltungsfreiheit ist, sondern eben doch auch ›von oben‹ kommt«, also nicht nur »futurum«, sondern »adventus« ist (99). Im Kampf der säkularen Zeit- und Weltdeutungen entfaltet die christliche Eschatologie insofern ihr tröstliches Potenzial, als sie »die beständige Nähe des kommenden Reiches Gottes« aus dem »Bann der Zukunft« (110) und also auch aus jeder totalitären, alarmistischen oder anderswie verblendeten Gegenwartswahrnehmung befreit. Zur Utopie kann die christliche Eschatologie B. zufolge deshalb ein nur gebrochenes Verhältnis haben, weil sie um die Sünde weiß (116). »Indem sie an diese immer mögliche zerstörerische Selbstverkehrung des utopischen Denkens eines kommenden besseren Zustandes erinnert, wirkt die Sündenlehre wie ein Schlagbaum, der sich aller, auch aller legitimen, christlichen Utopiebegeisterung warnend in den Weg legt.« (120)

Im leider etwas blassen und höhepunktarmen Schlusskapitel »Christliche Hoffnung und eschatologische Existenz« (121–128) nimmt B. die Unterscheidung Dietrich Bonhoeffers zwischen Vorletztem und Letztem (125 f.) auf und charakterisiert die eschatologische Existenz von Christenmenschen als Hoffen in einer Situation des »Zwischen« (121 u. ö.). Für Christen ist also die Gegenwart weder bedeutungslos noch letztgültig (126). »Was ergibt sich aus diesen Überlegungen nun abschließend für die Aufgabe der christlichen Dogmatik? Sie soll die Gegenwart mit den Mitteln der kritischen Vernunft beschreiben und zugleich in jenem Licht orientieren, welches von der eschatologischen Verheißung des adventus Gottes kraft der Auferstehung Christi auf sie fällt, um so Möglichkeiten christlicher Glaubensexistenz in Sprache und Handeln als christliche Praxis im Alltag dieser Gegenwart auszuloten.« (127) Der geneigte Leser möge entscheiden, ob – mit dem Schlusssatz von Theodor W. Adornos »Minima Moralia« gesprochen – für B.s eschatologisches Denken »die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Erlösung selbst fast gleichgültig« ist oder nicht.