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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

220-222

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Matthews-Schlinzig, Marie Isabel, Schuster, Jörg, Steinbrink, Gesa, u. Jochen Strobel [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart.

Verlag:

Berlin: DeGruyter 2020. XXVI, 1565 S., m. 24 Abb. = De Gruyter Reference. Geb. EUR 300,00. ISBN 9783110375107.

Rezensent:

Martina Janßen

Gegenwärtig rückt die Textsorte »Brief« aus ihrem »nischenhaften« (6) Dasein in den Fokus der Forschung. Dies gilt auch für die (früh-)neuzeitliche Briefkultur (z. B. Daphnis 50 [2022]: Schwerpunkt »Briefpublizistik in der Frühen Neuzeit«). Mit dem »Handbuch Brief« liegt nun ein Standardwerk vor, das nicht nur die Blütezeit des Briefes um 1800, sondern auch die Epistolarkultur der Moderne behandelt und zudem antike Wurzeln freilegt (z. B. 41–50.250.258.277.339.452 f.508; 555.586.666).

Das umfangreiche Werk besteht aus zwei Bänden mit sieben Kapiteln (Bd. I: »Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres«; Bd. II: »Historische Perspektiven – Netzwerke – Zeitgenossenschaften«). In Kapitel 1 (»Der Brief als Forschungsfeld«) werden Grundlagen aus Literaturwissenschaft, Linguistik, Rhetorik, Geschichtswissenschaft, Editionswissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Soziologie, Ethnologie und Gender Studies gelegt sowie Forschungsdesiderate aufgezeigt (z. B. 6.8.16.34 f.; vgl. auch 348.611.1028.1371.1450). In Kapitel 2 (»Briefpraktiken und methodische Ansätze«) folgen Beiträge zu unterschiedlichen Facetten rund um den »Brief« (u. a. Postgeschichte, Briefsteller, Narratologie, Briefzensur, Materialität des Briefes, Brief in der Kunst). Kapitel 3 (»Briefgenres«) präsentiert 22 epistolare Formen, inklusive Kleingattungen (Billet; Postkarte [Kap. 3.1 f.]; vgl. zu weiteren Brief- bzw. Hybridgenres wie Briefroman und Brieftagebuch Kap. 2.11 f.; 4.15; 5.14; 6.14; 6.19; 7.18 f.). Bd. II präsentiert mit den Kapiteln 4–7 ein breites Spektrum exemplarischer Fallstudien. Die chronologische Anordnung (Kap. 4: 16./17. Jh.; 5: 18. Jh.; 6: 19. Jh.; 7: 20./21. Jh.) lässt die epochentypischen Charakteristika deutlich hervortreten. Neben Erwägungen u. a. zu Brieftheorie, Briefstellern und (mentalitäts-)geschichtlichen Rahmenbedingungen (z. B. Kap. 4.1; 4.12; 5.6; 5.9; 5.14; 6.19; 7.1; 7.4; 7.9; 7.18 f.) werden in Bd. II vor allem Briefœuvres von Briefschreibern und -schreiberinnen vorgestellt, von denen einige als Forschungsgegenstand bekannt (z. B. Kap. 4.2 [Luther]; 7.8 [Benn]), andere eher »Randfiguren« [1143] sind (z. B. Kap. 6.10 [Hermann Fürst von Pückler-Muskau]). Corpusanalysen von Zweier-Korrespondenzen (z. B. Kap. 5.3; 6.15; 7.14), Mehr-Personen-Netzwerken (z. B. Kap. 5.16; 6.7; 6.9) und größeren Kommunikationsgemeinschaften, z. B. orientiert an Berufsgruppen (z. B. Kap. 6.16; 7.3), Familien (Kap. 7.7) oder Freundeskreisen (z. B. Kap. 5.8; 7.5), arbeiten das Netzwerkpotenzial von Briefen heraus, das zwischen Freundschaftsgedanken (z. B. Kap. 5.8 [Gleim und sein Kreis]; 5.19 [Jenaer Frühromantik]) und (politisch-)pragmatischer Funktion (z. B. Kap. 5.4 [Katharina die Große]) changiert. Behandelt werden zudem post-epistolare Kommunikationsmedien wie E-Mail, SMS, WhatsApp, Facebook und digitale Leserbriefe (Kap. 7.18 f.), digitale Transformationen von Brieftypen (z. B. 199 f.264f. 311 f.335.344.558.628) und die Digitalisierung von Briefen (Kap. 2.16). Beim Aufbau der einzelnen Beiträge, die durch die beigefügten Literaturhinweise zur Vertiefung anregen, wird auf eine analoge Gliederung verzichtet; auch Umfang, Angaben zum Stand der Fertigstellung und Dichte der verwendeten Forschungsliteratur variieren, was der Qualität aber keinen Abbruch tut. Bei den Formalia wäre mitunter mehr Einheitlichkeit wünschenswert gewesen (z. B. Schreibweise antiker Namen; vgl. [Pseudo-]Demetrios [von Phalernon] [44.50.277.350] mit Demetrius [Phalernus] [258; Re­gister]).

Das erklärte Ziel des Handbuchs, in einen »vielstimmigen, offenen Dialog zu treten« (XI), wird erreicht. Das interdisziplinäre Projekt hat interdisziplinäre Relevanz, die bereits dem Material selbst inhärent ist. Es finden sich Korrespondenzen u. a. von bildenden Künstlern (Kap. 4.4; 5.18; 6.27), Politikern, politischen und sozialen Bewegungen (z. B. Kap. 4.8; 5.5; 6.21; 6.23; 7.1; 7.13), Kaufleuten (Kap. 4.6), Musikern (Kap. 5.17; 6.11), Philosophen (z. B. Kap. 5.12–5.14; 6.22), (Kultur-)Historikern (Kap. 6.17), Verlegern (Kap. 7.16), Dramaturgen (Kap. 5.15), Medizinern/Naturwissenschaftlern (z. B. Kap. 4.5; 5.10; 7.3) und Literaten (z. B. Kap. 5.7; 6.1; 6.6; 6.18; 6.24; 7.7 f.; 7.15), wobei mitunter die Rolle von Briefen im Kontext des Gesamtwerks beleuchtet wird (z. B. 1146.1234.1295). Darüber hinaus eröffnet das Handbuch Einblicke in Briefe von Menschen jenseits von Prominenz und Höhenkammliteratur, die in besonderen historischen und biographischen Kontexten Brief- und »Sprachgeschichte von unten« (30) schreiben (z. B. Kap. 4.9 [Emigranten]; 6.23 [Arbeiterbewegung]; 7.1 [Frauenbewegung]; 7.2 [Feldpost]; 7.10 [Widerstand]; 7.11 [NS-Lager]; 7.12 [Ost-West-Briefwechsel]). Ob Wissenschafts-, Kunst-, (Literatur-)Geschichte, Germanistik, Soziologie oder Frauenforschung – jede Disziplin wird fündig. Für die theologische Disziplin sind abgesehen von dem allgemeinen Gewinn durch brieftheoretische und mentalitätsgeschichtliche Erkenntnisse sowie ethisch konnotierte Briefthemen (z. B. Kap. 7.14: Günther Anders und Claude Eatherly) besonders die kirchen- und theologiegeschichtlichen Beiträge relevant (z. B. Kap. 3.7 f. [Missionarsbriefe]; 4.2 [Luther]; 4.3 [Melanchton]; 4.10 [Hugenotten]; 4.13 [Monastische Gelehrtenkorrespondenz]; 5.1 [Hallischer Pietismus]; 5.11 [Hamann]; 6.5 [Kierkegaard]). Fallstudien aus dem 20./21. Jh. (z. B. Karl Barth, Rudolf Bultmann, Karl Rahner) fehlen; diese hätten wie die Analyse einschlägiger Briefgenres (z. B. Hirtenbrief) das Bild abgerundet.

Das Handbuch ist zweifelsohne eine lohnende Entdeckungsreise durch die Epistolarkultur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, die für das produktive Potenzial der Textsorte »Brief« als »blurred genre« zwischen (privatem) Kommunikationsmedium und literarischem Genre sensibilisiert. Manche Gebiete werden gestreift, andere ausgiebig erkundet, Neuland wird benannt bzw. erschlossen. An manchem Ankerplatz hätte man gerne länger verweilt, einzelnes vermisst man auf der Landkarte. So beschränkt sich z. B. die Thematisierung pseudonymer Briefe im Wesentlichen auf die kriminologische Dimension von Fälschungen (Kap. 2.9; 758–760). Die vielfältigen pragmatischen und poetologischen Facetten und Funktionen pseudonymer Autorfiktionen im Brief wären m.E. einen eigenen Beitrag wert gewesen (z. B. pseudonyme Edition von Briefen [Walter Benjamin alias Detlef Holz, »Deutsche Menschen«]; literarisch motivierte Pseudonymität wie Briefromane unter antiken Namen [z. B. Christoph Martin Wieland, »Menander und Glycerion«; »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen«] oder pseudonyme Briefe in narrativen Makroformen [z. B. Gottfried Keller, »Die missbrauchten Liebesbriefe«]). Aber es versteht sich von selbst, dass kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann (XII). Lust auf eigene Entdeckungsreisen ist vielleicht gerade durch die Leerstellen geweckt.

Einzig mehr Navigationsgerät für die Reise hätte man sich gewünscht, konkret: neben dem Personenregister (1522–1563) auch ein Stichwortverzeichnis und Querverweise, die zur Konstruktion von Kohärenz beitragen bzw. diese transparent machen (vgl. z. B. im Hinblick auf »Gender Studies« [Kap. 1.9] die konkreten Fall- und Genrestudien in Kap. 4.7; 4.15 f.; 5.2; 5.4; 6.6; 6.13; 7.1; 7.6; 146–148).