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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

217-220

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Löwe, Matthias

Titel/Untertitel:

Dionysos versus Mose. Mythos, Monotheismus und ästhetische Moderne.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2022. 718 S. = Das Abendland N.F., 48. Lw. EUR 98,00. ISBN 9783465034049.

Rezensent:

Jan Rohls

Seit den 1980er Jahren wurde im Zuge der postmodernen Aufwertung des Mythos auch der Polytheismus mit viel Lob bedacht, da er doch weltoffen und tolerant sei und mit dem zeitgenössischen weltanschaulichen Pluralismus besser harmoniere als der mit dogmatischem Exklusivitätsanspruch auftretende Monotheismus (115–137.651–656). Die Entgegensetzung von tolerantem Polytheismus und intolerantem Monotheismus geht dabei zurück auf David Humes »Natural History of Religion«, die denn auch am Anfang von Matthias Löwes brillanter Studie über Mythos und Monotheismus steht. Zwar konzentriert sie sich auf den Zeitraum von 1900 bis 1950, ordnet die Diskussion der ersten Hälfte des 20. Jh.s aber in einen Kontext ein, der von der Aufklärung bis in die Gegenwart reicht. »Dionysos« und »Mose« stehen dabei als »metonymische Ausdrücke für ›Mythos‹ und ›Monotheismus‹« (21). Die begriffsgeschichtliche Entwicklung von dem Cambridger Platoniker Henry More, bei dem der Terminus »monotheism« erstmals auftaucht, bis hin zu den Vertretern des deutschen Idealismus zeigt, wie schließlich die abrahamitischen Offenbarungsreligionen unter den Begriff des Monotheismus subsumiert wurden, der den Glauben an ein einziges welttranszendentes höchstes Wesen meint. Der Mythos hingegen wurde von der aufkommenden Altertumswissenschaft als Denkform einer frühen Stufe der Menschheitsgeschichte dem Polytheismus zugeordnet, der von der Immanenz der Götter in der Natur ausging und wie der Mythos im Zuge der »Rehabilitation der Sinnlichkeit« seit Schillers Gedicht »Die Götter Griechenlands« eine Aufwertung erlebte. Dem Monotheismus wurde die Entgötterung der Natur angelastet, und mit der Begeisterung für den Polytheismus des griechischen Mythos verband sich eine Kritik an Judentum und Christentum, auch wenn es gegenläufige Tendenzen gab, die entweder das Christentum als Synthese von Monotheismus und Polytheismus verstanden oder die Entwicklung vom Polytheismus zum Monotheismus als Fortschritt deuteten. Ausgehend von Nietzsches »Geburt der Tragödie« vollzog sich allerdings im frühen 20. Jh. ein Wandel des Mythosbegriffs. Denn er bezeichnete jetzt nicht mehr ein »Wissen über vormoderne Weltdeutungserzählungen, sondern einen in jeder Epoche möglichen, nichtrationalen Weltzugang, der schon dem antiken Polytheismus zugrunde lag und der zum ›gesunden‹ Leben eines ›unzersetzte[n]‹ Menschen gehören soll« (71). Der Mythosbegriff wurde so enthistorisiert, lebensphilosophisch aufgeladen und der mit ihm assoziierte Vitalismus der christlichen Lebensverneinung entgegengesetzt. Damit einher ging ein neues antiklassizistisches Bild der Antike, das sich an der Archaik orientierte, symbolisiert durch den Gott Dionysos. Die neue »Ehrfurcht vor dem Mythos« (81) bildete die Basis »vagierender Ersatzreli- gionen« (Nipperdey) als Alternativen zum verfassten Christentum und Judentum. Als jedoch die antirationalistische Mythophilie vom Nationalsozialismus instrumentalisiert wurde, führte dies vor allem bei Exilautoren wie Cassirer, Freud, Adorno/Horkheimer und Thomas Mann nicht nur zu alternativen Mythosdeutungen, sondern auch zu einer Wiedererinnerung an die Kulturleistung des bilderkritischen Monotheismus, der sich mit der Gestalt des Mose verband.

L. konzentriert sich zwar auf die Thematisierung von Mythos und Monotheismus im frühen 20. Jh., bettet sie aber ein in die um 1800 beginnende Traditionslinie, »bei der Intellektuelle sich mit der Moderne im Spiegel von Mythos und Monotheismus auseinandersetzen« (143). Auf diese Weise verbindet er die ästhetische Moderne als Mikroepoche mit der ästhetischen Moderne als Makroepoche, wobei sich für ihn die Modernität von Gesellschaften in sozialen Differenzierungsprozessen zeigt. Bei Nietzsche waren die Aspekte der sozialen Ausdifferenzierung als Verlust der Ganzheit des Lebens ein Indiz der Décadence der Moderne, die dem jenseitsfixierten Monotheismus angelastet wurde. Der Pathologisierung des jüdisch-christlichen Monotheismus entsprach bei ihm eine Vitalisierung des immanenzorientierten Mythos des antiken Griechentums. Aus der krankmachenden Décadence gelte es mittels des Mythos zurückzukehren in das gesunde, allverbindende Leben.

Während L. im ersten Hauptteil seiner Arbeit »einen seman-tikgeschichtlichen Diskurszusammenhang rekonstruiert«, unter-sucht er im zweiten und dritten Hauptteil, »wie sich diese verdichtete historische Semantik von Mythos und Monotheismus im frühen 20. Jh. auf die ästhetische Bearbeitung von Stoffen der griechischen Mythologie und der Hebräischen Bibel auswirkt« (202). L. zeigt dies exemplarisch an der Geschichte des modernen Mythendramas zwischen 1900 und 1950 und an der Wiedererinnerung an den Monotheismus in der ästhetischen Bearbeitung von Geschichten der Hebräischen Bibel um und nach 1930. Im Rückgriff auf Dieter Henrichs Konzept der Konstellation geht es ihm um die »Erschließung konstellativer Zusammenhänge zwischen den untersuchten Texten sowie zwischen ästhetischer Mythen- und Bibelrezeption« (204). Im zweiten Hauptteil widmet er sich zunächst Hugo von Hofmannsthals »Elektra« und Gerhart Hauptmanns Atriden-Tetralogie, im dritten Hauptteil dann als Gegenbewegung zur modernen Mythophilie Arnold Schönbergs Opernfragment »Moses und Aron« und Thomas Manns Romantetralogie »Joseph und seine Brüder«.

Hofmannsthals »Elektra« (1903) gilt als erstes Mythendrama der ästhetischen Moderne, in dem sich das Lebenspathos mit der Archaisierung des antiken Stoffs verbindet. Bei dem Autor, der der kirchlichen Religiosität distanziert gegenüberstand, avancierte der Begriff des Lebens zur Sinnstiftungsvokabel einer vagierenden Ersatzreligion. Allerdings thematisierte er als Vertreter der Décadence vor allem den Ausschluss des Individuums vom ersehnten Leben. Selbst für die Protagonistin der »Elektra« gelte: »Bei der ästhetischen Darstellung der ersehnten Remythisierung steht nicht die Erfüllung, sondern die Unerfüllbarkeit dieser Sehnsucht im Zentrum« (253). Als Stützen bei der Arbeit an »Elektra« nennt L. vor allem Erwin Rohdes Abhandlung »Psyche, Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen« (1890 –94) mit der These eines vorhomerischen archaischen Seelenkults und die »Studien über Hysterie« (1895) von Sigmund Freud und Josef Breuer (261). In »Elektra« würden »Aporien eines modernen Ichs ästhetisiert, das sich nach Integration in den metaphysischen Lebensstrom sehnt, nach einer Überwindung seiner skeptischen Décadence, nach Aufhebung von Differenzen« (293), ohne diese aber zu erreichen.

Das sei bei Hauptmann anders. Schon in seinem Reisebericht »Griechischer Frühling« (1908) verbinde sich die Kritik am kirchlichen Christentum mit der Vorstellung vom Theater als dem »zentralen Ort eines Vitalisierungsgeschehens in der Moderne« (304) und einer »dionysischen Revision des Christentums« (305) im Sinne pantheistischer Naturreligiosität. L. verankert diese in der zeitgenössischen Lebensreformbewegung des Friedrichshagener Dichterkreises um Bruno Wille und Wilhelm Bölsche. Im Unterschied zum skeptischen Hofmannsthal hoffe Hauptmann, »die in der Moderne ›zersplittert[e]‹ künstlerische Phantasie durch den Kontakt mit der Mythenwelt wieder zusammenzuführen« (321). Die remythisierte moderne Tragödie, die die Décadence überwinden soll, müsse wie ihr attischer Vorläufer im Zuschauer ein Gefühl der Gebundenheit an die Schicksalsmächte erzeugen, in der das »Urdrama des Lebens«, der Kampf antagonistischer Mächte, bestehe (327). So gelinge in der Atriden-Tetralogie (1940–1944) die Revitalisierung des Helden durch »die Einnahme einer gläubigen Haltung gegenüber dem unentrinnbaren Schicksal des Urdramas, das alles menschliche Dasein überwölbt« (339). Außer auf Rohde habe sich L. bei der Behandlung des antiken Stoffs vor allem auf Johann Jakob Bachofens »Mutterrecht« (1861) gestützt. Mit alledem habe Hauptmanns Poetik zumindest »partiell den dominierenden ästhetischen Tendenzen ›Hitler-Deutschlands‹« (339) entsprochen.

Mit dem Abflauen der irrationalen Lebensphilosophie und dem Aufkommen der philosophischen Anthropologie in den zwanziger Jahren verband sich die Einsicht, dass der Mensch sich nicht auf sein vitales Prinzip reduzieren lasse. In diesem Kontext kam es auch zu einer mythenkritischen Wiedererinnerung an den jüdischen Monotheismus, der mit Geistigkeit, Freiheit und Subjektivität assoziiert wurde. Bei Arnold Schönberg habe der wachsende Antisemitismus zu einer Rekonversion vom Protestantismus zum Judentum und zum Zionismus geführt, gepaart mit dem gegen die Assimilation gerichteten Glauben an die Auserwähltheit des jüdischen Volkes und seine eigene Auserwähltheit als genialer Künstler. Für die mit der radikalen Geistigkeit verbundene Überwindung der Sinnlichkeit des Mythos stehe das Bilderverbot, das sich musikalisch in der Atonalität spiegle, insofern sie die Unfassbarkeit von Schönheit zum Ausdruck bringe. Das Opernfragment »Moses und Aron« (um 1930) wende sich dementsprechend im »Namen eines radikal vergeistigten Monotheismus […] gegen das pantheistische Weltbild einer mythophilen Lebensphilosophie« (434), wobei L. Parallelen zu Hermann Cohens später Religionsphilosophie aufzeigt. Schönberg treibe die Vergeistigung Gottes über die biblische Vorlage (Ex, Num) hinaus allerdings so weit, dass er – ganz unbiblisch – selbst die Vermittlung durch das Wort ablehnt und »der Gottesidee jede Form einer sinnlichen Vermittlung versagt« (456).

Im Unterschied zu Schönberg verbindet sich in Thomas Manns Romantetralogie »Joseph und seine Brüder« das Plädoyer für den Monotheismus nicht mit einer radikalen Ablehnung des Mythos, sondern angesichts seiner auch politischen Instrumentalisierung durch den Irrationalismus um seine psychologische Umfunktionierung ins Humane auf dem Boden einer neuen Anthropologie. Die Defizite eines radikalen Monotheismus mit der einseitigen Betonung der Geistigkeit zeigt Mann an dessen ägyptischen Fehlentwicklungen auf. »Zentral ist vielmehr der an Joseph exemplifizierte Entwurf eines pluralen Ichs, das die Sinnlichkeit des Mythos gerade nicht im Namen monotheistischer Geistigkeit zu überwinden trachtet, sondern solche Gegensätze im eigenen Ich integriert« (507). Den biblischen Beleg für dieses Integrationsmodell fand Mann im Doppelsegen Jakobs über Joseph Gen 49,25. Allerdings betont L. zurecht die »fehlende Anschaulichkeit des doppelten Segens« (614), der zwar die zentrale Idee der Josephsromane sei, aber eine bloße »Programmerklärung« (Kristiansen) bleibe, was sich »nicht nur in Josephs distanzierter Haltung gegenüber dem ägyptischen Polytheismus, sondern vor allem in seinem Verhältnis zum Sexualtrieb« (615 f.) zeige.

L. hat eine glänzende, auch Theologen dringend empfohlene Studie zum Verhältnis von Mythos und Monotheismus vorlegt, die an vier exemplarischen Beispielen der ästhetischen Moderne detailliert vorexerziert, wie sich religiös-philosophische Weltanschauungskämpfe in literarischen Werken niederschlagen.