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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

216-217

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Herrmann, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Die Wirklichkeit Gottes und die Geschichtlichkeit Jesu Christi. Hg. u. kom. v. D. Korsch.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2023. 192 S. = Große Texte der Christenheit, 14. Kart. EUR 25,00. ISBN 9783374073085.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Im Zentrum dieses Buches steht der eher dem Spätwerk Wilhelm Herrmanns zuzurechnende Aufsatz »Die Wirklichkeit Gottes« von 1914. Der hier entfaltete Ansatz einer Entwicklung des menschlichen Selbst im Erleben einer offenbarten Gottesbegegnung im Gegenüber zu einer bedrückenden Wirklichkeit kommt – für Herrmanns Spätwerk nicht untypisch – weitgehend ohne Christologie aus. Allerdings sollte der Band eine dreiteilige Reihe eröffnen, deren zweites Heft sich der Bedeutung Jesu Christi für den Glauben gewidmet hätte. Das zweite und dritte Heft sind jedoch nie erschienen. Für Dietrich Korsch als Herausgeber ist dies, wie er in den Erläuterungen ausführt, Grund genug, den Aufsatz »Der geschichtliche Christus der Grund unseres Glaubens« von 1892 anzuschließen, der mithin einer früheren Schaffensphase Herrmanns zuzuordnen ist. Beide Texte werden dann von Dietrich Korsch nach einer grundlegenden theologiegeschichtlichen Einordnung Herrmanns eingehend kommentiert. Dabei ist vorab zu würdigen, dass der Marburger Systematiker Korsch mit dieser Publikation an einen großen akademischen Lehrer für Systematische Theologie seiner Fakultät erinnert. Beide Texte vermögen Herrmanns Einfluss auf Karl Barth und vor allem auf Rudolf Bultmann plausibel zu machen.

Der Mensch steht einer Wirklichkeit gegenüber, die ihn zu erdrücken droht. Dabei findet er Wahrheit, begrifflich abgegrenzt gegen Wirklichkeit, und Freiheit nicht in der die Wirklichkeit erforschenden Wissenschaft, auch nicht in der Philosophie. So wird die existentiale Erfahrung der Wirklichkeit des sich offenbarenden Gottes im ersten Aufsatz entfaltet. Mit der Analyse eines Begriffs von Wirklichkeit, wie er sich einer ihrer Grenze bewussten Wissenschaft erschließt, beginnt Herrmann, um zu zeigen, dass die Wissenschaft die Wirklichkeit Gottes nicht zu erkennen vermag und dass alle Versuche, auf dem Wege der Wissenschaft religiöse Erkenntnis zu gewinnen, fehlgehen. Auch gegen Kant, mit dessen Werk er sich eingehend auseinandersetzt, grenzt sich Herrmann ab. So mag sich die Gottesidee in der sich klärenden menschlichen Vernunft nachweisen lassen. Sie mag sich zwar nicht der Naturwissenschaft, wohl aber der Geisteswissenschaft und der Ethik erschließen. Aber Religion sei – so Herrmann – mit der daraus folgenden Konsequenz des sittlichen Denkens noch nicht gegeben, sie erfasse sich selbst als Verkehr »der zum Leben erwachenden Seele mit dem lebendigen Gott«. Wenn der Mensch auch Gottes Wirklichkeit nicht beweisen könne, so könne er sie doch finden. Der einzige Weg dazu sei, wahr zu sein in sich selbst. Dieser Ansatz führt mit zur Existenzphilosophie, wie sie Rudolf Bultmann in der Auseinandersetzung mit Martin Heidegger für die Theologie fruchtbar gemacht hat. Die Suche der Menschheit nach der Wahrheit ihres Lebens sei auf drei Wegen erfolgt, auf dem der Sittlichkeit, auf dem der Wissenschaft und dem der Kunst. Ohne eigene Erkenntnis des Guten sei wahrhaftiges Wollen, ein Leben in sich selbst nicht möglich, wozu auch gehöre, Gemeinschaft zu suchen mit allen Menschen. Aber wenn Herrmann auch die Wichtigkeit dieser Wege betont, so können die Menschen Gott darin nicht finden. Aus der Welt des Todes führen sie nicht heraus, dem Bewusstsein eines eigenen Lebens können sie keine Heimat schaffen. Dazu führt nur das Erleben Gottes als eines nicht verfügbaren Woher unserer Existenz, das ein Leben in Gerechtigkeit und Güte ermöglicht. Interessant ist nun, dass Herrmann die Geschichtlichkeit dieser Gotteserfahrung vor allem aus dem Alten Testament begründet, während das Neue Testament nur am Ende des Textes kurz zitiert wird (Mt 7,7 f. und LK 11,9).

In »Der geschichtliche Christus der Grund unseres Glaubens« reagiert Herrmann auf Publikationen theologischer Zeitgenossen. Im Gegensatz zum ersten Text richtet sich der Autor hier nicht an ein breites Publikum, sondern positioniert sich gegenüber Kollegen, indem er deren zum Teil apologetische Versuche gegen die historische Kritik, ihr Insistieren auf die Beharrungskräfte der Gemeinde etwa, zurückweist, die historische Kritik ohne Tabus aufnimmt und so das Christusbekenntnis in der Gegenwart dogmatisch entfaltet. Letztlich komme es auf den Zusammenklang zwischen der subjektiven Disposition des Bewusstseins und der geschichtlichen Wirklichkeit der Religion an. In diesem Sinn fasst Dietrich Korsch Herrmanns Position zusammen, in der die historische Kritik als unwiderrufliche Errungenschaft der Moderne erscheint. Auf dieser Grundlage behauptet sich christlicher Glaube als Existential. Die Konzentration auf das »innere Leben Jesu« wird so ermöglicht.

Beide Aufsätze waren würdig, in die Reihe »Große Texte der Christenheit« aufgenommen zu werden, wie Dietrich Korsch in seinen ausführlichen Erläuterungen auch überzeugend darlegt. Zunächst ordnet Korsch Wilhelm Herrmann theologiegeschichtlich ein. Hierbei holt er weit aus und legt die intellektuellen Konstellationen, welche sich im Gefolge der Aufklärung seit 1800 in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt haben, dar. Die philosophischen Entwürfe Hegels und Marx’, die Historiker Mommsen und Ranke, Naturalismus und Historismus spielen dabei eine Rolle, ebenso wie die Theologen Schleiermacher und Troeltsch. Das besondere theologische Profil Wilhelm Herrmanns in diesem Geflecht entfaltet Korsch dann, indem er die Gedankengänge beider Texte ausführlich beschreibt und sie jeweils in Bezug zu theologischen Autoritäten ihrer Zeit setzt. Ein Fazit beider Texte zum Schluss fasst die Ergebnisse noch einmal zusammen und macht die Bedeutung Herrmanns auf dem Weg der Evangelischen Theologie ins 20. Jh. deutlich. Auch Herrmanns Abgrenzung gegen katholische Positionen hebt Korsch noch einmal hervor. Auf die Bindung der Sprache Herrmanns an das gesellschaftliche Umfeld seiner Zeit weist er hin.

Insgesamt ist die Neuedition der wichtigen Texte und ihre Erläuterung im Interesse theologiegeschichtlicher Forschung zu begrüßen.