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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

202-204

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Ehlers, Corinna

Titel/Untertitel:

Konfessionsbildung im Zweiten Abendmahlsstreit (1552–1558/59).

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2021. XVI, 650 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 120. Lw. EUR 119,00. ISBN 9783161592362.

Rezensent:

Stefan Michel

Zur Methodik historischen Arbeitens gehören die Einsichten, dass die ermittelten und verwendeten Quellen über die Präzision einer Darstellung entscheiden und der Standpunkt der Historikerin oder des Historikers die Deutung beeinflusst. Weiterhin ist eine für die Quellenarbeit leitende These oder Fragestellung notwendig. Alle drei Aspekte wurden in der Druckfassung der Tübinger kirchenhistorischen Promotionsschrift von Corinna Ehlers vorbildlich beachtet. Sie schließt mit ihrem anregenden und durchweg gut lesbaren Buch die Lücke einer lange vermissten, aktuellen Monographie zum Zweiten Abendmahlsstreit. Darin räumt sie gründlich mit konfessionellen Vorurteilen und Deutungen auf, die offenbar bereits auf das 16. Jh. zurückgehen.

E. teilt ihren Stoff in sechs große Kapitel: Auf die vorzügliche Einleitung (1–44), die auch in die Debatten zum Thema Konfessionsbildung einführt, folgt eine Überblicksdarstellung zu den Streitvoraussetzungen (45–112). Dabei setzt E. in den 1520er Jahren bei Luthers Abgrenzung von Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, ein, blickt auf den Ersten Abendmahlsstreit und das Marburger Religionsgespräch, Diskussionen auf dem Reichstag 1530, die Wittenberger Konkordie von 1536, die Religionsgespräche 1540/41, um bei Luthers Abgrenzungen gegenüber den Zürchern 1544/45 zu enden. Nie fehlen in diesem Tableau die Straßburger Zwischentöne. Dass bereits diese Ereignisse verschieden interpretiert werden, erhellt ein Blick in den Anmerkungsapparat.

Mit »Ausgangssituationen des Zweiten Abendmahlsstreits« ist das dritte Kapitel überschrieben (113–276). Klug stellt E. die Beobachtung an den Anfang, dass sich bei Johannes Calvin, Johannes a Lasco und Peter Martyr Vermigli um 1550 »reformatorisch normative Ansprüche« herausbildeten, die dieser Richtung der Reformation in Westeuropa eine führende Rolle einräumten. Das Netzwerk um Joachim Westphal bemerkte dies und entwickelte gegen jene im Hinblick auf die Abendmahlstheologie den Vorwurf der Ketzerei. Vor allem Westphal und Erasmus Alber verfassten in dieser Phase unterschiedlich akzentuierte Streitschriften. In einem Exkurs stellt E. zudem »Konflikte um die Londoner Flüchtlinge in Dänemark und Norddeutschland (1553/54)« dar (249–276), die den beginnenden Zweiten Abendmahlsstreit beförderten.

»Die Hauptphase des Zweiten Abendmahlsstreits« analysiert E. im umfangreichen vierten Kapitel (277–446). Wie bereits zuvor achtet E. nicht nur auf die – meist in Lehrbüchern vereinfachend genannten – Hauptkontrahenten Westphal und Calvin, sondern auf die sie umgebenden Netzwerke. Dabei werden Argumentationsstrategien analysiert, durch die der Streitgegner überwunden werden sollte. Besonders störte Westphal, dass Calvin eine Übereinstimmung mit der Wittenberger Reformation für sich postulierte. In zwei Exkursen werden lokale Streitigkeiten in Bremen und Frankfurt am Main betrachtet, die indirekt zum beschriebenen Streitkreis gehören (427–446).

Der Anspruch beider Streitparteien, die gesamte Reformation zu vertreten, ließ sich freilich nicht durchhalten, so dass es zu einem Ende des Zweiten Abendmahlsstreits kommen musste, nachdem alle Argumente ausgetauscht und diskutiert worden waren. Diesen Vorgang stellt E. im fünften Kapitel dar (447–570). Hintergrund des Endes bilden die Versuche beider Seiten in den Jahren 1556/57, Philipp Melanchthon, der sich bisher noch nicht positioniert hatte, auf jeweils ihre Seite zu ziehen. Doch traten nun auch die Württemberger Johannes Brenz und Jakob Andreae in die Diskussion ein, wodurch weitere Stimmen hörbar wurden, die grundsätzlich andere Potentiale auf eine Einigung anzeigten. Frankfurter Rezess und Weimarer Konfutationsbuch führten 1558 öffentlich die Uneinigkeit im Lager der Wittenberger Reformation vor.

Vorzüglich ist auch der Schluss der reichhaltigen Studien gestaltet (571–602): Zum einen ist sich E. bewusst, dass der Zweite Abendmahlsstreit nur eine Etappe im Prozess der Konfessionsbildung darstelle, so dass sie mit wenigen Hinweisen einen »historischen Ausblick« wagt (573–585). Zum anderen bündelt sie ihre Ergebnisse präzise (587–602).

In einem Anhang werden Nachweise über die Zitate in Westphals Farrago confusanearum et inter se dissidentium opinionum de Coena Domini ex Sacramentariorum libris congesta (1552) – »die für die Beweggründe seiner [Westphals] Partei aufschlussreichste […] Streitschrift[…]« (210) – gegeben (603–606). Die üblichen Beigaben – Quellen- und Literaturverzeichnis (607–636) sowie Register der Personen, Orte und Sachen (637–650) – beschließen den Band. Zweifellos besticht diese Studie durch ihre gründliche Quellen-arbeit, die zu einer grundlegend neuen Interpretation des Zweiten Abendmahlsstreits führt. Durch die Einordnung des Streits in den Kontext der Konfessionsbildungen im Protestantismus gelangt E. zu einem neuen Verständnis der Ereignisse, in denen »gesamtreformatorisch normative Ansprüche« aufeinanderprallten. Nimmt man diesen Standpunkt ein, werden die Mittel des Streits umso deutlicher, zu denen Missverständnisse, bewusstes Missverstehen, Unterstellungen oder Behauptungen ebenso gehörten wie Übersetzungen von Luthertexten oder Sammlungen von Kirchenväterzitaten, die als normativ angesehen wurden. Am eindrücklichsten ist jedoch zu sehen, wie die Confessio Augustana erst durch die Diskussionen in den 1550er Jahren zu dem umkämpften Leitbekenntnis wurde, das es dann durch die ganze Frühe Neuzeit hindurch für das Luthertum war. Ebenso kann nicht gesagt werden, eine Streitpartei würde sich nur auf die variata und die andere auf die invariata berufen. Vielmehr stritt man um ihre Interpretationen. Der Zweite Abendmahlsstreit war keine Episode des deutschsprachigen Protestantismus, sondern hatte europäische Dimensionen. Die Impulse, die von dieser an ein Kompendium der Abendmahlslehren des 16. Jh.s erinnernden Studie für die weitere Erforschung anderer innerlutherischer oder konfessioneller Streitigkeiten des 16. Jh.s ausgehen werden, sind noch nicht abzusehen. Ein unbedingt beachtenswertes und überaus feinsinniges Buch!