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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

200-202

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Bubenheimer, Ulrich

Titel/Untertitel:

Wittenberg 1517–1522. Diskussions-, Aktionsgemeinschaft und Stadtreformation. Hgg. von Th. Kaufmann und A. Zorzin.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XIX, 435 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation/Studies in the Late Middle Ages, Humanism, and the Reformation, 134. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783161619816.

Rezensent:

Volkmar Joestel

Die anlässlich des 80. Geburtstages Ulrich Bubenheimers von Thomas Kaufmann und Alejandro Zorzin herausgegebene und eingeleitete Aufsatz-Sammlung umfasst zehn Arbeiten von 1973 bis 2023. Neben acht weitgehend auf den neuesten Forschungsstand gebrachten Nachdrucken enthält der Band zwei neue Aufsätze. Ihre Erkenntnisse sind in die seit 2012 in Arbeit befindliche Göttinger Karlstadt-Edition eigeflossen.

Im Zentrum stehen Karlstadt, Müntzer und die Wittenberger Bewegung 1521/22. Seit 1987 nennt B. Letztere »erste Stadtreformation« (229). Der Begriff ist zutreffender, da er die parallel verlaufenden Prozesse der »Konfliktphase« und den Beginn der städtischen »Institutionalisierungsphase« (Bernhard Rüth) integriert, ganz zu schweigen von älteren Begriffen wie »Wittenberger Unruhen«, die das einseitige lutherische Geschichtsbild repräsentieren würden. Wenn man schon vorab ein Resümee ziehen will, ist es die Erkenntnis, dass Karlstadt und Müntzer in den ersten Jahren der Reformation nicht am radikalen Rand der Reformation zu verorten sind, sondern gemeinsam mit Luther deren Zentrum bildeten.

B. kann auf stupende Quellenkenntnis und intensive paläographische Studien zurückgreifen. Deutlich wird so, dass man immer die Autopsie der Originale auf Benutzerspuren vornehmen sollte, um Hinweise auf die Verbreitung von Quellen und die Rezeption von Gedanken zu finden.

Die Entwicklung des theologischen Denkens der Reformatoren schildert B. im Kontext realer kirchenpolitischer Vorgänge, sowohl im innerstädtischen Spannungsfeld von kurfürstlichem Hof, Allerheiligenstift, Universität, Augustinerkloster sowie Rat und Ge­meinde, als auch im äußeren Spannungsfeld von Kurfürst, Herzog Georg und den Bischöfen sowie der Reichspolitik. So werden Schwerpunktsetzungen und Modifizierungen in den Haltungen der Protagonisten nachvollziehbar.

B. benennt explizit Desiderate. Es gehe bei Karlstadt um die weitere Bestimmung des Verhältnisses von Biblizismus und Spiritualismus, zum einen hinsichtlich der Rolle des italienischen Neuplatonismus (11). Zum anderen seien »die frühen Wittenberger Wurzeln der reformatorischen Abendmahlsstreitigkeiten ein dringendes Forschungsdesiderat« (170). Weitere Desiderate seien Martyriumsfrömmigkeit und eine gründliche Analyse des Verhältnisses von Karlstadt und Müntzer (100 f.). Der Ort der Wittenberger Stadtreformation im Rahmen der frühen Reformation müsse in zweierlei Hinsicht geschärft werden. Zum einen sei zu klären, wie sich Luthers eigener neuer Anlauf zu Reformen seit Anfang 1523 zu seiner Haltung 1521/22 verhält (158). Zum anderen müssen Vergleiche mit anderen Städten und Regionen erweisen, »ob die Wittenberger Bewegung in ihrem direkten kirchlichen Einfluss mehr als eine Episode der Reformationsgeschichte blieb« (158).

Der erste, von 1987 stammende Aufsatz beschäftigt sich mit sozialer Herkunft und humanistischer Bildung von Luther, Karlstadt und Müntzer. B. betont, dass Karlstadts Beschäftigung mit Pico della Mirandola ihm das Interesse an Mystik und Hermetik vermittelte, an die er mit der Rezeption der Mystik Johannes Taulers anknüpfen konnte. Müntzers zentraler Begriff »ordo rerum« sei zunächst ein Formalbegriff der antiken Rhetorik, den er mit theologischen Traditionen füllte.

Der zweite, 2018 gedruckte Aufsatz ordnet die wieder virulente Diskussion um Luthers »Thesenanschlag« in größere Zusammenhänge ein. Er sei ein Faktum, das allerdings später mythologisiert worden sei. Zum anderen geht es um Einflüsse des Ablassstreits auf die politischen Verhandlungen auf dem Augsburger Reichstag 1518.

Der dritte, erstmals 2014 gedruckte Aufsatz widmet sich Müntzers Wittenberg-Aufenthalten 1517/19 und Anfang 1522. Vor allem geht es B. darum, Müntzer nicht als Schüler Luthers, sondern als von Anfang an eigenständigen Theologen auszuweisen. Der zweite Aufenthalt Müntzers in Wittenberg von Januar bis März 1522 wird zuvörderst in einem kritischen Brief Müntzers an Melanchthon vom 29. März 1522 sichtbar. Müntzer erbot sich für ein Gespräch, das kurz darauf stattfand. Zudem hat er seinen »Prager Sendbrief« in Wittenberg zirkulieren lassen. Auf einem Exemplar identifiziert B. einen Vermerk von der Hand des Wittenberger Juristen Schwertfeger. Ergänzt sei, dass B. diese Erkenntnisse in einem neuen Aufsatz vertieft (Bubenheimer, Ulrich: Thomas Müntzers Prager Protestation und sein Brief an Melanchthon vom 29. März 1522. Neue Erkenntnisse aus der Handschriftenforschung. in: Marion Dammaschke u. Thomas T. Müller [Hgg.]: Thomas Müntzer im Blick. Günter Vogler zum 90. Geburtstag (Schriftenreihe der Thomas-Müntzer-Gesellschaft; 29, Mühlhausen 2023. 209–239).

Im 1985 erschienenen vierten Aufsatz geht es um die Aufruhrproblematik und die frühreformatorischen Wurzeln des landesherrlichen Kirchenregiments. B. rekonstruiert die Unterstützung Luthers für den Kurfürsten, vor allem anhand der Tumulte in der zweiten Jahreshälfte 1521 und der am 24. Januar 1522 angenommenen Stadtordnung. Luther hatte seine spätere Haltung schon in seiner Schrift »Treue Vermahnung an alle Christen sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung« präjudiziert. Sie war eine unmittelbare Reaktion auf die selbst erlebten Unruhen Anfang Dezember 1521.

Der erstmals 1973 gedruckte fünfte Aufsatz behandelt rechtstheologische Probleme in der Wittenberger Bewegung. Vor allem geht es um das Verhältnis von Biblizismus in Gestalt des »göttlichen Rechts« und Spiritualismus bei Karlstadt. B. sieht den Biblizismus als dominant. Spiritualismus habe sich in der auf Joh 6,64 basierenden Dichotomie von »Fleisch« und »Geist« manifestiert.

Im sechsten, erstmals 1987 erschienenen Aufsatz werden die ersten Priesterehen im Mai 1521 thematisiert, zunächst hinsichtlich ihrer Propagandafunktion: »Die Priesterehe wird zur reformatorischen Demonstration« (269). Indem B. die Druckgeschichte der von Karlstadt stammenden »Apologie« für die Hochzeit des Kemberger Propstes nachzeichnet, betont er deren europäische Wirkung. Zudem geht es um die Funktion der Hochzeiten in der Auseinandersetzung mit den Offizialen um das Kirchenrecht.

Der 2015 veröffentlichte siebente Aufsatz behandelt den »zweiten Ablassstreit« ab September 1521 um das Reliquienfest, das Erzbischof Albrecht in Halle eingerichtet hatte. Karlstadt und Luther begannen ihn mit Streitschriften. Luthers Pamphlet erschien erst später und unter anderem Titel in einer Überarbeitung durch Amsdorf, der angesichts parallel verlaufender Verhandlungen mit dem Erzbischof die Polemik gegen diesen entpersonalisiert hat.

Der achte Aufsatz, 2009 erschienen, behandelt die Wittenberger Bewegung unter dem Aspekt der Entstehung religiöser Devianz im Spiegel von Luthers Invocavitpredigten. Mit dem schon vor Luthers Rückkehr von der Wartburg erhobenen kurfürstlichen Aufruhrvorwurf an Karlstadt und Zwilling »wurde eine Beurteilung der Vorgänge festgeschrieben, die Luther nach seiner Rückkehr übernahm.« (319) Karlstadt habe sich nach außen angepasst, sei also bis zu seinem Orlamünder Wirken ein »Kryptodissident« gewesen. Nur in einem von B. entdeckten persönlichen Brief vom 27. März hat Karlstadt Enttäuschung über den vermeintlichen Verrat Luthers geäußert.

Der neunte, hier erstmals gedruckte Aufsatz zum »Passional Christi und Antichristi« zeigt anhand der Druckgeschichte, dass die Polemik sukzessive verstärkt wurde. Im zehnten und ebenfalls neuen Aufsatz geht es um das in Wittenberg entworfene Modell einer »christlichen Stadt«. Beleuchtet werden auch propagandistische Außenwirkungen der »Stadtreformation«. So hat Karlstadt in seiner Bilderschrift auch die Abschaffung der Leibeigenschaft gefordert. Die gab es in Mitteldeutschland gar nicht, dafür in Süddeutschland und der Schweiz. Karlstadts Reformvorstellungen griffen also weit über den Wittenberger, ja sogar den sächsischen Horizont hinaus.

Abgeschlossen wird der Band mit einer Bibliographie der geschichtswissenschaftlichen Publikationen B.s sowie einem Orts- und einem Namensregister. Schon 1973 hatte B. eine Gesamtdarstellung der Wittenberger Bewegung angemahnt (159). Sie liegt mit diesem Band vor.