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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

198-200

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Zager, Raphael

Titel/Untertitel:

Das Geschichtsdenken Augustins. Zur Rezeption des AT in De ciuitate dei XV–XVIII.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XVI, 599 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 204. EUR 144,00. ISBN 9783161624858.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Die Monographie Raphael Zagers wurde von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen 2022 als Dissertation angenommen. Die Untersuchung setzt sich intensiv mit dem Spät- und zugleich Hauptwerk des Kirchenvaters Augustinus de civitate dei auseinander und weist in einer eingehenden Analyse der Kapitel XV bis XVIII nach, dass Augustin seine Beschreibung des Verlaufs der Geschichte und das Aufspüren ihres tieferen Sinns vornehmlich am Alten Testament orientiert. Die Geschichte gliedert Augustinus im Hauptteil seines Werkes in drei große Abschnitte, den in den Büchern 11–14 behandelten exortus, den in den Büchern 15–18 vor allem am Alten Testament nachgezeichneten procursus bzw. excursus und den debiti fines, mit deren Darstellung Augustin sein Werk beschließt.

Z.s Studie konzentriert sich mithin auf den geschichtlichen Verlauf, wie er sich zwischen Ursprung (exortus) und Ende (finis) entwickelt. Der Fokus der Arbeit liegt auf der Rezeption des Alten Testaments durch Augustinus. Dabei folgt Z. der Einteilung des procursus in sechs Weltzeitalter, die den sechs Schöpfungstagen entsprechen und auch mit Stufen des Lebensalters eines Menschen parallelisiert werden. Die sechs Phasen werden nicht einfach nachgezeichnet, sondern Augustins Rezeption der biblischen Texte wird ausführlich und kritisch erörtert. Dabei wird sie auf ihre innere Stimmigkeit geprüft. Ihr exegetischer Rückgriff auf Quellen wie etwa auf das Onomastikon und die Chronologie des Hieronymus, Texte von Ambrosius und anderer Kirchenväter sowie paganer Schriftsteller wird von Z. jeweils plausibel nachgewiesen. Vor allem auch der Entwicklung Augustins bis zur Reife seines Spätwerks wird durch erschöpfende Untersuchung seines Gesamtwerks nachgegangen. Das Quellenverzeichnis im Anhang, ebenso die lange Liste der Sekundärliteratur zeugen von intensiver Auseinandersetzung, wie sie in den zahlreichen und oft umfangreichen Fußnoten dokumentiert ist. Dabei hat bei Z. die Quellenanalyse Vorrang, während die kritische Auseinandersetzung mit der Literatur weitgehend in den Fußnoten erfolgt. Lediglich im zweiten Kapitel der Einleitung skizziert Z. wichtige Beiträge zur Forschung in einem ausführlicheren Überblick, darunter solche von Joseph Ratzinger und Karl Löwith, um die wohl bekanntesten zu nennen.

Die Auseinandersetzung mit diesen Beiträgen erfolgt kritisch, die eigene Position davon absetzend. Beides, die Übersicht über bisherige Forschung in der Einleitung sowie die umfangreiche Auseinandersetzung mit weiterer Literatur in den Fußnoten entlastet die fortlaufende Darstellung der eigenen Ergebnisse, die in einem Schlusskapitel übersichtlich und gut strukturiert zusammengefasst werden. Der Lesbarkeit der Arbeit kommt zugute, dass der Verfasser Zitate aus de civitate in deutscher Sprache in den Text einfügt, das lateinische Original jeweils in einer Fußnote ergänzt. Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung ist, dass Augustinus das Alte Testament typologisch auswertet, den tieferen Sinn der meisten Texte in einem Hinweis auf Christus als den ewigen König und seine Königin, die Kirche, sieht. Insofern bietet die Studie wertvolles Material zum Verständnis des hermeneutischen Schlüssels des Alten Testaments bei dem Augustinermönch Martin Luther. Dass damit – besonders aus heutiger Sicht – eine judenfeindliche Auslegung verknüpft ist, ist evident. Augustins fortlaufendes, sich durch das umfangreiche Gesamtwerk ziehende Interpretament, entwickelt aus dem Anlass der Plünderung Roms durch die Westgoten am 24. August 410, ist die Darstellung der Geschichte als Auseinandersetzung zwischen der civitas terrena und der civitas dei, die letztlich zum Sieg der civitas dei führt. Dabei kommt die civitas dei in Reinform in der unerlösten Welt nicht vor, auch in der Kirche nicht. Beides bleiben corpora permixta, die Bürgerschaft Gottes bleibt als »wanderndes Gottesvolk« (populus dei peregrinans) unterwegs. Und so zeigt Z. in den einzelnen Weltzeitaltern einen jeweiligen Neuanfang Gottes, dem in regelmäßigem Rhythmus durch Sünde und Abfall eine Abwärtsbewegung folgt, die einen neuen Anfang bis zum Erscheinen Christi erfordert.

Z. zeigt überzeugend, dass Augustin seine Darstellung in Auseinandersetzung mit dem Manichäismus, dem Donatismus und dem Pelagianismus entfaltet. Schon mit dem Blut Abels ist der Same für die reifende Bürgerschaft Gottes gelegt, wogegen Kain in der irdischen Welt bleibt. Die Theorie von der ecclesia ab Abel hat hier ihren Ursprung. Dass Abraham Isaak zu opfern bereit ist, zeigt seinen unbedingten Gehorsam, dass aber Gott dieses Opfer nicht will und Isaak sozusagen zu neuem Leben erweckt, weist auf Jesu Auferstehung voraus. Dass Jakob den Segen empfängt und nicht der erstgeborene Esau, weist darauf voraus, dass der Ältere dem Jüngeren dienen muss wie das Judentum dem Christentum. Wichtiger Ansatz für Augustin zur Interpretation der alttestamentlichen Texte vom Buch Genesis bis zum Propheten Maleachi, und darüber hinaus zu den in der LXX überlieferten Apokryphen ist die paulinische Theologie, besonders Röm und Gal. So unterscheidet er zwischen dem geistlichen und fleischlichen Samen Abrahams, dann zwischen dem fleischlichen und geistlichen Israel. Zu letzterem gehören nur die, die sich zu Christus bekennen unter den Juden und unter den Völkern. Schließlich haben im Heilsplan Gottes die verblendeten Juden, die den verborgenen prophetischen Sinn in ihren Schriften nicht erkennen, nur die Funktion, gegenüber der paganen Literatur die Wahrheit der Schrift zu bezeugen. Bis auf einen Rest, der am Ende der Tage erlöst wird, fallen sie der Verdammnis anheim.

Ein prophetischer Sinn wird bei Augustin in nahezu allen Büchern des Alten Testaments gefunden, natürlich in den Prophetenworte überliefernden Geschichtsbüchern wie in den Schriftpropheten, aber auch in den Psalmen, aber auch in den Büchern der Weisheit, den Proverbia, dem Hohen Lied und Kohelet. In Kohelet 8,15 heißt es: »Es gibt nichts Gutes für den Menschen, als zu essen und zu trinken.« »Hier geht es im geistlichen Sinn eben nach Augustin nicht um die Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse, sondern ›um die Gewinnung des ewigen Lebens durch die Teilnahme am Abendmahl‹.« (418)

Interessant ist, dass Augustinus das fünfte und sechste Weltzeitalter, »Von der Babylonischen Gefangenschaft bis zum Kommen Christi« (18 Seiten) und »Von der Inkarnation Christi bis zur Gegenwart Augustins« (25 Seiten) recht kurz abhandelt im Vergleich zum dritten Weltzeitalter, »Von Abraham bis David« (140 Seiten), und dem vierten Weltzeitalter, »Von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft« (128 Seiten). Einmal weist Augustin darauf hin, dass ihm der Platz fehlt, sodann, dass er schon an anderer Stelle darübergeschrieben hat. Beim fünften Weltzeitalter lehnt sich Augustin eng an die Makkabäerbücher und die Chronik des Hieronymus an, ist an eigener origineller Darstellung kaum interessiert. Dieses Zeitalter markiert nach Augustin das Ende der exklusiven Zuwendung Gottes zum Volk Israel und die Bereitung des Weges für die Ausbreitung des Evangeliums unter den Völkern. So ist nach Auffassung des Rezensenten das Unterkapitel »Zur Entstehung der Septuaginta« (5.2.3.) besonders interessant auch im Zusammenhang der von Z. überzeugend herausgearbeiteten Ansätze historisch-kritischen Denkens bei Augustinus. So kommen solche Argumente etwa in der Abwehr paganer Angriffe, bei Datierungsversuchen. Interessant sind dabei die Erarbeitung der Unterschiede zwischen der LXX und dem hebräischen Text, die minutiös herausgearbeitet werden, etwa beim Lebensalter der Patriarchen oder etwa in Hag 2,7: so kommt nach der hebräischen Bibel vor der Herrlichkeit des letzten Hauses der Frieden bringende von allen Völkern Ersehnte, nach der LXX kommen die aus allen Völkern Erwählten. Ist die Feststellung der Unterschiede bei Augustin als Ansatz historischer Kritik zu sehen, so ist die Interpretation des Kirchenvaters letztlich unhistorisch. Er sieht beide Texte als sich ergänzende Offenbarungen (464 f.). Beim sechsten Weltzeitalter fällt das geringe Interesse an der Darstellung des Lebens und der Lehre Jesu auf. Dem steht die Fokussierung auf die Inkarnation, den Kreuzestod, die Auferstehung und die Himmelfahrt gegenüber. Auch hier zeigt sich die Orientierung an der paulinischen Theologie. Dort, wo ihm keine biblischen Quellen zur Verfügung stehen, beobachtet Z. eine gewisse Zurückhaltung Augustins, besonders gegenüber chiliastischen Denkmodellen.

Insgesamt legt Z. eine wichtige Analyse vor, die die Forschung auch in Bezug auf die spätere Reformationsgeschichte deutlich bereichert.