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Ausgabe:

März/2024

Spalte:

166-168

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ashley, Timothy R.

Titel/Untertitel:

The Book of Numbers. Second Edition.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2022. 656 S. Geb. US$ 60,00. ISBN 9780802872029.

Rezensent:

Christian Frevel

Vor dreißig Jahren (1993) erschien ein Numerikommentar, der aufgrund von Umfang und Substanz seiner Erläuterungen und seines Bemühens um eine theologische Auslegung des Buches mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Jener Kommentar ist nun in einer überarbeiteten Version in der Reihe The New International Commentary on the Old Testament erschienen, die durch ein verändertes Druckbild zwar weniger Seiten als die 1. Auflage hat, insgesamt aber mehr Text bietet. Timothy R. Ashley selbst hebt die Einarbeitung von neuer Literatur hervor, die sich sichtbar anhand der angewachsenen Indizes am Ende des Buches (589–606) nachvollziehen lässt.

Am Aufbau des Kommentars hat sich nichts verändert. Nach einer umfangreichen Auswahlbibliografie (xxvii–l) und einer generellen Einleitung, die mit einer ausführlichen Gliederung des Buches endet (1–19), folgt die Kommentierung in Abschnitten (21–588), die einer geographischen – insgesamt wenig überzeugenden, aber auch nicht völlig abwegigen – Fünfteilung folgt (1,1–10,10; 10,11–12,16; 13,1–19,22; 20,1–22,1; 22,2–36,13). Den jeweiligen Großabschnitten sind kurze Einleitungen vorangestellt, dann folgt die Kommentierung in gegliederten Abschnitten. Jeweils wird eine Übersetzung geboten, der knappe Erläuterungen zum hebräischen Text folgen. Die Kommentierung selbst beginnt mit Ausführungen zur Komposition und den jeweiligen Charakteristika des Abschnitts. Dabei werden auch kursorisch Anmerkungen zur Forschungsgeschichte und zur Diachronie gemacht. Hier wird meist nur grob zwischen nicht-priesterlicher (JE) und priesterlicher (P) Tradition unterschieden und ein Satz ergänzt, der die in den 80er Jahren eingeübte Quellenscheidung in die Schwebe bringt. Anschließend folgt eine ausführliche Einzelverskommentierung, die sich sukzessive an den jeweils kursiv herausgehobenen Phrasen des Textes entlang entfaltet. Kommentiert wird der nur an wenigen Stellen veränderte masoretische Text.

Der hermeneutische Ansatz des Kommentars ist von einem evangelikalen Schriftverständnis geprägt. Der finale Text bezeugt Gottes Offenbarung: »I believe that, through all the complexities of the transmission of the text of Numbers, God was at work to bring to his people the final form of the text.« (10) A. räumt dem Buch einen eigenständigen theologischen Wert ein, und es ist wohltuend, dass Bezüge zum Neuen Testament nicht mit der Brechstange hergestellt werden. Die Umsicht, mit der selbst Num 24,17 im Kontext eingehegt und nicht messianisch ausgeflaggt wird, ist beeindruckend. Explizit spielt das Neue Testament insgesamt für die Auslegung keine maßgebliche Rolle. Bemerkenswert ist der theologische Grundzug der Würdigung des biblischen Narrativs. So deutet A. die Bewahrung in der Wüste als Zeichen der durchgehaltenen Erwählung und des Segens Israels. Die Gnade Gottes und seine Barmherzigkeit sind der strafenden Gerechtigkeit, die auf Israels Ungehorsam reagiert, vorgeordnet.

Zu dieser Perspektive gelangt A. durch die theologische Gewichtung von Num 22–36: Die Neuausrichtung des Volkes auf Land und Gott im hinteren Teil des Buches ist die zentrale Perspektive des Kommentars. Dem entspricht die insgesamt überzeugende Dreiteilung von Orientierung (1,1–10,10), Desorientierung (10,11–22,1) und Neuorientierung (22,2–36,13). Zwar erkennt A. die Bedeutung des Generationenwechsels für das Buch an, doch lässt er die Neu- orientierung nicht erst mit dem vollzogenen Generationenwechsel einsetzen, sondern bereits an der Grenze zum Land mit der Bestätigung des Segens durch den Propheten Bileam. Num 25 ist entsprechend noch einmal ein letztes Moment der Desorientierung und zugleich durch das stellvertretende Handeln des Pinchas ein Fanal des Neuanfangs. Es ist bemerkenswert, wie deutlich A. die Verbindungen zwischen den Schlusskapiteln des Numeribuches und dem Deuteronomium markiert. Derartig tiefgehende Überlegungen zum Verständnis des Buchaufbaus findet man in nur wenigen älteren Kommentaren. Das macht das Buch auch in der zweiten Auflage wertvoll.

Dass A. in seinem Kommentar des Endtextes nicht auf das naheliegende Modell innerbiblischer Auslegung zurückgreift, ist der Distanz gegenüber einer diachronen Erklärung geschuldet. Da für ihn Ex–Lev mehr oder minder auf derselben literarischen Ebene liegen, kann er den adaptiven und innovativen Midrasch, der das Numeribuch selbst zur Auslegung macht, nicht erkennen. Häufig bekommt man den Eindruck, dass A. in seiner Kommentierung in der ersten Auflage seiner Zeit weit voraus war. So erkennt er z. B., dass Num 11,1–3 ein »schematic […] example of the disaffection and rebellion of Israel in the wilderness in response to Yahweh’s clear provision of leadership on the way to the land of promise« (179) ist, doch zieht er daraus keinerlei diachrone Konsequenzen.

Und damit wären wir bei dem Pferdefuß der sehr intensiven Auslegung angekommen, denn bezüglich der Literargeschichte Numeris enttäuscht das Buch auf ganzer Linie. A. versichert die Leser der Komplexität seiner Entstehungsgeschichte (»I am still sure that the compilation of the book of Numbers is more complex than anyone can know«, xv), doch ist diese Aussage nicht mehr als ein Disclaimer für die durchgehende Kommentierung des Endtextes. Immer wieder betont A., dass man über die Entstehung des Pentateuch nicht viel sagen kann. Er ist sich durchaus der Besonderheit bewusst, dass priesterliche und nicht-priesterliche Charakteristika in Numeri einander oft überblenden. Aber daraus zieht er die Konsequenz, dass eine diachrone Analyse keine eindeutigen Ergebnisse bringe, »inescapably subjective« (9) sei und deshalb nicht weiterführe. Er datiert die finale Fassung relativ früh ans Ende des 6. bzw. Anfang des 5. Jh.s v. Chr., also traditionell vor dem Auftreten Esras und Nehemias. A. erwähnt an wenigen Stellen, dass der Text gewachsen sein mag, was aber keine Rolle für die Kommentierung spielt. Mit Blick auf die neuere Forschung wird man wohl mit Recht sagen können, dass das Buch Numeri komplexer ist, als es durch eine Vierquellentheorie im Anschluss an Graf-Kuenen-Wellhausen befriedigend erklärbar wäre. Doch von dem Zusammenbruch der Vierquellentheorie in den letzten Jahrzehnten bleibt die Einleitung des Kommentars unberührt, sie stellt das klassische Modell der Quellen einschließlich eines priesterlichen Endredaktors vor und setzt sich davon ab. Es wird sogar fälschlich behauptet, dass die meiste jüngere europäische Literatur an JEDP festhält: »There have been quite a number of studies published in Europe on the books of Leviticus and Numbers in the last few years, most of them keeping the documents JEDP (mostly in their classical order, and with their classical dates).« (7) Nicht nur diese Aussage ist sicherlich nichtzutreffend, sondern Namen wie Reinhard Achenbach, Rainer Albertz, Christophe Nihan und andere mit dem Paradigmenwechsel der Literargeschichte des Numeribuches verbundene Autoren fehlen gänzlich in der Bibliografie. Dass bis auf den Kommentar von Pekka Pitkänen (2018) (der die mosaische Verfasserschaft des Buches nicht ausschließen will!) nahezu jeder Hinweis auf die Pentateuchdiskussion der letzten 30 Jahre fehlt, ist angesichts der komplexer gewordenen Diskussion der Literargeschichte mehr als unzureichend. An einer potenziellen Frühdatierung der Überlieferungen und Traditionen hält A. explizit fest, um die Historizität der Erzählungen im Großen und Ganzen im Spiel zu halten (9). Das gilt allerdings nur als hermeneutische Prämisse, denn das Augenmerk des Kommentars liegt eindeutig auf der literarischen Form. Die fehlende Aufmerksamkeit gilt aber nicht nur der neueren literargeschichtlichen Diskussion, sondern auch feministischen Lesarten oder jüngeren Arbeiten, die die Struktur des Textes in den Vordergrund rücken, die Themen wie Autorität, Hierarchie oder Ritual fokussieren oder die die intertextuellen Bezüge als innerbiblische Auslegung zu verstehen suchen. Hier kommt A. nicht mit der gebotenen Tiefe an den Stand der Diskussion heran.

So sehr sich der Kommentar also auf die Endfassung des Buches konzentriert und so reichhaltig er den gesamten Text in theologischer wie literarischer Hinsicht auslegt, so sehr enttäuscht doch, dass A. den Aspekt der innerbiblischen Auslegung und der »Vollendung der Tora« nicht in seine eigene Auslegung eingebracht hat. Der Kommentar bleibt daher auch in der zweiten Auflage sehr lesenswert, aber nur eingeschränkt empfehlenswert.